Die Predella

Bei den heiligen Personen, die dem Opfertode auf den Flügeln des Altars in idealer Vereinigung jenseit von Raum und Zeit beiwohnen, war die Auswahl entweder theologisch gegeben, wie bei den Aposteln, Propheten und den klugen und törichten Jungfrauen, örtlich bedingt wie bei den in Hamburg besonders volkstümlichen Heiligen — Maria Magdalena, Katharina — oder mehr oder weniger zufällig.

Ganz anders liegt es mit der Auswahl für die Predella. Wenn ein Theologe sich um 1379 die Aufgabe stellte, aus der unendlichen Fülle der Kräfte, die die Kirche und das christliche Leben der nachapostolischen Zeit begründet, ausgebaut und erhalten haben, acht oder neun Männer zu bezeichnen, die ihm die eigentlich wirkenden bedeuten, so wird seine Auswahl genau so gut Glaubensbekenntnis, wie wenn der Vorgang sich heute abspielte, und es wird ebenso wichtig, festzustellen, wen er weglässt, wie wen er wählt.


Ich bin noch nicht in der Lage, auf die Fragen, die die thronende Versammlung der Predella anregt, eine Antwort zu geben. Doch habe ich den Eindruck, dass es sich bei der Auswahl um das Bekenntnis eines Mystikers handelt.

320 Predella – Der Engel Gabriel
321 Predella – Maria

Auffallend ist schon die Anwesenheit des h. Dionys und des h. Bernhard, beide im Sinne der Mystik zu deuten. Ebenso bezeichnend ist die Auslassung des so volkstümlichen h. Franciscus, aber aus der Gesinnung eines deutschen Mystikers um 1379 verständlich.

Und wie kommt an den Anfang der Reihe Origenes, der doch als Ketzer galt, nur bei den Mystikern nicht. Er wird auf der alten Inschrift nicht Sanctus genannt, sondern schlichtweg Magister. Und sind nicht mystisch die Sprüche zu verstehen wie Augustins: Habe sanitatem et fac omnia quae vis (Sorge für die Gesundheit Deiner Seele, so kannst Du tun, was Du willst) und des Dionysius: Verus Deus inter deos non est demonstratus? (Der wahre Gott unter den Göttern ist nicht bewiesen.) Ebenso auch des Chrysostomus: Necesse est, ut scientiam habeat humanam cum tractantur divina (Man muss die menschliche Wissenschaft haben, wenn vom Göttlichen gehandelt wird). Der Spruch von der Gesundheit der Seele, die die Freiheit des Tuns gestattet, wendet sich ganz im Sinne der deutschen Mystiker gegen eine mechanisierende Auffassung, die von den guten Werken ausgeht. Und kämpft nicht das Demonstratus im Spruch des h. Dionysius gegen den Geist der Scholastik, der nichts unbeweisbar bleibt? Auch der Spruch des h. Ambrosius: Nescimus, quo fine claudemur in hoc exilio: Wir wissen nicht, zu welchem Ende wir in dieser Verbannung — des Erdenlebens — eingeschlossen sind, dürfte der kirchlichen Auffassung des ausgehenden Mittelalters weniger entsprechen als der Empfindung für das Geheimnis des Daseins, die den Mystiker nie verlässt.

323 Predella – Origenes

Wer die Sprüche aneinanderreiht, hat das Bekenntnis eines Menschen vor sich, für den es keine äußere Sicherheit gibt, der das Heil nicht in einer mechanischen Richtigkeit der Lebensführung sucht, sondern im Zustand der Seele, der das Wirken der Gnade anerkennt, und der sich bescheidet, das Tiefste nicht beweisen zu können.

Die eingehende Untersuchung dieses Stücks theologischer Psychologie muss vorbehalten bleiben.

**************

Auf dem Altar stand die Predella höher als sie in einem Museum angebracht werden kann. Um die Figuren besser zu würdigen, muss man sie von einem niederen Sessel aus betrachten. Trotz der zu kurzen Verhältnisse der thronenden Gestalten gehören die Reliefs der Predella zu den anziehendsten Schöpfungen des Meisters. Köpfe, Throne, Inschriften und ein Teil der Gewänder sind in der ursprünglichen Farbe erhalten.

Das Mittelstück der Reihe bildet die Verkündigung. Im Gestus und Ausdruck der Maria, die auf rotem Throne sitzt und das Gebetbuch in der aufs Knie gestützten Linken hält, den Blick verloren in die Ferne richtet und die ausgestreckte Hand in Kopfhöhe erhebt, liegen Schreck und Staunen und tiefes Sinnen, aber keinerlei Demut und Abwehr.

Es verdient Beachtung, dass der Meister im Zusammenhang der tiefsinnigen Vereinigung aller Kräfte, die am Erlösungswerk mitgewirkt haben, auf alle Motive verzichtet hat, die der Gestalt der Maria irgend etwas Sittenbildliches geben konnten, wie das versonnene Blättern im Buch, das mechanische Festhalten einer Seite, oder die auch nur auf eine augenblickliche Regung hindeuten, wie die abwehrende oder die auf die Brust gelegte Hand zu einem aufwärts gerichteten oder gesenkten Blick. Das alles hätte einen Misston gegeben unter der feierlichen Kreuzigung, wie Bertram sie für diesen Altar gebildet hat.

Der Engel, dersich eben auf das rechte Knie niedergelassen hat, trägt in der Linken das Spruchband mit dem englischen Gruß und erhebt segnend die Rechte. Auch diese Gebärde des Segnens muss aus dem besondern Ernst des ganzen Zusammenhanges verstanden werden.

Maria ist von vorn gesehen. Die rasche Bewegung der rechten Hand reißt den Mantel in straffe, fast wagerechte und sehr tiefe Falten, die im Gegensatz stehen zu den flachen fast senkrechten Falten von der andern Schulter. Die Haartracht war auf eine lose aufgesetzte Krone berechnet, unter dem Reif auf der Schläfe quellen die weichen Strähnen breit nach den Seiten. Der Engel trägt eine rotgoldene Kappe auf halblangem stark gelocktem Haar.

So lebhaft uns die rein formale Leistung bei diesen beiden Gestalten anzieht, dem Künstler war sie selbstverständlich. Für ihn lagder Ausgangspunkt nicht in der Anordnung der Falten und der Verteilung der Schattenmassen. Ihm war das seelische Motiv der Quell der thematischen Erfindung. Wie der Visionär der mystischen Gärungszeit, die hinter ihm lag, sah Bertram die heilige Handlung als Dichter, dessen Erlebnis sie ist. Er selbst war Maria, die vor dem Gruß des Engels erschrickt. Nur so konnte er den Blick finden und den Gestus der Hand, durch den das kühne Motiv der Faltengebung bedingt ist. Nicht die Falte war zuerst da, auch nicht die Bewegung der Hand, sondern das Zucken der Seele. Wir tun gut, uns daran zu erinnern, dass schon Ph. O. Runge aus der Tiefe seiner Empfindung von der Kunst des Arrangements, die er hasste, gesagt hat, sie fange bei den äußern Armen und Beinen an.

Die thronenden Vertreter der Entwicklung der christlichen Lehre und des christlichen Lebens tragen Spruchbänder mit Inschriften, die sich unter der modernen Übermalung im alten Zustande erhalten zeigten. Ich füge eine Übersetzung nach dem Sinne bei.

325 Predella – St. Ambrosius
327 Predella – St. Augustinus

Die Reihe der fünf Thronenden links beginnt mit Origenes. Die Inschrift auf dem Thron nennt ihn: Magister Orienes (sic). Das Spruchband trägt die Inschrift: Obediencia est janua celestis regni (Gehorsam ist die Tür zum Himmelreich). Er weist mit dem Zeigefinger der Rechten auf den Spruch. Sein Gesicht mutet wie ein Bildnis an. Es ist bartlos, sehr voll und wird von schwarzem welligem Haar eingerahmt, das unter der großen Kappe hervorquillt. Der Blick ist niedergeschlagen. In dem vollen fast vierkantigen Kinn sitzt der feine Mund sehr weich. Origenes trägt einen langen Rock mit Ärmeln. Die Falten auf der Brust, die in der Mitte sperrig auseinandergehen, weisen auf die Gürtung.

329 Predella – St. Hieronymus

St. Ambrosius mit dem Spruchbande: Nescimus quo fine claudemur in hoc exilio (Wir wissen nicht, zu welchem Ende wir in dieser Verbannung eingeschlossen sind), trägt bischöfliche Gewänder. Er ist dunkel mit halblangem Bart und Haar.

St. Augustinus, ebenfalls in Bischofsgewändern, hält das Spruchband: Habe sanitatem et fae omnia quae vis (Sorge für die Gesundheit deinerSeele, dann kannst du alles tun, was du willst). Er ist im Typus mit Ambrosius verwandt, aber seine Augenbrauen sind energisch zusammengezogen und sein Mund ist feiner.

St. Hieronymus sagt: Cuique dolori remedium est paciencia (Aller Schmerzen Arznei ist die Geduld). Erträgt einen roten Hut und langen Mantel mit Schultertuch. Sein bartloses Gesicht erinnert im Bau an das des Origenes, doch sind seine Brauen gewölbt und das Spiel des Lichtes ist weniger weich und reich.

St. Gregorius. Sein Spruch heißt: Gracia non negligitquos possidet (die Gnade vernachlässigt die nicht, die sie besitzt.) Er trägt schwarzgoldene Kappe, halblangen Mantel mitKapuze und langes Untergewand. Sein Haar ist halblang, sein dunkler Bart ganz kurz geschoren.

331 Predella – St. Gregorius

Zur Linken der Maria beginnt die Reihe mit Johannes dem Täufer. Er thront in langem faltenreichem Mantel mit zwei Knöpfen auf der Schulter rechts gewandt, mit der Rechten auf das Lamm in seiner Linken weisend. Das Spruchband sagt: Facite fructum dignum penitentie (Luther: Tut rechtschaffene Früchte der Buße). Sein Kopf mit langem reichem Gelock und sein in dicken Locken flutender Bart umrahmen ein groß angelegtes ernstes Antlitz mit gerunzelter Stirn und im Sprechen geöffneten Munde.

Auf ihn folgt St. Dionysius mit dem Spruch: Verus deus inter deos non est demonstratus (der wahre Gott unter den Göttern ist nicht bewiesen). Er trägt Bischofsgewänder, hält in der Linken das Spruchband und in der Rechten die Mitra mit der Schädeldecke. Sein Mantel bildet auf Brust und Leib ein doppeltes System von Querfalten.

St. Chrysostomus, ebenfalls in Bischofsgewändern, erhebt ermahnend die Rechte und spricht: Necesse est, utscientiam habeat (sic) humanam cum tractantur divina (Man muss die menschliche Wissenschaft haben, wenn vom Göttlichen gehandelt wird).

St. Bernhard, rechts gewandt, hat so individuelle Züge, dass man an ein Bildnis denken sollte. Das kräftige vielbucklige Ohr mit dem breiten oberen Umschlag, der sehr kleine stark ausgearbeitete Mund, der überhöhte Hinterkopf, die tiefen schattenfangenden Höhlen im Gesicht weisen in ihrer Einheit auf einen bestimmten Menschen, der dem Künstler vorgeschwebt hat. Sein Spruch lautet: Quasi de facie colubri fuge peccatum (Flieh die Sünde wie den Anblick der Schlange).

333 Pedella – Johannes der Täufer

Der letzte, St. Benedictus, wendet sich zurück. Sein von der Kapuze beschattetes Antlitz mit der langen Nase über kleinem Munde hat wieder den Charakter einer bestimmten Persönlichkeit. Convertite linguas vestras atque mores (Bessert eure Rede und eure Sitten) sagt sein Spruch.

Die Reihe sitzender Gestalten ist auch als eine Einheit gefühlt. Abwechselnd grün und rot bilden die Throne einen Rhythmus. Die beiden Gestalten neben der Verkündigungsgruppe sind von ihr abgewandt, um sie zu isolieren. Die letzten rechts und links wenden sich den Genossen zu, wodurch die Reihe abgeschlossen wird. Doch führt der Künstler den Gedanken nicht mechanisch aus. Bei Origenes, links, bleibt die Bewegung kaum merklich. Benedictus, rechts, steht schon fast im Profil. Strebepfeiler trennen die Gestalten, Rundbogen, von Konsolen ausgehend, schließen die Nischen mit Maßwerk, dessen Weiß, Grün (mit Blau wechselnd) und Rot nach den alten Spuren erneuert ist.

335 Predella – St. Dionysius
336 Predella – St. Chrysostomus
337 Predella – St. Bernhard
338 Predella – St. Benedictus
339 Predella – Architektur


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Meister Bertram tätig in Hamburg 1367-1415
320 Predella—Der Engel Gabriel

320 Predella—Der Engel Gabriel

321 Pedrella—Maria

321 Pedrella—Maria

323 Pedrella— Origenes

323 Pedrella— Origenes

325 Pedrella—St. Ambrosius

325 Pedrella—St. Ambrosius

327 Pedrella—St. Augustinus

327 Pedrella—St. Augustinus

329 Pedrella—St. Hieronymus

329 Pedrella—St. Hieronymus

331 Pedrella—St. Gregorius

331 Pedrella—St. Gregorius

333 Pedrella—Johannes der Täufer

333 Pedrella—Johannes der Täufer

335 Pedrella—St. Dionysius

335 Pedrella—St. Dionysius

336 Pedrella—St. Chrysostomus

336 Pedrella—St. Chrysostomus

337 Pedrella—St. Bernhard

337 Pedrella—St. Bernhard

338 Perdella—St. Benedictus

338 Perdella—St. Benedictus

339 Pedrella—Architektur

339 Pedrella—Architektur

alle Kapitel sehen