Abschnitt. 1

In Malodeczno befand sich das kaiserliche Hauptquartier und der geringe Rest der Garden; hier erließ Napoleon das berühmte neunundzwanzigste Bulletin, in welchem er erklärte, daß die große Armee nicht mehr existiere. Da es mir im Gedächtnis lebt, als wenn ich es heute gelesen, würde ich es mitteilen, wenn ich nicht voraussetzen könnte, daß es dem größten Teil meiner Leser so bekannt wäre wie mir selber. Dort erfuhren wir aber auch mit Gewißheit, daß Wilna von unsern Truppen besetzt sei, und daß sich dort gefüllte Magazine befänden, eine Nachricht, die nun so nahe am Ziel unsere Kräfte von neuem belebte und anspornte. Nun ward beschlossen, so rasch wie möglich, ohne Rast und Aufenthalt diesem Ort zuzustreben; denn wir selbst sehnten uns, den Endpunkt so vieler Strapazen zu erreichen, und für unsere Verwundeten war bessere Verpflegung die schreiendste Notwendigkeit. So eilten wir, so schnell es gehen wollte, vorwärts; doch als wir nach Smorgoni kamen, traf uns hier eine neue niederschlagende Kunde. Unter lauten Flüchen über seine Treulosigkeit teilten uns die Garden mit, daß in der verwichenen Nacht Napoleon sie heimlich verlassen und das Kommando dem König von Neapel übertragen habe. Allerdings sanken mit dieser Entfernung die Erwartungen der Zurückbleibenden um ein Bedeutendes; denn sie bewies, wie hoffnungslos die Sache sei, die hier aufgegeben war. Von nun an hieß es: sauve qui peut; was noch beisammen gewesen, lief auseinander; jetzt waren nur noch ferne Länder das weitere Ziel!
Wir erlangten an diesem Ort – ich weiß wieder nicht mehr durch wen – ein großes Brot. Da es zu Stein gefroren war, zerschlugen wir es mit Äxten und verzehrten von der uns zugefallenen Portion die Hälfte, während wir die andere Hälfte für den kommenden Tag in unseren Tschackos verwahrten, wo sie einstweilen auftaute.
In der Nacht vom 7. zum 8. waren wir bis um 9 Uhr abends umhergeirrt, ohne ein Feuer oder Obdach finden zu können; doch gelangten wir um diese Zeit an einen großen vereinsamten Kretscham (Krug), in den wir eintraten. Mit unendlicher Mühe und nach vielen vergeblichen Versuchen gelang es uns, einiges Holzwerk abzubrechen, um davon, wie immer, innerhalb des öden Hauses, d. h. auf bloßer Diele, Feuer anzumachen; aber bei diesem Werk konnten wir schon von unsern erfrorenen Händen die Haut der Fingerkuppen wie Handschuhe abziehen, und kaum schlug die Flamme in die Höhe, so füllte sich der Raum um uns her dergestalt mit Flüchtlingen, daß wir, eingeengt wie wir waren, zum erstenmal unsere Verwundeten nicht an das Feuer bringen konnten; sie mußten in der fürchterlichen Winternacht draußen ausharren. Kaum war es uns gelungen, uns Luft zu machen, so brachen wir wieder auf, als es kurz nach Mitternacht sein mochte. Doch als nun das Gelände hügeliger wurde, zeigte es sich zu unserm größten Schrecken, daß die Pferde nicht mehr weiter konnten. Ein kurzer Aufenthalt und darauf neue Versuche, sie zum Fortgehen anzutreiben, zeigte sich fruchtlos, und so wurde denn beschlossen, daß zwei von uns vorangehen sollten, um womöglich Hilfe zu schaffen. Oberst Pfuhl und ich wurden dazu ausgewählt. Wir versprachen, unser möglichstes zu tun, sagten unsern Freunden Lebewohl und zogen von dannen. Ich ließ bei ihnen mein Hab und Gut, ausgenommen eine wohlgefüllte Geldkatze um den Leib und meine oben beschriebenen Kleidungsstücke auf demselben; ich empfahl meinem Burschen die Sorge für meine so lange gehegten, jedem Kavalleristen so werten Pferde, – aber ich habe weder Freunde, noch Bagage, noch meine Pferde je wiedergesehen!
Alle unsere Bemühungen, Hilfe herbeizuschaffen, blieben, wie man sich denken kann, erfolglos; die Gegend war selbst eine Einöde, und bald gerieten wir wieder in einen Strom von Flüchtlingen, die uns unaufhaltsam mit sich fortrissen, und die auch, wenn wir sie um Beistand angesprochen hätten, ihn nicht zu leisten vermochten. Gegen 6 Uhr morgens kamen wir endlich bei den vor Wilna aufgestellten Vorposten an; hier nahm das Gedränge in sinnverwirrender Weise zu, dazu war ich nun an dem Punkt tödlicher Ermattung angelangt, in welcher mir Gedanken und Überlegung zu schwinden begannen, und hier verlor ich meinen letzten Kameraden, den mir das Schicksal gelassen hatte, den Obersten Pfuhl, von meiner Seite.
Ich fragte nach dem Billettamt und dem Magazin. Beide waren so umlagert, daß an kein Ankommen zu denken war; doch traf ich, als ich das erstere verließ, einen jüdischen Händler, durch den man, wie mir bekannt war, hier allein etwas ausrichten konnte. Mit der letzten Kraftanstrengung forderte ich denselben auf, mich in eine warme Stube zu bringen, indem ich ihm reichliche Belohnung zusicherte. Der Mann war glücklicherweise augenblicklich dazu bereit; er brachte mich zu einer Frau in ein wohlgeheiztes Zimmer, ich verschlang einige Speise, bestellte den Juden auf den Nachmittag wieder und fiel augenblicklich in einen so festen Schlaf, daß ich nur mit Mühe um 4 Uhr, wo der Mann wirklich zurückkam, geweckt werden konnte. Ich fragte den Juden, ob wir hier sicher wären, worauf er mir antwortete, daß dies durchaus nicht der Fall sei, daß man schon Kosaken gesehen habe, die sich der Stadt näherten, und diese füllte sich jeden Augenblick mehr mit wehrlosen Flüchtlingen. Ich war so müde, daß ich für jetzt noch nichts weiteres bestimmen konnte, halb im Traum verzehrte ich einige warme Speise, gab dem Juden den Auftrag, mir für den kommenden Morgen um 6 Uhr ein Brod und eine Flasche Rum zu bringen, und schlief sogleich wieder ein.
Ziemlich gestärkt erwachte ich am andern Morgen und fand den Juden schon meiner wartend, der zwar meine Bestellung ausgeführt, sonst aber wenig trostreiche Nachrichten brachte. Er sagte mir, daß in den Straßen, die zu den verschiedenen Toren führten, ein solches Gedränge herrsche, daß an kein Durchkommen zu denken sei, daß er aber doch versuchen wollte, mich auf ihm bekannten Seitenwegen womöglich bis vor die Stadt zu bringen. Schnell war ich gerüstet, durch mein Brot ward eine Schnur gezogen, der Rum fand in einer Tasche meines Rockes Platz, und so zog ich nach reichlicher Belohnung meiner Wirtin von dannen. Wie der Händler es versprochen hatte, geschah es. Eine kleine Weile trieben wir mit dem großen Strom fort, dann wandten wir uns links und gelangten durch ein kleines Seitenpförtchen auf das freie Feld. Hier blies der Wind so scharf, und die Kälte war auf eine so fürchterliche Höhe gestiegen, daß mir, besonders nach dem Aufenthalt in der warmen Stube, der Atem versetzte. Noch ging es immer wacker vorwärts, bis wir wieder auf die große Straße kamen, wo ich meinen braven Juden sehr zu seiner Zufriedenheit ablohnte, mich dabei aber wohl hütete, ihn meinen großen Schatz sehen zu lassen; denn Hunderte und Tausende sind bei solchen Gelegenheiten von den Wilnaer Juden erschlagen und beraubt worden. Bei meinem Austritt aus dem Quartier hatte ich schon Klein-Gewehrfeuer und den Donner des Geschützes gehört; die Gefahr war nahe, Eile also nötig.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Mit der großen Armee 1812