Empfindung und Empfindelei

Jetzt erst scheinen die Menschen sich bewusst geworden zu sein, dass sie Empfindung eine Seele haben und die Neuheit der Entdeckung reißt sie Empfindelei zum Überschwang fort, zu einer Schwelgerei der Gefühle, welche bald jede echte Empfindung in bloße Empfindelei ausarten lässt.

So gesteht Charlotte von Clausewitz ihrer Freundin Elise von Bernstorff, dass ihr der tote Baum im Garten lieber sei als der grüne, weil er besser zu ihrer Stimmung passe. Tausend bis dahin unbekannte Gefühle und Gefühlchen werden tändelnd gepflegt, man rührt sich und andere, schwelgt in Tränen und Seufzern. Heftige Gefühlsausbrüche werden guter Ton, Umarmungen, Küsse, Tränenströme, Ohnmächten gehören zu den alltäglichen Umgangsformen beider Geschlechter. Bürger bedankt sich überschwenglich bei Miller für die wollüstigen Tränen, die er beim Siegwart habe weinen dürfen, Friedrich der Große bricht beim Rezitieren französischer Verse konvulsivisch in Tränen aus. Prinz Ferdinand, Prinz Heinrich, preußische Generale weinen bei jeder Gelegenheit, ebenso wie de Catt, der nie versäumt, die vergossenen Zähren in seinem Journal zu buchen.


Die Dichterjünglinge des Hainbundes vergießen soviel Tränen, wie sie Verse machen, ja selbst der nüchterne Voß steigert sich in einen wahren Rausch tränenseliger Überschwenglichkeit hinein. Man führt ein Tagebuch, um es andere lesen zu lassen, wie die Prinzessin Heinrich, die es in Magdeburg bevorzugten Hofdamen zu lesen gibt und sie durch diesen Blick in ihr Herz „innig rührt“. Man spiegelt die eigene schöne Seele in der fremden und wird nicht müde, sich selbst und anderen ein Theater seelischer Sensationen vorzuspielen. Gustav Gotthardt von Blücher, ein Bruder des Fürsten, hatte über seinem Bette die Modelle des Sarges seiner Gattin und seines eigenen mit den zärtlichsten Inschriften. Sie war 1772 gestorben, er starb 1808.

Die Stammbücher, die bis dahin ausschließliches Eigentum der Studenten und im Laufe der Zeit zum Tummelplatz rohester Zoterei ausgeartet waren, wandern in den Besitz zartfühlender Jünglinge und Jungfrauen und werden Tempel, in denen die Herzen der Empfindsamen den Gefühlen ewiger Liebe, unvergänglicher Freundschaft die süßesten Worte leihen. In jedem Park gehört ein Freundschaftstempel zu den unentbehrlichen Requisiten gerührter Stimmungsmacherei. Friedrich der Große weiht in Sanssouci einen solchen dem Andenken seiner Schwester, Gleim richtet sich in seinem Hause in Halberstadt einen Freundschaftstempel ein, in dem er die Bildnisse seiner zahllosen Freunde numeriert und etikettiert bewahrt, wie die Kräuter in einem Herbarium.

049. Pietro Longhi, Die Tanzstunde, 1745.

049. Pietro Longhi, Die Tanzstunde, 1745.

050. Figurine für ein Ballett

050. Figurine für ein Ballett

051. Chardin, Die Tanzstunde, 1745

051. Chardin, Die Tanzstunde, 1745

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