Die Tatsache mit der das Inselreich überraschte

Es ist scheinbar eine der überraschendsten Tatsachen, dass jenes Inselreich, das bisher künstlerisch vom Kontinente lebte, einen Holbein und van Dyck zu sich herüberzog und niederländische Kunst sammelte und von ihr ausging, nun für den Kontinent die Befreiung brachte, den Anfang einer neuen, gesunden Bau- und Wohnkultur. Whistler meinte noch: ,,So etwas wie englische Kunst gibt es nicht.“ Joseph Anton Koch: ,,England, dieses moderne Karthago, hat niemals einen Sinn für Kunst bei sich heimisch gehabt.“ Und Antoine Etex: ,,Der Künstler ist dort landfremd, verpflanzt in eine antipathische Atmosphäre. Dort kann er nur vegetieren, um schließlich vor Schmerz zu sterben, denn die Kunst kann dort nicht existieren. Bei diesen britischen Insulanern, diesen neuen Vampiren der Welt, diesen entarteten Römern, wird man niemals Verständnis für die Kunst haben, so wenig wie bei den Amerikanern, weil ihnen jene undefinierbare Anlage fehlt, jene unaussprechliche Anmut, welche das Geheimnis der Kunst ausmacht.“

Diese Worte der Whistler, Koch und Etex werden einem verständlich, wenn man sich daran erinnert, was sie und ihr Jahrhundert unter ,,Kunst“ verstanden: Malerei und Plastik. Und Baukunst war ein dekoratives Spiel mit alten Ornamenten. England hat nun weder in dem Maße wie der Kontinent eine Hetzjagd der Stilformen aufzuweisen, noch dag das Tempo der kontinentalen malerischen Entwicklung nach England hinübergegriffen hätte. Weder die verblüffende Entwicklung des Impressionismus, des Pointillismus, des Kubismus, des Futurismus, des Conditionellismus oder des Plusquamperfektismus. England weiß auch nichts von einem Jugendstil. Doch in der Ruhe der Entwicklung und der Berücksichtigung sachlicher Bedürfnisse zeitigte England eine Wohnkultur von einem vollendeten Geschmack, einer Behaglichkeit, Einfachheit, Zweckmäßigkeit und Echtheit des Materials, die der Kontinent schon seit Jahrzehnten nicht mehr kannte. Mietskasernen verbargen ihre dunklen Hucken nicht hinter einer fürstlichen Barockfassade, die einen anderen Bauorganismus vermuten lieg. Landhäuser haben nicht nachträglich Renaissance- oder Barockformen eines städtischen Patrizierhauses erhalten. Auf dem Kontinent folgt hinter der Fassade die Enttäuschung. Aber man empfand diese Enttäuschung schon nicht mehr. In England folgt dem ersten Schritt in das Haus eine wohltuende Überraschung. Nicht die Fassade, sondern die Anordnung des räumlichen inneren Organismus, das Haus mit seinem gesamten Inhalt, der Zusammenhang der Räume und deren Ausstattung als Einheit ist das Entscheidende. East, West, home best. — My home is my Castle.


England hat nun auch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine historisierende Entwicklung gehabt, einen Klassizismus und eine Neugotik. Aber ein angeborener Sinn für das Behagliche und Praktische lieg daraus niemals ein Spiel mit toten Formen werden. In den sechziger Jahren begann dann jene kunstgewerbliche Bewegung, die, wie wir oben sahen, erst dreißig Jahre später in Deutschland einsetzte. Die Verhältnisse dieser letzten Entwicklung sind überraschend ähnlich. Aber in England war die Entwicklung vollendet, ohne dass der Kontinent davon nur etwas merkte. Dieser Vorsprung von dreißig Jahren ist der gewaltige Vorsprung einer ausgereiften nationalen Kultur.

John Ruskin war der Prophet und Prediger der neuen künstlerischen Wohnkultur. Er redete von Einfachheit und Ehrlichkeit, dem zweck- und materialgerechten Gestalten, dem heimisch Nationalen. Er hasste den Maschinenbetrieb, das Industrialisieren der angewandten Kunst. William Morris ist sein begeisterter Anhänger. Er lernt ein Handwerk nach dem andern, um die Bedingungen des Gestaltens aus dem Material selbst kennen zu lernen, ist der Vater der Werkstättenidee. Morris & Co. ist 1861 (!) die erste Werkstätte für moderne Handwerkskunst, für alle Gebiete der Innenausstattung. Die Münchener Werkstätten folgen erst 1900! Maler wie Dante Gabriel Rosetti, Burne-Jones, Ford Maddox Brown, Walter Crane, Arthur Hughes, der Architekt Philipp Webb, der Ingenieur Faulkner stehen im Dienste von Morris Sc Co., ,,denn“, sagte einmal Walter Crane, ,,die wahre Wurzel und Basis aller Kunst liegt im Handwerk, und die künstlerische Erfindungskraft nimmt ab in dem Maße, wie die Kunst ihre Verbindung mit dem Handwerk lockert“. Wie später in Deutschland, steigen Maler von der sog. ,,hohen Kunst“ zum Handwerk herab. Aus dem Poeten Morris wird ein Kaufmann. Der Vermittler zwischen Künstler und Käufer fällt fort. Zeitschriften wie ,,Hobby Horse“, vor allem ,,Studio“ verbreiten die handwerklichen Ideen. Die ,,Arts sand Grafts Society“ in London schafft ihnen eine würdige Austellungsmöglichkeit. Das Hauptbuch der Firma Morris & Co. ist die Hauptquelle für den Geschichtsschreiber des modernen englischen Kunstgewerbes.*)

Durch den Großbetrieb des Unternehmertums war auch in England die werkliche Tüchtigkeit der zünftigen kleinen Maurermeister auf dem Lande untergraben worden. Der Historismus der Stadtarchitektur auf das flache Land übertragen, die Einheit von Landschaft und anspruchslosen Häusern vernichtet. Die Heimatschutzbewegung beginnt in England aber schon in den sechziger Jahren! Das anspruchslose Land- und Bauernhaus, das lediglich aus praktischen Bedürfnissen entstandene, die einfachen, schmucklosen Häuser des 17. und 18. Jahrhunderts, die nie etwas von Stilformen gehört haben, wurden der Ausgang einer neuen Architektur.

*) Ayiner Vallance: William Morris, his Art, his Writings and his Public Life. London 1897.

Man wollte sich aus den Fesseln des Historismus befreien. In Deutschland führte der Versuch um 1900 zu einem völligen Bruch mit der Tradition. Man wollte um jeden Preis originell sein. Man kam zum Jugendstil. ,,Ich bin aber nicht so einfältig“ — meinte William Morris — ,,vorauszusetzen, dass wir aus der traurigen Lage, in die wir geraten sind, plötzlich einen neuen Stil aufbauen könnten, ohne dazu die Hilfe der vergangenen Kunstzeiten in Anspruch zu nehmen.“ Die führenden englischen Architekten waren auch immer führende Archäologen. Von älteren sei Robert Adam, von jüngeren Reginald Bloemfield und W. R. Lethaby genannt. Das hatte den Vorzug, dag man die historischen Formen nicht als Äußerlichkeiten übernahm, sondern in die Bedingungen des Werdens der Formen einzudringen suchte. Vielleicht hat das Moment nicht wenig dazu beigetragen, dag England nicht in dem Maße wie das gelehrte Deutschland eine Nachahmung historischer Formen aufzuweisen hat, dag diese nicht plastischer Selbstzweck wurden. Mit Philipp Webb und Eden-Nesfield und Norman Shaw aber werden die historischen Bauformen noch sparsamer verwandt. Alles ornamental Überflüssige wird abgestreift. ,,Von allen unnötigen Dingen“, meint Morris, ,,die heute vorhanden sind, ist das unnötigste das Ornament.“ Zweckmäßigkeit des Wohnens wird wieder zur Hauptsache.

Nichts ist bezeichnender für die neue Baugesinnung, als dag Norman Shaw, der Führer der neuen Architektenschaft, einmal behauptete, mit dem Grundriss sei seine Aufgabe erschöpft, dag Äußere interessiere ihn gar nicht! Welch ein gewaltiger Vorsprung in der Erkenntnis baukünstlerischer Aufgaben dem Kontinent gegenüber! Denn jetzt erst war eine individuelle Lösung einer Bauaufgabe möglich, da man nicht mehr voreingenommen und als Routinier mit einem fertigen Kunst-, Stil- und Bauprogramm an eine Bauaufgabe herantrat. ,,Das, was der Kunst immer neues Leben zuführt, sie immer freudig macht, ist die neue Situation. Die gegebene Natursituation zu einer künstlerischen Gestalt weiter zu formen, führt immer zu Neuem innerhalb der künstlerischen Gesetze. Fehlt diese natürliche Anknüpfung, so sucht man das Neue in sog. neuen künstlerischen Gesetzen und lägt zwei mal zwei fünf werden“ (Adolf Hildebrand).

Norman Shaw ist ein Meister des Grundrisses. Seine Arbeiten sind Muster von Behaglichkeit, Bequemlichkeit, aus denen sich von selbst, ohne Ornament und Schmuck, poetische Reize entwickeln. Denn die Poesie der Baukunst ist in der Hauptsache architektonisch-räumlicher Natur. Aus ihrer Anordnung, ihrer rhythmischen Aufteilung entwickeln sich von selbst malerische, poetische Momente.

Morris war nur Innenarchitekt. Norman Shaw wie Webb und Nesfield nur Außenarchitekten. Aus der Saat der kunstgewerblichen und Heimatschutzbestrebung geht das Geschlecht der neuen enghschen Baumeister hervor. Bei Norman Shaws zahlreichen Schülern, den Lethaby, Newton, Voysey u. a., liegt Außenbau und Innenschmuck und Garten wieder in einer Hand. Haus, Raum, die Innenausstattung und der Garten sind auf dieselbe Tonart abgestimmt. In England blühte schon seit Jahrzehnten eine Bau- und Wohnkultur, als erst der Kontinent die ersten tastenden Versuche unternahm, sich aus den Fesseln der Stilarchitektur zu befreien.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Moderne Villen und Landhäuser
Abb. 28-29 Landhaus Leyes Wood, Sussex. Grundrisse. Arch.: R. Norman Shaw

Abb. 28-29 Landhaus Leyes Wood, Sussex. Grundrisse. Arch.: R. Norman Shaw

Abb. 30 Esszimmer im Hause Orchards bei Godalming, Surrey. Arch.: E. L. Lutyens

Abb. 30 Esszimmer im Hause Orchards bei Godalming, Surrey. Arch.: E. L. Lutyens

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