Musik auf der Wolga

Mit Original-Steinzeichnungen von Robert Sterl
Autor: Bie, Oskar (1864-1938) deutscher Musik- und Kunsthistoriker und Publizist, Erscheinungsjahr: 1914
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Die Gelegenheit, das Land zu sehen, war eine ungewöhnliche und führte mich in Gegenden, die sonst dem Reisenden fern liegen. Von hier aus öffnete sich ein Blick auf Menschen, Kunst und Kultur. Wenn aber der Rahmen der Betrachtung von der Musik gegeben wird, so ist das nicht so äußerlich, wie es scheinen konnte. Diese Kunst vermählte sich mir mit der Unendlichkeit und Buntheit Russlands auf eine unverlöschliche Weise. Die Gelegenheit war folgende: Sergei Kussewitzky, ein hervorragender Dirigent eines Moskauer Orchesters, unternimmt alle zwei Jahre mit seinen Leuten eine Tour auf der Wolga, um in den größeren Städten an ihrem Ufer, vom malerischen Jaroslaw bis zum halbasiatischen Astrachan, Konzerte zu geben, und er hatte die Liebenswürdigkeit, mich zur Begleitung einzuladen. Ich war auf der Wolga, nicht wie der gewöhnliche Reisende zum Zwecke einer kurzen Besichtigung der Städte, nach den Zeitmaßen des Schiffskursbuches, sondern ich war ausgiebig auf diesem mächtigen Wasser, in einer erlesenen Gesellschaft, in der eigentümlichen Kombination mit einem beruflichen Orchester, mit einem Orchester mitten in weltenfernen, musikfremden Gegenden, und unser privater Dampfer kannte nur das Kursbuch seiner Konzerte, bisweilen einen, bisweilen zwei Abende oder noch einen dritten auf dem Rückweg, und durfte sonst frei dem Willen seiner Gäste leben, Hafen anlaufen, Nachtruhe halten, Siesta aufsuchen, Merkwürdigkeiten besehen, wie wir wollten, ein schwimmendes Hotel von europäischem Komfort mitten in wilder Ethnologie, vier bis fünf Wochen lang, von denen ich über die Hälfte genoss. Jetzt in der Erinnerung fließt mir alles Gesehene und Erlebte in die Erscheinung dieses gewaltigen Flusses zusammen, der sich wie ein Band durch die Zeiten zieht. In sein Bett gieße ich Formen und Farben dieser Tage, indem ich die russischen Eindrucke mir aus den Sinnen vor meinen Geist hole und prüfe.

An einem hellen Moment stieg mir das Bild auf: der Fluss! Der Fluss, große, ewige Fluss, der alle Musik dieser unbereisten Erde in sich schließt, Anfang und Ende aller dieser polyphonen, themenreichen Beziehungen. Jetzt soll er seine Symphonie beginnen. Es ist Frühjahr und unser Schiff das erste, das ihn begrüßt hat. Das Wasser türmt sich vor Begierde des Schmelzens und weitet sich zu unendlichen Dimensionen. Es bedeckt Stadtteile und Landschaften. Der Platz der Messe von Nischni-Nowgorod liegt jetzt noch unter der Wolga, ein Stück des Tatarendorfes von Kasan ist von der Stadt abgetrennt und an Kasan selbst kommt der Dampfer drei Kilometer näher als im Sommer. Die Sommerwolga wird Inseln, Wälder,Wiesen, Dörfer frei lassen, die die Frühlingswolga deckt, die Landeplätze wandeln sich, die Natur wird grün und stark und erobert sich Gebiete vom Wasser. Wir sind auf der Fahrt Zeugen dieses Ergrünens und Erstarkens. Das Schiff, das sich durch Eis gebohrt hatte, endete in der tropischen Sonne von Astrachan, um den Sommer zurückzuerleben. Wasser, Wasser, unendliches Wasser im Triumphe seines Frühlings gleitet vor dem Auge, bald einströmig, bald deltaartig verzweigt, ein Fluss von weiblichster Energie, der nur zwei mal, bei Kasan und Zaritsin, plötzlichen Richtungsimpuls bekommt, sonst sich gehen lässt, sich anlehnt, sich verteilt, sich nützlich macht und doch mit dem einzigen, wie heimlichen Willen, alles, was ihm begegnet, sich zu unterwerfen,inWasser zu setzen. EinWassererlebnis eigentümlichster Art, da man das Wasserwerden der Welt wie eine Legende mitzudichten meint. Halbversunkene Wälder, Schilf, Wiesenandeutungen ragen aus dem Wasser auf, eine in denselben Motiven unbegrenzt in den Horizont fortgesetzte Überschwemmung. Je weiter wir nach Süden kommen, desto siegreicher ist das Wasser. Es erreicht Breiten von Meerillusion und assimiliert sich in steter langsamer Arbeit die Erde. Es hat Bergrücken von tausend Kilometern bespült, die sich an seiner rechten Seite entlang ziehen, zuerst lieblich und eigengeformt, sonderlich die Schigulewberge, die die Wolga in großem Bogen umschmeichelt, dann gähnende Sandschluchten, phantastisch um ihre Existenz heulend, weiter nur noch Erosion, wie ägyptische Riesenplastik in Stilisierung ausgeschwemmt, weiß und grausam, endlich Steppe, Salzsand, rötlich, gelblich, raubtierhaft leuchtend, zwanzig Meter unterm Meeresspiegel, bis das Kaspische Loch sich füllt. Der Bädeker warnt vor dieser ermüdenden unteren Wolga. Ich habe wenig gesehen, was diesem Kampf von Wasser und Erde gleich käme. Braun ist das Wasser von diesen Erdkämpfen. Braun und in der Sonne leuchtet es zuweilen wie rot, als Blut der Elemente. Friedlich, schon aufgebaut liegen die Städte am Ufer, Terrassen, deren Elend man nicht ahnt. Von Zeit zu Zeit strecken sich asiatisch graue Riesendörfer. Oder auf hohen Lehmböschungen schielen Dächer hinüber. Dann kommt der unvergleichliche Abend und senkt seinen Ausgleich über diese Naturschauspiele. Wir halten eine Nacht, bei Vollmond, mitten im Wasser, die Villa im Wasser, und ergehen uns noch auf Deck. Empfindungsvoll geformte Bäume winken vom Ufer. Es könnte grüne, deutsche Landschaft hinter ihnen sein, und ein Wiesenduft schlägt uns an, das erste mal in diesen langen Zeitläuften von Wasser und Sand. Eine furchtbare Sehnsucht überkommt uns nach - - Blumen. Blumenloses Russland.

Musik auf der Wolga, Cover

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Musik auf der Wolga 01

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