Über englisches Kunstschulwesen und englische Wohnkultur

Neben der vorbildlichen Vermittlung englischen Kunstschulwesens und seiner Entwicklung ist die Vermittlung der englischen Wohnkultur Muthesius' besonderes Verdienst.

Es kann für uns natürlich nicht maßgebend sein, was England seit 1860 geschaffen hat. Andere klimatische Verhältnisse, Lebens- und gesellschaftliche Gewohnheiten verbieten von selbst die Kopie des englischen Hauses auf dem Kontinent. Vorbildlich aber bleibt, wie man, aus welcher Baugesinnung, aus welchen Voraussetzungen man in England zu bauen, ein Haus zu gestalten und auszuschmücken pflegt.


Die Tiergartenstraße zu Berlin wäre das passende Gegenbeispiel. Vom Rolandbrunnen bis zur Drakestraße hat sie ost-westliche Richtung. Die Fassaden weisen nach Norden. Die Grundstücke gehen meistens tief und haben relativ große Gartenflächen aufzuweisen. Die baupolizeiliche Vorschrift wünscht nun einen Vorgarten. Nach Norden! Und keine Blume will gedeihen, weil ihr die Sonne fehlt. Das Schema italienischer Villen oder deutscher Rennaissancehäuser teilt die Fassade auf. Die Räume und ihre Fensteröffnungen haben sich nach dieser Fassadenaufteilung zu richten. Der Grundriss nach der Fassade! Der Hausherr und die Hausfrau wollen wissen, wer vorfährt, was auf der Straße sich ereignet, und alle Wohnräume, im oberen Geschoss auch wohl die Schlafräume, werden nach Norden gelegt, und niemals finden Sonnenstrahlen ihren Weg in die Hauptwohnräume. Dafür indessen bleiben das Treppenhaus und die Garderobe, die Wirtschaftsräume und die Klosettanlagen, die alle nach der Rückseite ihre Orientierung finden, vom Morgen bis zum Abend dem wohltuenden und erfrischenden Licht der Sonne ausgesetzt. Und da die Haupträume nach der Straße liegen, bleibt der Garten von diesen durch das Treppenhaus, das meistens viel zu breit ist, und Korridore, die ebenfalls in ihren Dimensionen den Hauptwohnräumen Platz fortnehmen, Garderobe und Klosettanlagen getrennt. Der Garten ist für sich, und auch die Hauptwohnräume sind für sich!

Für den praktischen Engländer, der Licht und Sonne, Natur und Reinlichkeit, ein hygienisches Leben liebt, wäre so ein Bau eine absolute Unmöglichkeit. Wo steht die Sonne? wird er fragen. Nicht nach der Straße? Nun gut, so legt er halt die Hauptwohnräume auch nicht nach der Straße an, nein, nach dem Garten, bringt diesen dann mit den Hauptwohnräumen direkt zusammen. Da sie in der Tiergartenstraße meistens im Hochparterre gelegen sind, wird eine Terrasse den Übergang zu dem tiefer gelegenen Garten vermitteln. Der Garten ist die Fortsetzung des Hauses und muss mit diesem eine Einheit bilden! Freilich, die Aussicht nach der Straße, nach dem Tiergarten ist zu schön, ganz mag man sie ja auch nicht missen. Wichtiger aber bleibt auf jeden Fall Licht, Sonne und Hygiene. Das tagsüber viel benutzte Herrenzimmer oder die Bibliothek, denn die Einbände könnten unter den Sonnenstrahlen leiden, mag schließlich nach der Straße gehen. Sonst aber soll jeder Wohnraum möglichst teil an der Sonne haben. Das Schlaf- und Kinderzimmer doch ganz sicherlich! Ein Kinderzimmer ohne Sonne! Und beim Erwachen soll uns der erste Sonnenstrahl den Schlaf abschütteln, tagsüber sollen Sonnenstrahlen luftreinigend den Raum durchfluten, und wenn ein Kranker an das Bett gefesselt ist, ihm Licht und Wärme bringen. Man will den Fremden in einem hellen, lichterfüllten Raum empfangen. Das Wohnzimmer soll nach dem Garten, nach Süden sich entwickeln, nach ihm sich öffnen. Ja, um das alles zu erreichen, um Garten und Wohnraum, tagsüber in Sonnenlicht gebadet, zu einer wohnlichen, behaglichen Einheit zu gestalten, wird sich ein Engländer durchaus nicht irren lassen, das Treppenhaus und die Klosettanlagen nach der Straße zu verlegen. Nein, aber ganz unmöglich! Dem deutschen Architekten wäre dann die Fassade ganz verpatzt. Wie denn Klosett- und Treppenfenster nachträglich noch der Fassade anzupassen? Nun, in England hat die Fassade sich nach dem Grundriss, der räumlichen, inneren Anordnungen zu fügen, die Fenster nach den Räumen. Wenn dann das eine große Fenster der Bibliothek oder des Herrenzimmers nach der Straße nicht genügt, so kann man ja den Raum durch einen breiten, hohen Erkeranbau erweitern. Der Raum wird dadurch größer. Ich kann aus ihm nach allen Seiten die Straße überblicken, gewinne vielleicht im oberen Stockwerk als Abschlug dieses Anbaues noch einen offenen Balkon. Der Engländer baut für sich und seine wohnlichen Bedürfnisse. Der Deutsche für die Passanten auf der Straße. Der Engländer legt die Hauptfront nach dem Garten. Ja, er liebt es, mit einem Zaun, einer Mauer, über die dann roter wilder Wein rankt, oder Bäume ihre Kronen ragen lassen, die Vorderfront nach der Straße abzusperren. Vorgärten aber mit einem durchsichtigen Eisenstaket sind eine Unmöglichkeit.

Der Ausgang für den Wohnhausbau ist die Orientierung nach der Sonne, und der Grundriss eine bequeme Gruppierung der Räume zueinander. Prachträume, den Salon, kennt der Engländer nicht. Sein Haus ist zum Wohnen da. Das Treppenhaus darf nicht das Haus zerteilen, die Räume unnötig trennen, hat in England gar nicht die unnötige Bedeutung wie in Deutschland, ist lediglich die praktische Verbindung der Stockwerke und organisch an einer passenden, bequemen Stelle angebracht. Man fällt nicht mit der Tür ins Treppenhaus. Hinter der Tür kommt der Windfang, eine diskret gelegene Garderobe, und dann ist man im Hause, d. h. in wohnlichen Räumen, die sich geschickt aneinander reihen. Korridore nehmen Platz fort Sie werden auf das Nötigste beschränkt.

Unsere Räume sind meist zu hoch. Die Folge der Anpassung an die Aufteilung der Fassade. In der Höhe eine unnötige Raumverschwendung. Je höher der Raum, desto kleiner erscheint er, er verliert an Behaglichkeit. Eine horizontale Täfelung oder Wandbespannung, eine horizontal in derselben Höhe hängende Bilderfolge oder Büchergestelle, 1,85 m hoch, oder sonst dergl. können dem zu hohen Räume wieder Breite und Behaglichkeit schaffen. Aber die Raumverschwendung in der Höhe bleibt. Wer aber nicht von der Fassade ausgeht, wird diesen Verlust gut sparen können. England bleibt auch hier das Vorbild. 2,45 m lichte Höhe ist für die führende Architektur das übliche Maß geworden. C. F. A. Voyseys behagliche Räume gehen teilweise noch unter dieses Maß. Für ihn ist, nach den Angaben von Muthesius, 2,75 m für den Hauptwohnraum das Höchstmaß, doch selbst noch 2,36 m ist für ihn möglich! Raumersparnis, Breite- und Tiefenwirkung, Behaglichkeit und Wärme, das sind die Vorteile.

Das richtige, gut proportionierte Verhältnis von Länge, Breite und Höhe ist das wichtigste Moment der Raumgestaltung. Ein ausstrahlender Mittelpunkt, um den die Möbel sich gruppieren, und seine Stellung zum Licht und zu den Türöffnungen das wichtigste Moment einer organisch belebten Raumausstattung: für das Wohnzimmer der Kamin, umstellt von Sesseln, geschmückt mit einem Spiegel, einem Bild; der Schreibtisch für das Herrenzimmer; der Flügel für das Musikzimmer; das Bett für das Schlafzimmer. Von größter Wichtigkeit bleibt aber eine einheitlich farbige Behandlung, die oft ein schlecht proportioniertes Zimmer retten kann.

Wenn es die technischen Bedingungen gestatten, mag das Fenster bis an die Balkondecke reichen. Möglichst auch nur eine einheitliche große, breite Lichtzufuhr, nicht, weil es die Fassade will, verschiedene Fenster, vielleicht sogar noch an verschiedenen Seiten angebracht. England hat das gruppierte nordische Fenster, das lange durch das italienische Fassadenfenster verdrängt war, wieder in die moderne Baukunst eingeführt.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Moderne Villen und Landhäuser
Abb. 32 Schloss Cragside, Northumberland. Bibliothek. Arch.: R. Norman Shaw

Abb. 32 Schloss Cragside, Northumberland. Bibliothek. Arch.: R. Norman Shaw

Abb. 33 Schloss Cragside, Northumberland. Schlafzimmer, typische Anordnung der Möbel um den Kaminplatz. Arch.: R. Norman Shaw

Abb. 33 Schloss Cragside, Northumberland. Schlafzimmer, typische Anordnung der Möbel um den Kaminplatz. Arch.: R. Norman Shaw

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