Im Zeitalter des absoluten Wirrwarrs und der Zerfahrenheit

In diesem Zeitalter eines absoluten Wirrwarrs und der Zerfahrenheit wirkt das Auftreten des temperamentvollen Gottfried Semper wie eine Erleuchtung. Das Ideal eines Kunstgelehrten, Künstler und Ästhetiker in einer Person! Statt der geistlosen Verwendung alter Stilformen versucht er zunächst wieder Klarheit über den Ursprung und die Entwicklung der Stile und Ornamentformen zu gewinnen. Die Kunst ist an das Material, an den Stoff gebunden; Marmor, Holz oder Metall erfordern ganz verschiedene Behandlung, haben eigene ästhetische Ausdrucksund Formenwerte, die man nicht ohne weiteres mechanisch auf ein anderes Metall übertragen kann. Die Konstruktion und die Behandlung wirken mitbestimmend auf die Form. Diese Formen sind aber nicht allein durch den Stoff bedingt, sondern auch durch die Idee. Ein neuer Stil bedarf eines neuen Kulturgedankens. Stil ist die Übereinstimmung einer Kunsterscheinung mit ihrer Entstehungsgeschichte, mit allen Vorbedingungen und Voraussetzungen und Umständen ihres Werdens. Dieser geistreiche, sprühende Baukünstler und Ästhetiker verfolgt nun den Werdegang der einzelnen Stile mit einer künstlerisch und logisch klaren Anschaulichkeit, dass man bei seinen Ausführungen glauben sollte, mit einem der Führenden aus den Tagen der Klärung der letzten zehn Jahre und der Gegenwart zu reden. *)

Semper blieb aber ein einsamer Prediger in der Wüste. Er war auch viel zu sehr Kind seiner Zeit, weiter als Gilly und Schinkel durch die kunsthistorisierende Entwicklung von einer alten handwerklichen und baukünstlerischen Tradition entfernt, als dag er nun mit einem Schlage eine Besserung der Verhältnisse hätte schaffen können. Er war letzten Endes selbst nicht imstande, aus seinen Schriften die Konsequenzen zu ziehen. Er hat in ihnen weit Dauernderes als in seinen eigenen baukünstlerischen Arbeiten geschaffen. Aber damit wird er der große Vorkämpfer für unsere heutige Bau- und Wohnkultur, ein Mann, der mehr als fünfzig Jahre seinen Mitlebenden vorauseilte, der gegen ,,die Impotenz der halb bankerotten Architektur“ loszog und darüber klagte, dag ,,unsere Hauptstädte als Quintessenzen aller Länder und Jahrhunderte emporblühen, und wir in angenehmer Selbsttäuschung am Ende vergessen, welchem Jahrhundert wir angehören“. Von den ,,Bedürfnissen der Zeit“ weiß die Kunst nichts mehr. ,,Diese sollen wir vom Gesichtspunkte des Schönen auffassen und ordnen, und nicht bloß Schönheit da sehen, wo der Nebel der Ferne und der Vergangenheit unser Auge halb verdunkelt. Nur einen Herrn kennt die Kunst — das Bedürfnis! Sie artet aus, wo sie den Launen des Künstlers gehorcht.“


*) Gottfried Semper, Die vier Elemente der Baukunst. 1851. — Wissenschaft, Industrie und Kunst. 1852 — Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten. 1860/1863.

Es ist das Zeichen des Verfalles einer Kunst, wenn der einseitig befangene, philosophisch und philologisch gebildete Gelehrte die Führung in der ästhetischen Bewertung der Dinge hat. Es ist ein Ausblick auf eine bessere Zukunft, wenn der Gelehrte bescheiden sich von den führenden und unverbildeten Künstlern beraten lägt. Gottfried Semper war der Erste, der dem unheilvollen Einfluss der Gelehrten begegnete und gegen deren Schulmeinung schon 1834 (!) die Vielfarbigkeit der antiken Baukunst und Plastik bewies. Er war der erste Künstler, der von einer einsam hohen Warte herab aus dem Ägypten der Gelehrten einen Blick in das zwar noch in weiter Ferne liegende Kanaan der Kunst wies. Es ist der erste ,,Ästhetiker von unten“, der als Künstler vom Kunstwerk, seinem Werden und Gestalten ausgehend, erst zu allgemein gültigen Gesetzmäßigkeiten gelangte, der Vorläufer der Hildebrand und Klinger, der van de Velde und Muthesius, nur weit geistvoller, sprühender und einsamer. Mit Gottfried Semper hat die Geschichte der modernen Bau- und Wohnkultur zu beginnen. Semper hat eine Saat ausgestreut, die erst ein halbes Jahrhundert später zu keimen begann und, wenn nicht alle Zeichen trügen, in unseren Tagen einer wirklichen Entfaltung entgegenreift.

Die große Weltausstellung in London im Jahre 1851 war für ihn entscheidend. Er lebte damals als politischer Flüchtling in London in der Verbannung, da er sich 1849 in Dresden an der Revolution beteiligt hatte. Man zog ihn zur Mitarbeit und Organisation der Ausstellung heran. Ihm und seinen Freunden kam dort die Einsicht, dag wir überhaupt ohne eigentliches Kunsthandwerk lebten. Man überlegte jetzt ernstlich, wie man die Mängel in der Erziehung zum Architekten und Kunstgewerbler beseitigen könnte. Semper war der Ratgeber des Prinz-Gemahls von England, wurde einer der wichtigsten Mitarbeiter an den Gründungen von Kunstgewerbemuseen und Kunstgewerbeschulen, schools for practical arts, wurde einer der Hauptträger der Kunstgewerbe-Bewegung, die dann auch nach dem Kontinent übergreift. In England gründete man im Anschlug an die Weltausstellung in den fünfziger und sechziger Jahren Kunstgewerbeschulen, in Deutschland seit den siebziger Jahren.

Die Entwicklung dieser Kunstgewerbeschulen ist wegen ihrer Irrtümer, der schnellen Einsicht der begangenen Fehler und ihrer korrigierten neuen Versuche das interessanteste und lehrreichste Kapitel der Geschichte der modernen künstlerischen Kultur der letzten Dezennien des dahingegangenen Jahrhunderts und der Gegenwart in Deutschland.

Zunächst wollte man dem Handwerk wieder ,,Kunst“ zutragen. Die Kunstgewerbezeichner entwarfen für den Handwerker auf dem Papier die das Handwerk veredeln sollende „Kunst“, d. h. historische Ornamente. Der Kunstgewerbler, ein handwerklich nicht vorgebildeter Ornamentenzeichner, hatte dabei natürlich von Materialbehandlung keine Ahnung. Der Handwerker seinerseits bildete die ihm vorgezeichneten Formen mechanisch für alle Gebrauchsgegenstände nach, ganz gleichgültig, ob für Metall, Holz oder Leder und Stein, und auch ganz gleichgültig, ob diese Ornamentformen früher aus einer materialgerechten Behandlung von Metall oder Stein oder Holz gewonnen waren. In den Tagen der, „Gründerrenaissance“ erhielten Maschinen, Schwungräder, ebenso wie Tische und Stühle, Schreibzeug und Schränke und Sessel und Öfen usw., ornamentale Verzierungen aus ,,Unserer Väter Werke“. Das Kunstgewerbe rekapitulierte dabei, wie die Architektur, noch einmal die ganze geschichtliche Entwicklung der Kunst. Kunst war eine engere Verwendung historischer Ornamentformen, die man der handwerklich hergestellten Nutzform einfach nachträglich anheftete.

Um die Mitte der neunziger Jahre herrschte aber bei den führenden deutschen Künstlern die Einsicht, dass man mit einem gedankenlosen Wiederkauen historischer Formen nicht weiterkomme. Das Vorbild Englands wirkte nach dem Kontinent. Das historische Ornament hatte dort niemals als Selbstzweck so überhand genommen wie in Deutschland. Die Sachlichkeit des Kunstgewerbes, die Betonung der Zweckform, das materialgerechte Bilden, dann neue, aus der Pflanzenwelt gewonnene Formen erregten in Deutschland eine künstlerische Revolution gegen die historischen Stilformen. Aber wie alle Revolutionen war auch die neue Bewegung voller Übertreibungen, Irrtümer und Entgleisungen. Aber sie hatte doch ihr Gutes. Anfänglich waren zwar nur an Stelle der alten Ornamente neue getreten, und Kunst war noch immer ein Spiel äußerer dekorativer Formen. Aber allmählich verlor das Ornament doch die Eigenschaft, Selbstzweck zu sein. Man erkannte, dag der Schmuck nicht das Wesen des Kunstgewerbes ausmache. Man begann mit der handwerklichen Gestaltung des Gegenstandes, mit der Betonung der Zweckform und einem materialgerechten Formen der Körper. Die guten Proportionen der Gesamterscheinung und nicht das Ornament wurden entscheidend. Jetzt auch erkannte man die sachliche Schönheit der Industrieerzeugnisse, da man die Bedingungen des neuen Formund Konstruktionsmaterials verstehen lernte.

Diese veränderten Anschauungen gaben den Kunstgewerbeschulen ein neues Programm. An Stelle der Ausbildung am Zeichenbrett trat die Ausbildung in den Lehrwerkstätten. Doch dabei blieb das moderne Kunstgewerbe nicht stehen. Der neue Werkstättenkünstler, der ehemalige Ornamentenzeichner, wurde ein Innenarchitekt. Denn nicht mehr der kunstgewerbliche Gegenstand als solcher, sondern die Raumausstattung, das Zimmer, die einzelnen Möbel, Geräte, Wandbekleidung als zusammenhängendes Ganze war sein Ziel, seine Aufgabe geworden. Die neuen Kunstgewerbe-Ausstellungen, vor allem die in Dresden 1906, sind Ausstellungen moderner Wohnkultur geworden. Die dekorativen Künste waren wieder in den Dienst der Architektur getreten. Aus dem Raumausstattungskünstler wurde schließlich ein Architekt. Damit war nach Jahrzehnten der unsagbarsten künstlerischen Anarchie und Unkultur ein wirklich großer Erfolg und eine Aussicht auf eine bessere Zukunft erzielt. Wie in früheren Tagen ist Baukunst wieder die Mutter der bildenden Künste. Die sachlichen Anforderungen und die Zweckmäßigkeit sind wieder an die erste Stelle gerückt. Der Pfad der künstlerischen Entwicklung scheint wieder aufwärts gewandt, und eine neue Kulturwelt wie von fernen Hügeln zu uns herüber zu winken!


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Moderne Villen und Landhäuser
Abb. 26 Haus in Edgerton bei Huddersfield, Yorkshire. Arch.: Edgar Wood

Abb. 26 Haus in Edgerton bei Huddersfield, Yorkshire. Arch.: Edgar Wood

Abb. 27 Landhaus Leyes Wood, Sussex. Vogelschau, nach einer Zeichnung des Architekten: R. Norman Shaw

Abb. 27 Landhaus Leyes Wood, Sussex. Vogelschau, nach einer Zeichnung des Architekten: R. Norman Shaw

Abb. 4-5 Ein Terrassenhaus, Grundriss und Südseite. Arch.: Baillie Scott

Abb. 4-5 Ein Terrassenhaus, Grundriss und Südseite. Arch.: Baillie Scott

Abb. 6 Ferienhäuschen, Straßenansicht. Arch.: Baillie Scott

Abb. 6 Ferienhäuschen, Straßenansicht. Arch.: Baillie Scott

Abb. 7 Ferienhäuschen, Ansicht vom Küchengarten aus. Arch.: Baillie Scott

Abb. 7 Ferienhäuschen, Ansicht vom Küchengarten aus. Arch.: Baillie Scott

Abb. 8-10 Ferienhäuschen, Korridor und Grundrisse. Arch.: Baillie Scott

Abb. 8-10 Ferienhäuschen, Korridor und Grundrisse. Arch.: Baillie Scott

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