Sitten

Jeden Sonntag speisten wir bei der Mutter meines Vorgesetzten, wo sich alle Verwandten und einige nicht zur Verwandtschaft gehörige Personen versammelten. Hier wurde die nämliche Etikette beobachtet, wie im adligen Klub. Man muß dieses ehrfurchtsvolle Benehmen gegenüber den altern Leuten gesehen haben! Ein erwachsener Sohn war ungeachtet seiner Jahre, seines Ranges in gewisser Beziehung einem minderjährigen gleichgestellt. Der Senateur M. G. Sspiridow besuchte seine Mutter des Sonntags zum Mittagessen in voller Uniform und mit dem Ordensbande über der Schulter. Er liebte es, nach dem Essen ein Pfeifchen zu rauchen; seine Mutter mochte den Tabaksgeruch nicht; nach dem Essen pflegte er sich in das Bedientenzimmer zu verfügen, ein Luftfenster zu öffnen und seine Pfeife zu rauchen, umringt von mehr als zwanzig Dienern, welche in ehrfurchtsvoller Stellung vor ihm standen. Seine Gemahlin, eine geborene Fürstin Schtscherbatow, die Tochter unsres Historikers, erschien niemals ohne Chiffre. Alle Gäste fügten sich derselben Ordnung, und wehe demjenigen, der es sich einfallen ließ, dieselbe zu verletzen. Da ich alles annahm, so machte ich mir auch folgendes zur Gewohnheit: Jeden Morgen besuchte ich in voller uniform meine Mutter und fuhr von ihr zu der Mutter meines Chefs. Als meine Mutter mich täglich immer aufs neue Unterwürfigkeit und widerspruchlosen Gehorsam bekunden sah, ließ sie sich erweichen und sagte schon beim täglichen Abschied zu mir: „Morgen kommst du doch wieder, mein Lieber?“ Als ich dies meinen Kameraden erzählte, fielen sie mir um den Hals, küssten mich, und waren nicht weniger erfreut; als ich selbst: „Gott behüte davor,“ sagten sie, „den Zorn der Eltern auf sich zu laden, wie kann man dann noch auf Glück rechnen?“