Die Hörgewohnheiten des Publikums in den Wolgastädten

Das Publikum der Wolgastädte will keine alte Musik hören. Man schrieb dem Dirigenten: nur keinen Haydn und Mozart! Das Land, das in der Architektur kaum eine Erinnerung an das Rokoko hat, nur schweres Barock und bürgerliches Empire, ist in der Musik konsequent. Tschaikowski war eine Ausnahme: er liebte die Spiele des achtzehnten Jahrhunderts und ahmte sie in seinen Opern gern nach. Er hatte viel zu viel Stilgefühl für einen echten Russen. Bei Beethoven fängt diesem die Welt an. Sein Ringen, seine Hingabe, seine ausbrechende Leidenschaft sind ihm verwandt. Wir trugen die Coriolan-Ouverture und die Eroika die Wolga entlang. Es wirkte auf mich in dieser Umgebung stärker als je: wie unerhörtes Menschenschicksal, das aus Wüsten aufschreit. Die trockene Erde um uns schien plötzlich mit einem unsagbar säftereichen, kräfteschießenden Empfinden gefüllt, wie ein Segen des höchsten Menschen, der sich auf Armut und Arbeit niedersenkt. Doch was waren diese Umschaltungen gegen die Entdeckungen, die einem Bewohner von Zaritsin oder Simbirsk beschert waren, der das erstemal in seinem Leben die Eroika hörte? Auf einmal offenbarte sich ihm der Schöpfer, von dessen Gnaden er schon so lange lebt, sein Herz spaltete sich ihm vor heiliger Zerrissenheit zwischen der Schwere seines belasteten Gefühls und dem Glanz dieses Orchesters, das ihm Heilswahrheiten übermittelte. Manche der Städte haben kein ständiges Orchester, ein bisschen Oper und Operette, aber die Symphonie bringt das Wolgaschiff nur alle zwei Jahre zu ihnen. Zwei Jahre hat er gewartet auf den Tag der Eroika. Nun weint er die ganze Nacht, ein Russe.

Einmal gab es ein Konzert für Arbeiter, eine seltene russische Angelegenheit, vielleicht der erste Fall. In Zaritsin draußen in einer Halle, die drei Riesenbilder über dem Podium zeigt: in der Mitte die Kopie des Waßnetzowschen Fürsten Igor aus der Tretjakowgalerie, links ein versoffener, rechts ein redlicher Arbeiter. Ein Priester hatte es arrangiert. Die Arbeiter sollten ein eigenes Orchester gründen, das den Namen Kussewitzkys trage. Kussewitzky spielte für sie, vor ihnen, und gab wohl noch mehr, und der Priester glänzte vor Freude über diese loyalen Erfolge der Menschenveredelung. Er holte von der Straße herein, was er fand. Kussewitzky spielte die populäre Kalinikow-Symphonie und Glinkas Vorspiel zu „Ruslan und Ludmilla" und anderes — nur Russisches. Er redete gute Worte. Die Arbeiter waren aufmerksam. Der soziale Friede schien geschlossen.


Die Russen verlangen die Hälfte des Programms russisch. Aus ihrer prachtvollen nationalen Literatur lässt sich das bequem bestreiten. Wir hatten Symphonien von Scriabine (aus seiner früheren Zeit vor seinen letzten revolutionären Problemen, ganz aus dem Vollen, doch immer gleich stark unterstrichen) und von Rachmaninoff, besser gestaltet und voll eigenen Lebens, immer von nationaler Farbe durchzogen und aus schwerem, echtem Gefühl. Die Russen halten und bewerten ihn hoher, als wir Richard Strauß, dessen „Don Juan" sich an den Ufern der Wolga etwas unsicher ausnahm. Die leere Pracht von Wagners Parsifal-Vorspiel wurde für den Russen übertroffen durch Rimsky Korsakoffs Osternvorspiel, das malend und klingend den bunten Zauber des Festes in rauschenden Volksfarben wiedergibt. Es war wie römischer gegen griechischen Katholizismus. Als Solisten hatten wir auf der Hinfahrt Rislers geistige, gepflegte, auch in der Kraft noch zärtliche Klavierkunst, und auf der Rückfahrt die weiche, sinnliche Stimme der Kovalenko, deren süße Wehmut in den verlassenen Gesängen aus Rimsky-Korsakoffs „Schneeflöckchen" uns lange im Ohr blieb. Rislers humoristisch belebte Intelligenz und ihre nachhängende Empfindsamkeit wurden seltsam gerahmt von der überraschenden Leidenschaft des Orchesters. Immer wach gehalten von der unermüdlichen Energie seines Leiters, seinem Feingefühl für künstlerische Werte, seiner plastischen Interpretation, gab es sich besonders in den russischenWerken mit letzten Kräften seiner Aufgabe hin. Es quoll, kochte, strömte sich aus, triumphierte in diesen Steigerungen, und ich hatte die Vision, dass sein Blut floss. Tschaikowskis erster Manfredsatz sprach wie ein Martyrium. An der Spitze der Trompeter Tabakow, dessen Art, sich gläubig in den Ton hineinzulegen und den Atem durch das Metall singen zu lassen, ihn als eine Persönlichkeit heraushob. Der volle, schöne Klang des Orchesters, in langem Studium der stets wiederholten Stücke bis ins Kleinste durchgearbeitet wie eine Stanislawski-Vorstellung, entzückte das Publikum bis zu südeuropäischer Begeisterung. Vor vier Jahren lachte man noch, vor zwei Jahren war es schon zweifelsloser, diesmal war es der Sieg. Die Säle reichten nicht mehr, man spielte in denTheatern. Die Honoratioren waren vorhanden und jenes füllende Publikum, das in der ganzen Welt gleich aussieht. Wir aber waren von ehrlicher Liebe zu unserm Dirigenten durchdrungen. Er gab uns auf diesen Fahrten den reichen Segen einer wahrhaft künstlerischen Aufopferung, die alte Ideale wachrief, auf einem jungfräulichen Boden. Fast Abend für Abend sanken wir unter in die russische Musik. Sie wurde Spiegel der Landschaft: ein immerweites, immer gleiches Herausdrängen ungeordneter, doch starker Empfindungen, bald schumannsch, bald debussysch beeinflusst, unendlich ziellos bis zur Lethargie in die späte Nacht ausfließend, hingegeben mit dem dumpfen Gefühl eines künstlerischen Opfers, das noch in den letzten müden Wallungen seinen Dirigenten grüßt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Musik auf der Wolga