Abschnitt. 3

Bald darauf wurden wir nach Mariampol transportiert, wo ich abermals mein Quartier aus dem Ofen nahm, aber so erschöpft vor Hunger und Kälte, daß ich kaum noch fort konnte. Da die Stadt nach dem Treibjagen, welches auf die Franzosen stattgefunden, von Flüchtigen wimmelte und jedes Haus von dem Keller bis in den Boden damit angefüllt war, zogen die Kosaken in kleinen Trupps von Quartier zu Quartier und plünderten, was sie vermochten. Auch an uns kam bald die Reihe; mir rissen sie die Reithosen vom Leibe, und einen alten neben mir befindlichen französischen ordonnateur en chef (Hauptintendanten) zerrten sie mit einer solchen Brutalität an einem neuen seidenen indischen Halstuch, daß sie ihn fast erdrosselten. Diese Roheit machte mein Blut sieden, und als ich in diesem Augenblick einen Trupp regelmäßiger Kavallerie an unserm Hause vorüberreiten sah, stürzte ich hinaus, und mit lauter Stimme mich an die Offiziere wendend, rief ich: „Meine Herren, ist ein Deutscher unter Ihnen?“ Sogleich verließ ein junger Offizier das Kommando und, an mich heranreitend, sagte er: „Ich spreche deutsch, was wünschen Sie?“ – „Man behandelt uns hier,“ rief ich aus, „gegen Menschen- und Völkerrecht, wir sind Gefangene; aber wir können verlangen, nach dem herrschenden Kriegsgebrauch und nach den Rechten der Menschlichkeit behandelt zu werden. Ich ersuche Sie um Beistand!“ – „Glauben Sie mir,“ sprach achselzuckend der junge Mann, „ich empfinde tief und schmerzlich die Bitterkeit des Loses, das Ihnen zuteil geworden, aber wir vermögen Sie nicht zu schützen. Der einzige Rat, den ich Ihnen erteilen kann, ist der, halten Sie mit ihren Kameraden zusammen und suchen Sie sich Ihrer Haut zu wehren, was Ihnen vielleicht gute Dienste leisten wird; denn Sie haben es mit einer unordentlichen feigen Bande zu tun!“ Er drückte mir die Hand, worauf er zu seinen Gefährten zurückkehrte, und ich ging in das Quartier, fest entschlossen, den Rat des Offiziers zu befolgen. Auf dieses hin verrammelten wir die Haustür sowie die Tür, die bei allen jüdischen Wirtshäusern dort unmittelbar aus der Stube zu dem Stall führt, und erwarteten die Dinge, die da kommen würden. Es dauerte auch nicht lange, so erschien eine neue Abteilung der Plünderer; aber wir vertrieben sie so nachdrücklich mit Besen, Knütteln und was uns zur Hand war, daß die feige Bande das Feld räumte und sich auch nicht wieder sehen ließ.
Bald darauf trat ein jüdischer Händler, gefolgt von einem Unteroffizier der Kosaken, an unser Fenster, klopfte an und rief mit lauter Stimme: „Sind hier vorhanden Westfalschicks?“ Ich rief ihm ein lautes „Ja“ zu und war bald draußen bei ihm. Hier erfuhr ich denn, daß mehrere Offiziere dieser Truppen in einem andern Wirtshaus beisammen wären, die den Juden beauftragt hatten, ihre Landsleute in den andern Häusern zu erfragen, damit sie vereint leichter ihr Unglück ertragen könnten. Zu meiner größten Überraschung fand ich in ihnen acht Leutnants von dem vierten Regiment, welches ich hinter Wilna getroffen hatte, unter ihnen auch meinen Freund von C....., der aber sichtlich krank und herabgekommen war. Hier blieben wir mehrere Tage; ich wechselte mit größter Vorsicht einen meiner Napoleons, so daß mir also noch drei derselben und mein Dukaten blieben, drei von vielleicht 1500 Stück, diese wenigen aber noch immer ein großer Schatz für mich!
Am Abend des zweiten Tages trat ein schöner donischer Kosak in die Stube, welcher zuerst zu mir kam, und mir die offene Hand hinhaltend, Geld verlangte; ich hielt ihm die meinige in gleicher Weise hin und sagte lachend: „Zieh mir mal ein Haar raus!“ Der Soldat lachte, ging zu meinem Nebenmann, welcher gleichfalls die Achseln zuckte, worauf er uns scharf fixierte, dann den Wirt rief, uns Schnaps und Weißbrot zu geben. Hierauf griff er in die Tasche, aus welcher er einen Laubtaler herauszog, den er mir mit vieler Freundlichkeit in die Hand drückte, grüßte lächelnd, klopfte draußen noch einmal ans Fenster, und war im nächsten Augenblick im Sattel und auf und davon. Eben wollte ich meinen Gnadentaler bergen, als eine verwünschte Graumütze mit blechernem Kreuz hinter dem Ofen hervorsah, deren Eigner, ein russischer Landsturmmann, bald nachfolgte, und ohne viele Umstände trat dieser auf mich zu, reckte seine Hand aus und sprach: „Dei Franzus!“ – Was wollte ich machen? Der Taler, noch nicht warm geworden in meiner Hand, wanderte sogleich in die des Russen, mein kleines Geschenk war, wie gewonnen, so zerronnen.
Bald darauf kam ein angeblich russischer Offizier zu uns, der aber deutsch sprach. Er teilte uns mit, daß er hier zu einer Art von Kommandanten ernannt sei. Sein Befehl ginge dahin, uns womöglich zu schützen, weshalb er uns hiermit aufforderte, bis morgen früh alles, was wir zu bergen wünschten, in seine Hände niederzulegen, weil er bei den starken Durchmärschen, die noch in dieser Nacht erwartet würden, sonst nicht für unser Eigentum einstehen könne. Alle waren damit einverstanden, weshalb er mich bat, eine Liste der zu übergebenden Sachen anzufertigen, die er sogleich zu sich nehmen wolle. Ich tat nach seinem Begehr, doch kam mir während des Schreibens einiger Zweifel in die Rechtschaffenheit des Mannes, und ich beschloß, mein Geld nicht herzugeben. Die übrigen gaben nicht allein ihre Barschaft, sondern auch ihre Kleinodien und ihre Orden; doch als die Reihe nun an mich kam und ich nichts beifügte, sagte der Russe ganz verwundert zu mir: „Und Sie haben nichts?“ – „Nein,“ antwortete ich, „ich habe nichts,“ schloß ganz unbefangen mein Verzeichnis, fertigte ein Duplikat für den Juden, welches derselbe unterzeichnen mußte, und unser Offizier zog mit den eingesammelten Schätzen ab, bei seinem Weggang das Versprechen gebend, daß am folgenden Tage vier regelmäßige Dragoner zu unserer Eskorte nach Preny bereit sein sollten, und er mit ihnen wiederkommen würde. Aber als die festgesetze Stunde zu unserm Aufbruch heranrückte, erschienen weder Kommandant noch Dragoner – meine Kameraden waren auf die niedrigste Art um den letzten Rest ihres Eigentums geprellt!
Dagegen fanden sich nach Verlauf einiger Stunden unregelmäßige Kosaken und Baschkiren zu unserm Transport ein, die für die Offiziere zu vier und vieren kleine Schlitten stellten. Doch es dauerte lange, ehe wir zum Aufbruch kamen. Mittlerweile, da das Plündern so gut ging, wollte jeder etwas davon abbekommen; das Landvolk, der Pöbel, die Juden mengten sich auch schon in dies Geschäft, und als wir in die Schlitten einstiegen, waren wir von einem ganzen Schwarm solcher hungrigen Raben umgeben. Zu mir kam zu seinem Unglück ein großer, stämmiger Sohn Israels und versuchte einen Griff nach meiner Brusttasche; doch kaum hatte er die Hand an mich gelegt, als ich, schon wütend gemacht durch den langen, nutzlosen Aufenthalt in der tödlichen Kälte und unsere wahrlich nicht beneidenswerte Lage, mich erhob und, unbekümmert um die Folgen, dem frechen Kerl eine Ohrfeige gab, daß er sich ein paarmal im Kreise drehte, ehe er in den Schnee niederstürzte und ihn alsbald mit seinem Blute färbte, das ihm aus Nase und Mund hervordrang. Statt daß die Kosaken sich seiner angenommen und ihn an mir gerächt hätten, wollten sie sich vor Lachen fast ausschütten; ihre lebhaften Gebärden drückten die größte Zufriedenheit mit meiner Handlungsweise aus, und einer erzählte dem andern mit sichtlichem Vergnügen den köstlichen Spaß. Wahrscheinlich mochten sie des Juden Beginnen als einen Eingriff in ihre Privilegien und daher meine kategorische Bestrafung desselben als ein ihrem Sinne ganz entsprechendes, richterliches Verfahren ansehen.
Gegen Abend wurden wir in einem Dorfe bei den Bauern einquartiert, nachdem unser Weg den ganzen Tag über durch lauter Wald geführt, in welchem wir einigen Schutz vor der schneidend scharfen Luft gefunden hatten. Da mir in Mariampol auch Mantel und Überrock genommen waren, so hatte ich einen russischen Schafpelz erhandelt, welchen ich über meine Uniform gezogen hatte, und der mir nun einigermaßen die verlorenen Kleidungsstücke ersetzte. Wie ich stets auf meiner Hut war, kroch ich, als in unserm Nachtquartier die Streu bereitet worden, dicht unter die Ofenbank und bedeckte mich dick mit Stroh. Ich wußte nämlich, daß die Bauern jetzt mehr zu fürchten waren als bisher die plündernden Kosaken, da sie die Beraubten, sobald nur irgend Widerstand versucht wurde, ohne weiteres totschlugen. Richtig erwachte ich in der Nacht von einem wilden Spektakel, der in der Stube los war, und als ich mich vorsichtig nach der Ursache desselben umsah, entdeckte ich einige Bauern in Begleitung eines Kosaken, die meine Kameraden auszogen. Bei dem ungewissen Schein eines trüben Lichts, welches draußen auf dem Flur brannte, blieb ich von ihnen unentdeckt und daher glücklicherweise im Besitz meiner Kleidungsstücke.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Mit der großen Armee 1812