Einfluss Frankreichs

Die Ideen der Aufklärung, wie sie außer Rousseau, wenn auch in anderem Sinne, Voltaire und die Enzyklopädisten vertraten, verbreiteten sich um so schneller und unaufhaltsamer, als diese Autoren Französisch schrieben, also in der Sprache, die der gesamten kultivierten Welt geläufig war, vielen sogar vertrauter als ihre Muttersprache.

Der besonders von deutschen Schriftstellern der folgenden Zeit den Deutschen des 18. Jahrhunderts so oft gemachte Vorwurf der Französelei verliert bei gewissenhafter Untersuchung seine Berechtigung. Deutschland und das Deutsche Reich waren in jener Zeit weder ein geographisch noch politisch feststehender Begriff. An seinen Grenzen verschmolz es nach allen Seiten mit den Nachbarländern zu staatlich zusammengehörigen Gebilden.


Die tonangebende Macht im Reiche, das Kaiserliche Haus, wurzelte in seiner Herrschaft hauptsächlich in außerdeutschen Gebieten, in Ungarn, Böhmen, den Niederlanden, Neapel; die Kurfürsten von Sachsen waren Könige von Polen, die Kurfürsten von Brandenburg Könige von Preußen, die Kurfürsten von Hannover Könige von England, der Landgraf von Hessen-Cassel König von Schweden. Oldenburg gehörte zu Dänemark, Pommern zu Schweden. Der Kurfürst Max Emanuel hat, solange er lebte, nicht aufgehört, nach einer ausländischen Krone zu trachten, gleichviel, ob sie ihm in Spanien, in Ungarn, in Neapel, Belgien oder sonstwo zu winken schien, und noch Karl Theodors höchster Wunsch war es, Bayern dranzugehen, um König von Burgund zu werden.

Die Aufhebung des Ediktes von Nantes füllte die deutschen protestantischen Staaten Baden, Hessen, Braunschweig mit Refugiers, besonders die Mark Brandenburg. So war z. B. in Berlin am Ende des 17. Jahrhunderts jeder dritte Mensch ein Franzose. Diese Refugierten, welche ihrem Glauben zuliebe Heimat und Besitz unter tausend Gefahren verließen, waren nicht nur durch die Stärke ihres Charakters hervorragende Menschen, sie waren auch Leute, die eine feinere Gesittung, eine höhere Kultur mitbrachten und in der neuen Heimat verbreiteten. In der Mark Brandenburg sollen sie allein 43 unbekannte Arten von Gewerben eingeführt haben. Ludwig XIV. hat allen Ernstes daran gedacht, sich zum Kaiser von Deutschland wählen zu lassen. Und wenn er die Mehrzahl der deutschen Fürsten durch Subsidienzahlungen an Frankreich fesselte, so darf man gegen die Empfänger deswegen noch nicht den Vorwurf des Undeutschen erheben. Sie waren infolge der Geldarmut ihrer im Dreißigjährigen Kriege völlig ausgesogenen Länder geradezu auf diese Subsidien angewiesen.

Der enge, auf die Nationalität beschränkte „Patriotismus“, wie wir ihn heute verstehen, ist erst im 19. Jahrhundert entstanden. Jene Zeit kannte ihn gar nicht. Wenn die deutschen Höfe damals von Franzosen wimmelten, Friedrich der Große sich für seine Steuerunternehmungen Scharen französischer Beamten kommen ließ, so zogen nicht weniger Deutsche nach Frankreich. Wenn ein preußischer Feldherr wie Herzog Ferdinand von Braunschweig äußerte: „Es ist für jeden deutschen Offizier eine Ehre, in französischen Diensten zu stehen“, so darf man sich nicht wundern, dass die Marschälle Frankreichs mehr als einen Ausländer in ihren Reihen zählen, den Schweden Grafen Löwendal, Moritz von Sachsen, den Sohn Augusts des Starken u. a. Ja ganze Regimenter des französischen Heeres, wie Royal Allemand, Royal Deux-Ponts, Royal Etranger u. a. rekrutierten sich dauernd aus Deutschland. Ist nicht dagegen Prinz Eugen von Savoyen kaiserlicher Feldherr geworden und rechnen wir den „edlen Ritter“ nicht zu den Unseren? Graf Schulenburg verrichtete seine glänzenden Waffentaten im Dienste Venedigs, Graf Lippe in dem Portugals, der Schotte Keith im Solde Preußens. Der deutsche Graf Goerz war schwedischer, mehrere Grafen Bernstorff dänische Minister. Dass ein Staatsmann oder ein Feldherr nacheinander verschiedenen Herren verschiedener Länder diente, erregte weder Aufsehen noch Anstoß. Nicht die Zugehörigkeit zu dieser oder jener Nation gab den Ausschlag bei der Beurteilung eines Mannes, sondern die Zugehörigkeit zur guten Gesellschaft. Diese war international, weltbürgerlich, ihre Formen aber, ihre Sprache, ihre Sitten, ihre Kunst und ihre Mode war französisch. Dieses Überwiegen der französischen Kultur datierte seit den Glanztagen Ludwigs XIV., seit der Sonnenkönig auf dem Gipfel politischer Macht sich nicht mit Unrecht als den Herrscher der Welt betrachten konnte. Von ihm empfing sie Krieg oder Frieden, von ihm Kunst und Bildung.

Und was hätte das Deutschland von damals dieser Macht und diesem Glanz auch entgegensetzen können? Politisch, wie Pufendorf das Reich charakterisierte, eine krankhafte Zwitterbildung, ein monströser Körper, der aus mehreren Hundert theoretisch gleichberechtigter Staaten zusammengesetzt war, „Staaten“, unter denen sich Reichsdörfer von 500 Einwohnern, Reichsritter über 1/8 Quadratmeile befanden, Miniaturdespoten, die das Recht über Leben und Tod, Krieg und Frieden, Zölle und Steuern nicht nur besaßen, sondern auch ausübten. Fürst Hyazinth von Nassau-Siegen ließ 1707 einen Bauern aus keinem anderen Grunde hinrichten, als um zu zeigen, daß er auch als Besitzer einer halben Grafschaft Herr über Leben und Tod sei. Der Herzog von Sachsen-Weimar bekriegte den Fürsten von Schwarzburg; Mainz und Würzburg, Meiningen und Koburg haben gegeneinander die Waffen ergriffen. Herr v. Flemming auf Weissig überzog mit seinem Heere von 30 Mann die Staaten der Herzogin-Witwe von Sachsen-Weißenfels mit Krieg; Lächerlichkeiten, die den Zeitgenossen gar nicht zum Bewusstsein kamen.
009. Antoine Watteau, Junges Mädchen

009. Antoine Watteau, Junges Mädchen

011. Watteau, Der Maler selbst und Herr von Julienne

011. Watteau, Der Maler selbst und Herr von Julienne

012. Antoine Watteau, Firmenschild des Gersaint (Ausschnitt)

012. Antoine Watteau, Firmenschild des Gersaint (Ausschnitt)

alle Kapitel sehen