Abschnitt. 2

Den folgenden Tag kamen wir jedoch nur bis Ludwinowo, wo wir, unerhörte Herrlichkeit, eine Streu fanden, die uns so lockend war, daß wir zum erstenmal unsere Oberkleider, die schweren Geldkatzen, unsere Kartuschen (Patrontaschen) usw. ablegten, um der Ruhe einmal so recht aus dem Grunde pflegen zu können. Gegen zwei Uhr wachte ich zwar wieder auf und machte Lärm, aber weder der Wirt noch Brand waren zu erwecken; mir selbst gefiel die Wärme über die Maßen wohl, und so sank ich denn bei meinen vergeblichen Anstrengungen auf meine Streu zurück und bald darauf in Schlaf. Aus diesem weckte mich plötzlich ein scharfer Zugwind, der bei der Hitze des Zimmers um so empfindlicher auf mich eindrang. Durch die offenstehende Tür bemerkte ich ein Hin- und Herrennen; doch als ich eben schlaftrunken aufsprang, um nach der Ursache des Lärmens zu sehen, drang schon eine Menge russischer Soldaten in unser Zimmer, teils Kosaken, teils Husaren, alle wohlbewaffnet. Bald waren wir umringt, jeder Widerstand vergebens, alle bisherigen Anstrengungen, diesem gefürchteten Schicksal zu entgehen, also umsonst gewesen! Einer der Soldaten packte mich bei der Brust, ich stieß ihn zurück; doch ein anderer langte nach meiner glänzenden Kartusche, ein dritter nach meinem Schatze. Auf diesen Kerl stürzte ich augenblicklich los, um ihm mein Eigentum, von dem vielleicht meine ganze Zukunft abhing, zu entreißen; aber der Kosak zog seinen Säbel, ich sah die Fruchtlosigkeit meines Widerstandes ein und überließ ihm, wie ich es nicht ändern konnte, meine schöne Geldkatze. Mit einem scharfen Messer schlitzte er dieselbe auf, und als er sie ganz mit doppelten Napoleons gefüllt sah, verzog sich sein Gesicht zu einem fratzenhaften Grinsen. Dann klopfte er mir auf die Schulter mit einem oft wiederholten „Caraschol, caraschol,“ und so schnell er es vermochte, verließ er die Stube, warf sich aufs Pferd und war verschwunden. Meinen Pelz hatte mir das Gesindel gleicherweise geraubt; doch war ich im Besitz meiner übrigen Kleidungsstücke und meines Mantels geblieben, und in meiner Reithose barg ich noch einen Schatz, der der ersten schnellen Plünderung entgangen war: in meinem Geldbeutel nämlich befanden sich fünf doppelte Napoleons, ein Dukaten und einiges Silbergeld, und dieses zu retten war mein einziger Gedanke. Sobald ich entschlüpfen konnte, eilte ich in den Stall und verbarg das Geld, in etwas Papier eingewickelt, hinter einem Stein an der Krippe, worauf ich in die Gaststube zurückkehrte, hier suchten und fühlten Neuangekommene an mir herum, um Uhren oder Kleinodien zu erhaschen; doch hatte ich die meinige, eine goldene Repetieruhr, unterwegs verloren, weswegen mir Brand seine einfache silberne gegeben hatte, die ich zwar nun bei mir trug, aber so gut versteckt, daß die Schufte sie nicht fanden.
Wir wurden nun in ein anderes Haus transportiert, wo sich schon mehrere Gefangene befanden; doch wußte ich mich, ehe wir abgeführt wurden, noch meines verborgenen Schatzes zu bemächtigen, den ich in der festgeschlossenen linken Hand verwahrte. An unserm neuen Aufenthaltsort fanden wir einen Unteroffizier der Husaren, welcher sich sehr anständig erwies, uns Branntwein und warme Speisen bringen ließ, dabei aber immer unsere Fingerringe betrachtete, ohne sie indessen zu fordern. Da ich dies bemerkte, forderte ich Brand auf, ihm die seinigen, wie ich es auch tun würde, als freiwilliges Opfer darzubieten: denn wir konnten uns wohl kaum die Hoffnung machen, sie zu behalten. Ein mehrmaliges „Caraschol“ war unser Dank sowie eine vermehrte Aufmerksamkeit auf unsere Bedürfnisse. Wir glaubten nun jeden Augenblick transportiert zu werden; doch zu unserer Verwunderung ritten sämtliche Soldaten weg, und bald darauf erfuhren wir, daß die ganze Gegend frei von Kosaken sei.
Nun hieß es abermals, sich auf die Behendigkeit unserer Füße verlassen, wir schoben los; aber wir waren jetzt nicht mehr so glücklich, einen Schlitten zu haben. Deshalb nahmen wir Brand in die Mitte und schleppten ihn so trotz seiner schrecklichsten Schmerzen mit fort. Sobald ich mich jedoch nur etwas von meinen beiden Gefährten entfernte, glaubte der Verwundete, ich wolle sie verlassen und schrie und jammerte hinter mir her, so daß mir endlich der Geduldfaden riß und ich ihn zu allen T...... wünschte. Nun begann er nur noch mehr zu klagen, als er mich verdrießlich sah; aber man kann sich denken, wie dies ewige Rufen hinter mir her mich erboste und meine Bemühungen, einen Zufluchtsort zu entdecken, hinderte.
Endlich kamen wir zu einem Bauern, der halb deutsch, halb polnisch sprach. Er nahm uns sehr wohl auf, als ich ihm dafür Bezahlung anbot, daß wir an einem fertiggewordenen Gericht von Milch und Kartoffeln teilnehmen dürften. Wir erholten uns hier abermals von unserer Erstarrung; doch plötzlich stürmten die Kinder in die Stube und verkündeten, daß die ganze Gegend von Kosaken wimmele. Diesen folgten bald erwachsene Personen, die die tröstliche Nachricht brachten, daß ein wahres Treibjagen auf die Franzosen veranstaltet sei, und daß die Russen geschworen hätten, demjenigen das Haus über dem Kopf anzuzünden, welcher einen der Feinde verbergen würde. Umsonst bat ich den Bauern, mir zu erlauben, daß ich mich auf dem Heuboden verkriechen dürfe; doch die Frau jammerte und schrie so viel über das Unglück, das ich über sie bringen würde, daß der Mann standhaft bei seiner Weigerung blieb. Ich erklärte ihm, daß ich zu gehen bereit sei, doch würde er wohl meines Kameraden sich erbarmen, welcher, wie er wohl sähe, nicht mehr fortkomme. Leutnant Brand war noch sehr jung, das rührte das ländliche Ehepaar; der Bauer entschloß sich, ihn mittels eines russischen Schafpelzes umzugestalten, man wolle ihn bei etwaiger Nachfrage als einen Angehörigen vorstellen. Der Glückliche ward in eine Ecke am Ofen postiert, ich ließ ihm einen von meinen doppelten Napoleons und zog von dannen, dem Kretscham zu, wo sich die Gefangenen sammeln sollten.
Von hier aus wurden wir sogleich nach Ludwinowo zurücktransportiert; doch kam ich nicht wieder in den alten, mir so unheilvollen Kretscham, sondern in ein anderes Judenhaus, in welchem ich mich sofort an den Ofen zurückzog und dort in eine Ecke drückte. Gegen Morgen empfand ich heftigen Hunger, weshalb ich von meinem Olymp herabkroch und dem Kämmerchen zueilte, in welchem der Jude seinen Schrank hatte. Ich zog die Tür hinter mir zu und, mich dem Kerl nähernd, forderte ich zu essen. „As der Herr wird bezahlen Geld, wird der Herr kriegen zu essen.“ Ich erwiderte ihm, daß ich zwar kein Geld, aber wohl Geldeswert besäße, worauf ich mit ihm handeln wollte, wenn er mir sagen könne, daß wir sicher vor Überraschung seien. – „Ganz sicher,“ erwiderte die Kanaille, und ich, ohne Arg und Mißtrauen, zog vorsichtig meine Uhr aus ihrem Versteck und gab sie dem Kerl hin. Kaum aber hatte der Halunke dieselbe in Händen, so rief er die Kosaken, übergab ihnen meine Uhr und bezeichnete ihnen meine Person, als wahrscheinlich des Durchsuchens noch wert. Wie der Blitz drängte ich mich, Püffe rechts und links austeilend, durch den dichten Haufen, erkletterte meinen Ofen, barg mit fliegenden Händen mein letztes Hab und Gut, meine wenigen Napoleons, in eine Ritze und legte mich zum Schlafen nieder. Wie ich es befürchtet hatte, geschah es. Nach einiger Zeit machten sich einige Kosaken über mich her; doch fanden sie nichts als meine reiche goldgestickte Paradeweste, die sie an sich nahmen. Es war dies wirklich auch kein ganz schlechter Fund, da ein solches Uniformstück über 40 Taler kostete. Meine Uniform ließen sie mir jedoch großmütigerweise, und trotz meines Verlustes an Uhr und Weste war ich dennoch froh, noch so wohlfeilen Kaufs davongekommen zu sein.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Mit der großen Armee 1812