Die Emanzipation der dekorativen Künste

Die Emanzipation der dekorativen Künste, der Malerei und Plastik und des Kunstgewerbes von der Baukunst bedeutet einen weiteren Schritt des Verfalles. Sonst war es doch zu allen Zeiten einer künstlerischen Kultur selbstverständlich, daß die Architektur die Mutter aller bildenden Künste sei, daß diese von ihr abhängig und nur durch sie ein lebenswahres Dasein haben. Ja, alle dekorativen Künste standen im Dienste der Architektur. Das Wandbild ganz sicherlich, das einem vorgeschriebenen architektonischen Rahmen sich anzupassen hatte. Und selbst das Tafelbild, das Altarbild, das erst das Spätmittelalter schuf, als der romanische Massenbau ein gotischer Gliederbau geworden und seine Wände in breite Fensteröffnungen umgewandelt, entbehrte nicht der straffen, gebundenen Linie, die ihre Abhängigkeit von der Architektur bezeugt. Ein Rubens'sches Altarbild ist der wunderbarste Schmuck einer barocken Kirchenarchitektur, ein Ornament an seinem rechten Platz, weil sich das Bild dem architektonischen Formenwillen zu fügen wusste. Bildhauerei war auch in erster Linie Schmuck der Architektur, sei es an antiken Tempeln, an gotischen Kathedralen oder barocken Palästen, und hatte niemals einen absoluten Wirkungsfaktor. Ja, selbst die sogenannte Freiplastik war abhängig von der Architektur. Ihre Formen mußten immer von neuem aus dem Platz- und Straßenbilde eigens entwickelt werden. Der Grundakkord, dem sie sich anzupassen hatte, war ein architektonisches Gebilde, war Städtebau. Es gab also überhaupt keine Freiplastik! Selbst die scheinbar ganz unabhängige Kleinplastik, dann Graphik und Buchschmuck, und das ist so bezeichnend, haben das Abhängigkeitsverhältnis von dem Formenwillen der Architektur nicht ganz zu lösen vermocht. Kunstgewerbe schließlich war ganz selbstverständlich Teil der Innenarchitektur, die mit der Gesamtarchitektur zusammenging. Im Garten fand das Haus seine formale Fortsetzung. Wenn alle Faktoren einer baukünstlerischen Gestaltung auf dieselbe Tonart der Linien-, Farben- und Massenkomposition zusammenklingen, so reden wir von ,,Stil“. Dieses Stilgefühl hatten noch zu Goethes Tagen Baumeister und Bildhauer, Schreiner und Schmiede, Schuster und Schneider, Maler und Gärtner. Dieses Stilgefühl ging uns indes verloren, als Malerei und Plastik, Kunstgewerbe und Garten sich von der Baukunst emanzipierten, als die zu allen Zeiten einer künstlerischen Kultur gültig gewesene Wahrheit zu Grabe getragen war, dag Baukunst die Mutter aller bildenden Künste sei.

Aus dem Gartenkünstler wurde nun ein Botaniker. Die Freude am naturalistischen Detail ist charakteristisch auch für Maler und Bildhauer. An Stelle des Forminteresses, d. h. des rein künstlerischen Interesses am Kunstwerk, trat das unkünstlerische Interesse am literarischen Inhalt, Genre und Anekdote, seit die große dekorative Linie einer geschlossenen Komposition fehlte. Haus und Garten waren ebenso unversöhnliche Dissonanzen wie Platz und Monument, Innenraum und Wandbild.


Wenn es galt, Wände farbig und figürlich zu schmücken, so vergrößerte man einfach Tafelbilder. Man vergaß, daß Tafelbild- und Monumentalmalerei ganz verschiedenen Gesetzmäßigkeiten unterworfen sind. Man handelte einfach gegen die Intentionen des Raumkünstlers, oder besser, der früheren. Die lebenden hatten jedes Verhältnis zur dekorativen Kunst verloren, wie Maler und Bildhauer, Kunstgewerbler und Gärtner zur Architektur. Es gab überhaupt keine Raumkünstler mehr. Wüst wie die Straßenbilder, überladen mit Ornamenten, waren auch unsere Räume. Keine behaglichen Heimstätten. Im günstigsten Falle unwohnliche Museen oder Antiquitätenläden, und mit ,,Kunst“ überladen. Kunst war aber nur noch Malerei und Plastik, vielleicht das Ornament. Aber es fehlte jede ordnende Hand eines Baumeisters, der Schmuck und Möbel als einheitliche Komposition, als gleiche Tonart zu dem Innenraum hätte stimmen können. Es war unmöglich geworden. Das Ornament, das eigentlich doch nur ein Daseinsrecht an dem zu Schmückenden hat, wurde Selbstzweck, wurde Hauptsache. Materialrücksichten gab es nicht. Die Verhältnisse waren einfach auf den Kopf gestellt.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Moderne Villen und Landhäuser
Abb. 20 Haus Orchards bei Godalming, Surrey. Arch.: E. L. Lutyens

Abb. 20 Haus Orchards bei Godalming, Surrey. Arch.: E. L. Lutyens

Abb. 21-22 Haus Orchards bei Godalming, Surrey. Arch.: E. L. Lutyens

Abb. 21-22 Haus Orchards bei Godalming, Surrey. Arch.: E. L. Lutyens

Abb. 25 Haus Steephill auf der Insel Jersey. Arch.: Ernest Newton

Abb. 25 Haus Steephill auf der Insel Jersey. Arch.: Ernest Newton

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