Die Mutter

In den ersten Tagen des Januar 1795 tauchte ich plötzlich in Moskau auf und ließ vor der Treppe des Hauses meiner Mutter*) in der Twerschen Straße halten. In meiner Selbstsucht hoffte ich auf einen freundlichen Empfang und glaubte, meine Mutter würde erfreut sein, ihren jungen Sohn, der für einen schmucken Fähnrich galt, nach langer Trennung wiederzusehen.

Zugleich war ich auch entzückt über die Aussicht, meine Heimatstadt Moskau näher kennen zu lernen, aber gewiß war der Hauptzweck meiner Reise die Regulierung meiner Finanzen und die Feststellung eines Jahresbudgets für mich.


Ich ließ mich melden und mußte eine halbe Stunde warten, welche mir so lang wie ein ganzer Tag vorkam, endlich wurde ich vorgelassen. Ich eilte auf meine Mutter zu, um ihr die Hand zu küssen, sie aber wehrte mir und sagte: „Du bist nicht zu deiner Mutter gekommen, sondern zu meiner Geldkassette. Schämst du dich nicht, als Offizier so wenig Ambition zu besitzen? Man muß den Tod jeder erniedrigenden Handlung vorziehen.“ Diese Worte machten einen so tiefen Eindruck auf mich, daß meinen Augen unwillkürlich eine Träne entrollte. „Da siehst du die Folgen deines leichtsinnigen Treibens; jetzt ist das verletzte Selbstgefühl erwacht und ein Offizier muß weinen! Ich will dich nicht sehen; fahre, wohin du willst; ohne die Erlaubnis meines Mannes kann ich dich nicht aufnehmen!“ Bei diesen Worten verließ sie das Zimmer. Mein Gott! War das eine bittere Lehre! Und dabei in Gegenwart unsrer leibeigenen Leute. Ich lief die Treppe hinunter, setzte mich wieder in den Postschlitten und ließ nach der „Deutschen Vorstadt“ fahren, weil ich möglicherweise bei der Mutter meines Admirals ein Unterkommen zu finden hoffte. Ich hüllte mich in meinen Schafpelz und überließ mich meinen bittern Gedanken. Ich muß gestehen, anfangs fühlte ich mich durch die Herzlosigkeit meiner Mutter verletzt, die ihrem Sohn nach jahrelanger Trennung ein Unterkommen verweigert hatte und dazu noch in einer solchen Weise! Meine Eigenliebe litt stark darunter, aber der Weg von der Twerschen Straße nach der Deutschen Vorstadt ist ziemlich weit, zumal mit müden Pferden, und so hatte ich Zeit, mir alles ruhiger zu überlegen. Zu meiner Schande mußte ich mir gestehen, daß nicht die zärtliche Liebe zu meiner Mutter, sondern vielmehr der Wunsch, Geld zu erhalten, meine plötzliche Ankunft veranlaßt hatte. Jetzt, wo meine Mutter schon über fünfzig Jahre im Grabe ruht, bin ich ihr für diese Lehre dankbar; sie hat dadurch meine Gesinnung veredelt und mich vor jeder, auch der geringsten Niederträchtigkeit bewahrt. Allerdings habe ich oft gerade den Edelmut zu sehr auf die Spitze getrieben, aber dafür habe ich mich nicht erniedrigt, mit dem Laster nicht geliebäugelt, nicht nach dem sogenannten äußern Glück getrachtet, welches mich der innern Ruhe hätte berauben können, die, einmal verloren, nicht so leicht wiederzugewinnen ist. Von Herzen danke ich dir, meine unvergeßliche Mutter, für diese praktische Lehre, die mehr gewirkt hat, als alle theoretischen Untereisungen meiner Professoren!

*) Meine Mutter hatte während meiner Abwesenheit zum zweitenmal geheiratet, und zwar den Oberst Schäfer. Sie stand mit einem Handlungshause in Reval in Korrespondenz und hatte durch dasselbe von dem Treiben ihres lieben Sohnes Kenntnis erhalten.