Abschnitt. 2

Auf der Straße, ganz in der Nähe der Stadt, fand ich unser viertes westfälisches Infanterie-Regiment, im Viereck stehend, welches, da es zum St. Cyrschen Korps gehörte, die Beresina nicht passiert hatte und also noch vollständig war. Ich verweilte nur kurze Zeit bei demselben, um einen bekannten Offizier, den Hauptmann von C..., zu sprechen, nicht ahnend, daß mein Schicksal so bald nachher auf das engste mit dem seinen verknüpft werden sollte. Die Straße war außerdem beinahe leer; denn als die Flüchtlinge bei dem Austritt aus der Stadt die russischen Geschütze auf den unfernen Höhen erblickten und den Donner derselben hörten, stutzten sie und wußten nicht, welche Partei sie ergreifen sollten. Ich besann mich aber nicht lange und eilte vorwärts, mit schwerem Herzen an das Schicksal meiner zurückgebliebenen Kameraden denkend.
Da erblickte ich, als ich ungefähr eine halbe Meile von der Stadt entfernt war, einen kleinen Schlitten mit einem erbärmlichen Pferde bespannt, auf das der nebenher gehende Kutscher unbarmherzig losschlug; daß eine andere Person im Schlitten lag, bemerkte ich gleichfalls. Dann und wann pfiff eine Kugel über den Weg, wonach ich jedesmal ein vermehrtes Losschlagen des Schlittenführers auf den ermüdeten Gaul gewahrte, der kaum noch fort konnte. Bald hatte ich den Schlitten eingeholt, und wer malt meine Überraschung, als ich in dem unbarmherzigen Rosselenker meinen treuen Burschen erkannte und in dem Herrn des Schlittens meinen armen Brand. Ein Schrei der Überraschung und der Freude tönte zu gleicher Zeit aus aller Mund; Brand weinte wie ein Kind und schöpfte neue Hoffnung aus diesem glücklichen Wiederfinden. Da beide noch gar nichts genossen hatten, eilte ich, ihnen von meinem Brot und dem zu mir gesteckten Rum mitzuteilen, was beiden neues Leben in die Adern goß.
Meine erste Frage war nun nach meinen Kameraden, und ich erfuhr, daß sie noch eine geraume Zeit versucht hatten, das Fuhrwerk fortzuschaffen; doch waren sie endlich, als sie bei einer Brandstätte angelangt waren, wo sie etwas Schutz gegen die fürchterliche Kälte fanden, genötigt gewesen, den letzten Versuch dazu aufzugeben. Mittlerweile hatte mein Bursche den kleinen Schlitten mit dem abgetriebenen Pferd angeschafft, auf welchen er Brand, als einen näher zu mir gehörigen Leutnant, gepackt und die andern verlassen hatte, in der Hoffnung, mich wieder aufzufinden. Durch Wilna hindurchzukommen war ihm trotz aller Anstrengungen nicht gelungen, sondern er hatte die ganze vergangene Nacht damit zugebracht, auf Seitenwegen die große Straße zu erreichen, auf der ich die Armen, in möglichster Eile vor den feindlichen Kugeln fliehend, wiederfand.
Die Mehrzahl der von Moskau Kommenden war zwar in Wilna geblieben und dort aus Mangel und infolge der übermenschlichen Anstrengungen gestorben; doch war, als wir aus dem Bereich des feindlichen Feuers gelangt waren, unsere Straße wieder gedrängt voll Flüchtlinge, und dies mehrte sich später so, daß wir, an eine Anhöhe gelangend, unsern Weg durch Lebende, Tote, Trümmer, Equipagen und Hindernisse aller Art versperrt fanden und mit unserm Schlitten nicht weiter konnten. Wir sahen uns also genötigt, unser Pferd auszuspannen, legten auf dasselbe eine Menge Decken und oben darüber die gerettete Parade-Schabracke Brands, als bequemen Sitz für unsern Verwundeten, um so, unsern Gaul am Zügel führend, dies Chaos zu durchschreiten.
Als uns dies gelungen war und der Weg wieder freier wurde, suchten wir aus dem großen Magazin um und neben uns einen andern Schlitten, spannten unser abgetriebenes Pferd wieder ein und eilten weiter. Wir glaubten sicher zu sein, wenn wir erst den Njemen überschritten hätten, und darum strebten wir, Kowno zu erreichen, was uns auch nach drei Tagen gelang. Jedoch fanden wir die Stadt auf der Seite gegen Wilna hin mit Schanzpfählen versehen, das Gedränge vor den Toren war fürchterlich, so daß ich mir durchaus keine Hoffnung machen durfte hineinzukommen. Abermals getäuscht in meinen Erwartungen, entschloß ich mich kurz und bog von der Straße ab, um über den Njemen zu fahren, was sich ganz gut bewerkstelligen ließ. Als wir jenseits der Stadt die große Straße wieder erreicht hatten, umfing uns abermals dichtes Gedränge, doch führte mich mein gutes Geschick in die Nähe eines Soldaten, der einen großen Feldkessel voll Rum trug. Unbemerkt schlich ich hinter ihm her, nahm meinen silbernen Becher hervor und senkte ihn vorsichtig in das duftende Getränk. Der erste Raub ward mir zuteil, dann wiederholte ich mein Experiment für Brand und endlich für meinen Burschen; doch bei dem letzten Eingriff in meines Nachbars Eigentum bemerkte dieser den ungebetenen Gast und wandte sich mit geballter Faust wütend gegen mich um. Einige Napoleons beschwichtigten ihn zwar hinsichtlich des Geschehenen, doch wollte er sich selbst durch neue Geldanerbietungen nicht dazu verstehen, mich noch einen Becher schöpfen zu lassen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Mit der großen Armee 1812