Abschnitt. 2

Als wir an diesem Tage unser Biwak erreichten, lieferte dieses ein schon durchaus verändertes Bild. Das Elend, der Mangel, die Erschöpfung hatten in furchtbarem Grade zugenommen. Tausende der Ankömmlinge taumelten am Feuer nieder, versuchten mit kraftlosen Händen dasselbe zu erweitern und sanken bald darauf, die Fruchtlosigkeit ihrer Anstrengungen erkennend, auf das eisige Feld zum Todesschlafe nieder, dazwischen tönten Flüche, Verwünschungen, laute Klagen um teure Anverwandte, und namentlich hörte man die jungen Soldaten oft in Ausdrücken des tiefsten Schmerzes um ihre daheimgebliebenen Mütter jammern. Einige, die zu ihrem Feuer kein trockenes Holz mehr fanden, suchten von den Bäumen die grünen Zacken abzubrechen, doch meist vergebens. Ihre kraftlosen Hände glitten an den glatten Rinden ab; sie sanken dabei nieder, und wer einmal fiel, stand, wenn nicht von Freundeshand erhoben, nicht wieder auf. Ein alter Mann mit schneeweißem Haar, gebückt, kraftlos, in einen großen Mantel gehüllt, trat an die Feuer der Soldaten. Mit bittender Gebärde wandte er sich an diese: „Pour l’amour de Dieu, une petite place au feu.“ – „Va t’en au diable.“ – „Mais je suis général!“ „Il n’y a plus de général!“ war die Antwort. „Nous sommes tous généraux.“ („Um Gotteswillen, ein Plätzchen am Feuer.“ – „Geh zum Teufel!“ – „Aber ich bin doch General.“ – „Es gibt keinen General mehr! Wir sind alle Generale.“)
So schrecklich nun die Flüche und Verwünschungen waren, die von allen Seiten uns umtönten, nichts glich dem Eindruck, den das Leiden derjenigen auf uns machte, deren Verstand die übermenschlichen Entbehrungen und die nun stündlich sich steigernde Kälte zerstört hatten. Einige stürzten sich unter greulichem Lachen in die prasselnden Feuer, andere fluchten Gott und den Menschen, während sie die Köpfe an den Baumstämmen zerschellten, und wieder andere sangen mit schmerzlichem wahnsinnigem Lächeln in den blassen, hohläugigen Totengesichtern die Lieder ihrer Heimat oder sie saßen am Wege und weinten, weinten mit all der schmerzlichen Inbrunst, mit der Kinder es zu tun pflegen, und mit dem lebhaften heftigen Schluchzen jenes Lebensalters.
Am vierten Tage, als wir kaum vor Hunger uns weiterzuschleppen vermochten, gelangten wir, ich weiß nicht mehr durch welchen glücklichen Zufall, wahrend des Marsches zu einem großen Stück rohen Fleisches. Wir versuchten es bei unserem Feuer zu kochen; aber inzwischen war der Hunger so groß, daß wir ein Stück am Feuer auftauten, kleine Teile davon abschnitten und, mit etwas Schießpulver bestreut, roh verschlangen.
In der Nacht vom 28. auf den 29. November hatte der Übergang über die Beresina stattgefunden, und am 5. Dezember erreichten wir in der Gegend von Malodeczno einen bewohnteren Landstrich; wenn auch hier keine Lebensmittel zu finden waren, so gab es doch in Häusern und Schuppen oder hinter denselben vor dem stürmenden Wind gesicherte Lagerstätten. Oft waren die Häuser so gedrängt voll, daß der Vorflur und jeder Raum von Flüchtlingen besetzt war; doch hatten wir hier einmal das Glück, die Zuerstangekommenen in einer der Hütten zu sein. Alsbald machten wir es uns bequem und legten uns zum Schlummer nieder. Als es ungefähr 3 Uhr sein mochte, erwachte ich wieder, und indem ich Brand und meinen Burschen weckte, trieb ich zum Wiederaufbruch. Alle Kameraden waren dazu bereit, nur der Leutnant Schrader und der Leutnant Köhler suhlten sich zu behaglich in der seltenen Wärme und wollten nicht fort. Der ganze Weiler stand bei unserem Weggang, wie wir das immer gewohnt waren, in Flammen; doch entdeckten wir, nachdem wir eine Strecke entfernt waren, daß auch unsere Nachtherberge, von dem Feuer ergriffen, bereits hell aufloderte. Nach weiteren hundert Schritten sahen wir den Leutnant Schrader atemlos herankommen, der uns berichtete, daß das Feuer auf dem Vorflur zuerst ausgebrochen sei, niemand durch die Tür sich habe retten können, und daß er selbst sich nur mit genauer Not durch ein kleines Fensterchen gequetscht habe, die übrigen aber, unter ihnen unser Köhler, rettungslos umgekommen seien.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Mit der großen Armee 1812