Abschnitt. 1

Jenseits Kowno erheben sich die Ufer zu einer bedeutenden Höhe, und wir hatten daselbst einen tiefen Hohlweg zu passieren, in welchem unter umgestürztem Fuhrwerk aller Art auch eine Menge Kassenwagen lagen, und dieser Engpaß ward von einigen französischen Kanonen beherrscht, die noch bedient waren. Einige Juden aus Kowno hatten von diesem Schatz, wie die Raben von ferner Beute, Nachricht bekommen, und ein ganzes Rudel war plündernd über den reichen Inhalt der umgestürzten Geldwagen hergefallen und durchwühlte ihn mit gieriger Hand. Plötzlich schlugen einige Kanonenkugeln in den dichtesten Haufen, und augenblicklich ergriffen die Juden so schnell die Flucht, daß einer über den andern fiel, und sie ihr Gejammer weithin erschallen ließen. Als wir uns jedoch eine Strecke von ihnen entfernt hatten, sahen wir noch einmal zurück und gewahrten bereits einige der Beherztesten wieder in voller Schatzheberei, denen nach und nach die übrigen erst langsam, dann aber doch nachfolgten, – so sehr überwog Goldgier ihre Todesfurcht!
Die Kälte drang so fürchterlich auf uns ein, daß wir anfingen gänzlich zu erstarren; Brands Bein war infolge des genossenen Branntweins dick geschwollen, ihm die Ruhe also dringend nötig, und das arme Pferd konnte nur langsam fort. Obgleich wir an diesem Tage nur erst eine kleine Tour gemacht hatten, kehrten wir doch bei dem ersten Hause am Wege ein, ließen den Schlitten vor der Tür stehen und eilten gefühllos, wie wir in unserer Erstarrung waren, der Stube zu, ohne uns um Nahrung oder Unterkommen für unser armes Tier zu bekümmern. Brand wurde in die Nähe des geheizten Ofens hingelegt, wir andern beiden duckten uns neben ihn und träumten so ungefähr bis Mitternacht. Nun, da ich mich etwas erholt hatte, trat ich vor die Tür, um nach meinem Fuhrwerk zu sehen, aber – weg war Schlitten und Pferd, was mich hinsichtlich meines kranken Kameraden in nicht geringe Verlegenheit setzte. Ohne diesen etwas von unserem Verlust merken zu lassen, rief ich meinen Burschen, teilte ihm unser Unglück mit und fragte, was nun zu tun sei? – „Ick war ‘n andern söken,“ war die trostreiche Antwort des ehrlichen Westfalen, – und wirklich, als ich nach kurzer Zeit neben Brand meine Vorbereitungen zur Weiterreise traf, erschien der treue Kerl auf einen Augenblick in der Tür, nickte mit dem Kopfe und winkte zu kommen. Als wir das Haus verließen, fanden wir vor demselben einen fertigstehenden Schlitten, besser als den verlorenen; Brand wurde hineingepackt, und merkte erst jetzt, daß es nicht unser früherer war. Rasch ging es von dannen, um so rascher, als wir Einsprache des rechtmäßigen Besitzers fürchten mußten.
Als wir fast den ganzen Tag fortgeeilt waren, ohne das Geringste für unsere Nahrung gefunden zu haben, und sehr ermüdet von dem immerwährenden Laufen, gelangten wir an einen Nebenweg, auf dem sich eine frische Schlittenspur zeigte. Ich sagte Brand, daß ich entschlossen sei, von der großen Straße abzubiegen, es komme, wie es wolle, und daß ich auf diesen Nebenweg einlenken und unser Glück weiter versuchen wolle. Gesagt, getan! Nach kurzer Zeit sahen wir in einiger Entfernung aus dem Schornstein eines einsamen Gehöfts einen dünnen Rauch aufsteigen, den wir mit unbeschreiblicher Freude begrüßten; doch bemerkten wir, daß bei unserer Annäherung die Bewohner des Hauses in eiliger Flucht dem unfernen Walde zueilten. Wir ließen uns dies jedoch nicht weiter anfechten, sondern nahmen von den bequemen warmen Stuben Besitz. Hier fanden wir in dem großen Backofen, wie er in polnischen Bauernstuben zu vielfachen Zwecken sich vorfindet, eine Menge gebratener oder eigentlich gebackener Kartoffeln, denen wir mit Haut und Haar im ersten Hungertriebe zusprachen. Dann füllten wir unsere Brotbeutel, warfen dem Pferde Heu vor und füllten auch unsern Schlitten damit an, so daß Brand förmlich darin eingepackt war. Obgleich wir nur zu gerne an dem prächtigen warmen Ofen ausgeruht hätten, konnten wir dies dennoch nicht wagen, weil wir die Rückkehr unserer unfreiwilligen Wirtsleute von Stunde zu Stunde erwarten konnten, und, wie wir fürchten mußten, mit herbeigeholter Verstärkung, um uns zu vernichten.
Wir beschlossen also, auf der weiterführenden Spur fortzufahren, und hatten auch das Glück, daß wir, nachdem wir ungefähr eine Meile weit gekommen waren, an einen einsam gelegenen Kretscham gelangten, dessen Besitzer, wie gewöhnlich ein Jude, uns freundlich aufnahm. Ich hatte aus meinen früheren Zügen durch Polen mich mit dem Kauderwelsch der Kinder Israels wohl bekannt gemacht und mir dadurch schon immer ihre Freundschaft erworben; auch hier leistete mir dieser Umstand die ersprießlichsten Dienste. Der Jude war die Gefälligkeit selbst und war ganz entzückt über meine ungewöhnlichen Kenntnisse. Meine erste Frage an den Israeliten war, ob zu essen vorhanden wäre, worauf er freundlich nickend die kurze aber befriedigende Antwort gab: „Is.“ Dieser Frage folgte die nach Branntwein, worauf dieselbe zufriedenstellende Antwort folgte und gleich darauf der Beweis. Hier pflegten wir uns denn einige Stunden aufs köstlichste. Unser Pferd war gleichfalls gut versorgt, wie ich durch ein kurzes Gespräch erfuhr, da ich zu bequem war, um selbst nachzusehen. Ich fragte nämlich unsern geschäftigen Juden nach dem Befinden unseres armen Rosses, worauf er kurz aber genüglich die Antwort erteilte: „Es ißt!“ – Gleich darauf hörte ich die Mamme nach dem Bocher (Knaben) fragen, worauf der Tate in der üblichen Redeweise erwiderte: „Wo soll er denn sein, er sitzt in der Kammer und frißt!“
Ich erkundigte mich nun bei dem Juden nach der einzuschlagenden Straße, die er mir zwar beschrieb, doch gleich darauf setzte er hinzu, daß es unmöglich wäre, dieselbe ohne Wegweiser aufzufinden. Ich bat ihn, einen Boten herbeizuschaffen. Er versprach es auch und ging hinaus, einen solchen zu suchen. Aber nach Verlauf einer Stunde kehrte er zurück, zuckte die Achseln und sagte: „Die Kerls – ihre gewöhnliche Benennung der Bauern – wollen nicht!“ Ich bat ihn, noch einmal das mögliche zu versuchen, und endlich, es mochte gegen 2 Uhr nachts sein, kehrte er zurück und sagte mir, daß sich einer der Kerls willig gefunden habe, uns zu begleiten. Nun machte ich mich in aller Stille an die Untersuchung meiner Waffen; ich selbst nahm eine Büchse wohlgeladen zu mir, und mein Bursche war mit einem blanken, schlarfgeschliffenen Hirschfänger versehen. Diese Vorsichtsmaßregeln wird man nicht unnötig finden, wenn man bedenkt, daß unsere einsame Straße durch dicke Wälder führte, in denen wir leicht überfallen oder durch einen treulosen Boten in einen Hinterhalt gelockt werden konnten. Doch, gottlob, unsere Befürchtungen erwiesen sich als unbegründet; wir legten, obwohl mit Hindernissen und immer tödlicher Kälte kämpfend, glücklich unsern Weg nach Mariampol zurück, wo wir mittags gegen 2 Uhr eintrafen. Unser Bote ward bezahlt, und wir begaben uns in ein Wirtshaus, in welchem wir zwar kaum ein Unterkommen fanden, aber doch Lebensmittel die Fülle. Hier gelang es mir nur mit Not und Mühe, meinen verwundeten Gefährten fortzubekommen. Er bat mich flehentlich, länger zu verweilen; doch die Aussicht, bald die preußische Grenze zu erreichen, ließ mich nicht rasten noch ruhen, und so ging es denn in der Nacht um 2 Uhr wieder fort.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Mit der großen Armee 1812