Die Statuetten

Das System der Aufstellung der heiligen Figuren lässt sich leicht überschauen.

Am Fuß des Kreuzes stehen unten zu beiden Seiten die Apostel. Die Schutzheiligen der Kirche, Petrus und Paulus, gleich links und rechts. Sie sind, um sie hervorzuheben, etwas höher als die andern. Auf der Petrusseite, links vom Beschauer, schließen sich Andreas — an seinem schrägen Kreuz kenntlich — , Johannes, Jacobus d. j., Bartholomäus und — im Flügel — Matthias an. Auf der Paulusseite rechts Jacobus d. ä. (als Pilger), Thomas, Philippus und Matthäus und — im Flügel — Simon und Judas Thaddäus.


An die Apostel reihen sich die Propheten: links Jesaias, Jeremias, Ezechiel, Daniel und Hosea; rechts Joel, Arnos, Obadja, Jona und, in den zweiten Stock versetzt, Micha. Es scheint, als ob ursprünglich mit zwölf Aposteln gerechnet wurde, denen sich zehn Propheten anschließen sollten. Da es (mit Paulus) dreizehn Apostel geworden waren, musste dann ein Prophet in die obere Reihe.

Die Heiligen der oberen Reihe sind so verteilt, dass zunächst an jeder Seite vom Kreuz sechs weibliche Heilige stehen, von denen schon jederseits eine auf den Flügel kommt. Ihnen schließen sich die männlichen Heiligen in geschlossener Folge an; nur dass links am Ende ganz allein die h. Ursula steht. Ist es schon auffallend, dass die Reihe der männlichen Heiligen hier abgebrochen wird, so erscheint die Gestalt der heiligen Ursula in Proportionen — der kleine Kopf — , in der abweichenden Gewandung und Bewegung, als ob sie nicht ursprünglich dazu gehört habe. Jedenfalls stammt sie von einer Hand, die sonst am Altar nicht mitgearbeitet hat.

Die Namen der Heiligen sind links vom Kreuz: Christina, Cäcilia, Agnes, Agathe, Apollonia, die heiligen drei Könige Melchior, Balthasar, Caspar, der heilige Gereon und die heilige Ursula. Rechts: Dorothea, Margaretha, Catharina, Barbara, Gertrud und Elisabeth. Sodann die Heiligen Michael, Stephanus, Erasmus, Laurentius und der Prophet Micha.

Der heilige Gereon ist ein jugendlicher Ritter, der im Gefolge der heiligen Ursula auftritt. Wenn die Ursula als spätere Einschiebung für eine verloren gegangene männliche Figur aufgefasst wird, könnte für Gereon ein anderer Name vorgeschlagen werden. Den vorhergehenden drei Königen würden sich Gereon und Ursula übrigens sehr gut anschließen. — Schlie in seiner Beschreibung des Grabower Altars übergeht den Gereon.

Weshalb diese Auswahl und nicht etwa die vierzehn Nothelfer, weshalb die Trennung der Geschlechter, die deutlich markiert und durch die heilige Ursula wieder durchbrochen ist, wird sich kaum feststellen lassen. Wahrscheinlich lag eine Weisung des Auftraggebers vor, der Künstler hätte wohl die Abwechselung vorgezogen. Es lässt sich freilich auch ein Grund für das Zusammenhalten der Massen anführen, die Ruhe des Eindrucks.

In der Bekrönung nehmen die fünf törichten und die fünf klugen Jungfrauen die mittlere Hauptlinie ein. Mit dem Oberkörper kommen sie aus kreisförmigen Rahmen heraus, die in Vierecke eingespannt sind und mit Vierecken wechseln, die mit Maßwerk gefüllt sind. Dies ist abwechselnd senkrecht in Fensterform oder diagonal gekreuzt eingefügt. Oben schließt eine kräftige aber schlichte Bekrönung mit vergoldeten Kleeblättern emporstrebend, den Aufbau ab. Das Maßwerk sitzt weiß in den vergoldeten Rahmen. Die ganze Bekrönung ruht auf einem silbernen Fries, in dem vertiefte rote Kreuze abwechselnd zwischen senkrechten grünen Strichen und grünen Kreisen stehen.

Uns hat das Motiv der klugen Jungfrauen, die ihre Lampe emporheben, und der törichten, die sie mit allen Zeichen der Verzweiflung umgekehrt halten, nicht viel zu sagen. Dem mittelalterlichen Christen waren sie das Sinnbild seines Verhältnisses zumWerk und zur Person des Erlösers. Als 1322 zu Eisenach ein Mysterienspiel von den klugen und törichten Jungfrauen aufgeführt wurde, empfing Landgraf Friedrich eine solche Erschütterung, dass er bald nachher vom Schlage getroffen wurde und bis zu seinem Tode stumm und lahm blieb.

253 Aus der Bekrönung (eine der törichten Jungfrauen)

Die Tracht der Gestalten ist entweder die ideale der Überlieferung, die auf antike Grundstoffe zurückgeht, die modische der Mitzeit oder gemischt aus alten und modernen Bestandteilen. Vielleicht kommen auch Elemente mittelalterlicher Judentracht hinzu.

In der nächsten Umgebung Christi herrscht das lange Untergewand mit Ärmeln und der in unendlichen Varianten darüber gezogene Mantel. Die Motive des Mantels sind wohl alle der Wirklichkeit entnommen. Es sind Falten, die sich nicht auf dem nackten Körper bilden können, deren Struktur sich hingegen auf dem bekleideten Körper leicht mittels eines großen Tuches wiederholen lässt. Alles das gleitende, anschmiegende, das die Falten mit den nackten Gliedern zu einer Form verbindet, fehlt. Dafür nehmen die Falten über dem rauhen Untergrund der Kleidung den Charakter des gezerrten, gestauchten, geblähten an. Das Moment der Stilisierung der Falten ist bei Bertram ziemlich gering. Nur ab und an spukt schon leise die Überfüllung der Bündel tutenförmiger Falten vor mit ihren sorgsam geringelten Ausläufen. Bertram ist auch darin Naturalist, namentlich im Vergleich zu der nächstfolgenden Epoche.

Schon Maria trägt unter dem herkömmlichen Mantel die Modetracht. Auf dem Buxtehuder Altar sogar mit dem viereckigen Ausschnitt am Hals und den engen, glockenförmig über die Hände fallenden Ärmeln. Die heiligen Frauen in der obern Reihe des Grabower Altars tragen ausnahmslos ein Kleid, dessenLeibchen und Rock aus einem Stück bestehen. Leibchen und Ärmel sind enganliegend. Der Halsausschnitt ist meist hoch und rund, einmal, bei der überhaupt beinahe koketten heiligen Cäcilie weit und viereckig. Gürtelung über der Hüfte kommt bei der heiligen Elisabeth und der h. Agnes vor. Bei der Elisabeth wirkt die Brechung und Stauchung der Falten an dieser Stelle besonders gut. Über diesem Unterkleid tragen sie den Mantel, der aus einem Stück besteht, in der verschiedensten Form, über einer Schulter, über beiden, unter einen oder beide Arme gezogen, vorn verbunden, vorn hängend und das Gewand einrahmend usw., aber nur einmal am Hals geschlossen. Ganz klar pflegt der Faltenwurf erst zu werden, wenn man die Figur in die Hand nehmen kann.

Auch die Apostel tragen das lange Untergewand mit Ärmeln und darüber den in unendlicher Mannigfaltigkeit der Motive drapierten Mantel. Nur einer trägt einen kurzen Rock, der h. Jacobus, der Pilger. Er ist auch der einzige, der einen Hut auf hat. Alle andern Apostel sind barhäuptig.

Die Apostel haben also eigentlich genau dieselben Kleidungsstücke an wie die heiligen Frauen. Aber Bertram weiß der Drapierung des Mantels und den Falten des Untergewandes bei den Aposteln etwas entschieden männliches und bei den Frauen etwas zartes toilettenmäßiges zu geben, dass man sich erst auf die Gleichheit der Bestandteile besinnen muss. Bei den Frauen lässt er das Untergewand gelegentlich fest anliegen, so dass die Form des Körpers mitspricht.

Bei den Aposteln geht es schon mannigfaltig zu. Einige haben das lange Untergewand und den losen Mantel an, aber sie tragen ihn anders als die Propheten und heiligen Frauen. Obadja und Jona haben ihn über den Kopf gelegt, was nur noch einmal bei einem Apostel vorkommt. Micha hat einen über der Brust geschlossenen Mantel mit Kapuze um den Leib drapiert. Amos trägt ihn auf der rechten Schulter geschlossen, steckt den rechten Arm frei heraus und bewegt den linken unter dem Mantel. Joel hat einen langen Rock mit Ärmeln an, dessen Massen ungegürtet bis auf die Füße reichen, und dessen lange Falten unten durch Aufstoßen gestaucht oder geknickt werden. Daniel trägt einen langen gegürteten Rock mit Ärmeln. Jeremias hat eine Art Kaftan mit langen Ärmeln an, durch deren oberen Schlitz er seine Arme steckt, vielleicht die Kopie eines wirklichen, von Juden damals getragenen Kleidungsstückes. Die männlichen Heiligen sind entweder Ritter, in diesem Falle tragen sie Rüstung, oder Geistliche im Gewand ihres Standes.

So erscheint die auf den ersten Blick so verblüffende Mannigfaltigkeit aus wenigen Grundelementen entwickelt. Hätte der Künstler für jede Gestalt ein besonderes Kostüm zu erdenken sich Mühe gegeben, er würde es vielleicht zur Unruhe, aber nicht zu solchem Reichtum der Erfindung gebracht haben.

257 Maria Magdalena

Es empfiehlt sich, bei der Betrachtung der Skulpturen von einer einzelnen Gestalt auszugehen und zwar von einer weiblichen, denn auch der Maler-Bildhauer offenbart, wie der Dichter, seine innerste Kraft an der Gestaltung des Weibes.

Von allen Frauengestalten am Altar scheint mir die der Maria Magdalena am besten geeignet einen Einblick in die künstlerischen Gaben und Mittel Bertrams zu gewähren.

In der Tracht einer Modedame aus Bertrams Umgebung steht das zierliche Persönchen da, das heißt, eigentlich steht sie nicht, sie schreitet. Ein glattes Salbgefäß in der Linken — sie fasst es vorsichtig, die Hand unter dem Mantel — , hebt sie mit der Rechten die andere Seite des schweren Mantels auf, damit er sie beim Gehen nicht hindert. So schreitet sie vorwärts, den Blick in die Ferne gerichtet auf das Grab des Herrn, das sie im Morgenlicht zu erspähen sucht.

Hier ist dieselbe Kraft in der Bildhauerei an der Arbeit, die auf den Bildern die dramatischen und offenbarenden Züge aus der Tiefe des Wesens geschöpft hat. Sollte es in der kleinen Stadt zur gleichen Zeit in derselben Werkstatt zwei Künstler gegeben haben, die das vermochten? Es gibt heute in ganz Deutschland nicht viele, die es könnten, und es hat ganze Geschlechter gegeben, in denen es nicht ein einziger vermochte.

259 Maria Magdalene

Wenn aus dem reichen Schatz der Skulpturen des Grabower Altars der eigenhändige Anteil Bertrams ausgesondert werden soll, so muss bei Schöpfungen dieses Wertes begonnen werden.

Die Leistung des Künstlers ist jedoch mit diesem sachlichen Motiv nicht erschöpft. Es fragt sich, was er daraus gemacht hat. Denn es wäre nicht eigentlich vorhanden, hätte der Künstler es nicht völlig ausgestaltet.

Er hat herausgeholt, was nur eine glückliche Stunde dem Finder bescheren kann.

Von vorn gesehen gibt die Gestalt dem Auge unendlich viel zu tun, den Rhythmus der Bewegung, das Verhältnis der Massen zu genießen. Das Gesicht ist durch die Flügel der großen modischen Rüschenhaube umrahmt. Bis zur Tiefe des Kinns reichen die großen Wulste. Dann hören sie auf, setzen auf den Schultern mächtig wieder an und ziehen sich um den tiefen Teil des Nackens. Unter den Wülsten auf der Schulter beginnt der Mantel herabzufallen. Über der Brust schließt er nicht, seine Falten rahmen mit ihren durch die Bewegung der Hände gebrochenen Linien das Untergewand ein. Über der linken Schulter liegen die Falten schräge mit drei langen Lichtern und zwei langen Dunkelheiten dazwischen, dann legt sich der Stoff weich über das Gelenk der Hand, die ihn packt, und Fällt nun wieder in schrägen Falten, unten mit den angezogenen Säumen eine trillernde Linie bildend. Auf der andern Seite verdeckt das runde Salbgefäß die Schulter, in zierlichem Gegensatz zur rechten Seite.

261 Maria Magdalene

Von der Hand ahnt man unter dem Mantel die Fingerspitzen am Rand des Gefäßes und erkennt den stützenden Daumen. Dann hängen die Falten in schweren Massen herab, und unten macht der Saum eine starke rückläufige Bewegung und verläuft im Zickzack.

Das Kleid ist vom Hals bis zu den Füßen aus einem Stück, keine Schneiderlinie trennt das Leibchen ab, kein Gürtel unterbricht den Fluß der Formen. Über Brust und Leib sitzt es enge, so dass unter der zarten Brustpartie leichte Querfalten entstehen. Um die Hüften wird der Rock plötzlich weit, und hier setzen deshalb unvermittelt die senkrechten Falten des Rockes ein, der bis auf die Füße reicht und hier aufstößt. Diese Längsfalten, dünn und bestimmt, fast scharf, unterscheiden sich in Bau und Bewegung völlig von denen des Mantels, die glatter und flacher bleiben. Aber der Gegensatz ist keineswegs übertrieben ausgedrückt.

Die Füße stehen wie überall bei Bertrams Statuetten, auf einer Art Postament, das für sich nicht mitspricht, aber wohl berechnet ist. Es hat die Form eines Maulwurfshaufens, so dass die Füße sich beim Auftreten senken. Es ist anzunehmen, dass Bertram damit die bei der Höhe, für die die Figuren bestimmt waren, sehr leicht eintretende Überschneidung der Füße vermeiden wollte. Eine Figur, die offenbar nicht von Bertram selber herrührt, die h. Katharina, steht nicht auf einem Kugelabschnitt, sondern auf einem flachen Körper von der Gestalt einer Oblate.

263 Maria Magdalena

Als das Gesicht der Heiligen von der entstellenden Übermalung befreit wurde, tauchte darunter unberührt im Schmelz der alten Farbe das ganz bildnismäßige Antlitz auf, das in dieser Anlage und Durchbildung vom Meister Bertram, wie er als Darsteller der Frau in den Gemälden bekannt war, niemand erwartet hätte. Es hat nichts von dem allgemeinen Schönheitstypus der Maria und Eva auf Bertrams Bildern. Es ist so durchaus individuell, dass man es für ein Bildnis nehmen muss.

Durch die Haube wird dies Antlitz fest eingerahmt. Aber unter den großen Rüschen wird ein ganz weniges von dem krausen goldenen Haar sichtbar und oben erscheint ein bunter Streif der goldenen Kappe, die unter dem Kinn durch ein buntgoldenes Band zusammengehalten wird. Der Hals ist wieder frei und zeigt eine leise Falte. Er wird durch die zierliche Ausbiegung des weißes Stoffes der Haube seitlich eingeschlossen.

Die Stirn ist breit und nicht übermäßig hoch, dabei von sanfter Wölbung. In zartem Schwunge ziehen sich die Brauen darüber. In den etwas vorstehenden Augen webt es wie ein leichtes Blinzeln. Es rührt von den untern Lidern her, die sich kräftig über den Augapfel schieben. Dem in die Ferne spähenden Blick entsprechen die angezogenen Winkel des Mundes. Er ist von zierlicher Form und sitzt sehr weich. Im Profil wird der Aufbau noch deutlicher. Man sieht, dass die Oberlippe durch den Druck der angezogenen Nasenflügel etwas vorgeschoben wird. Die Nasenflügel sind ziemlich kräftig. Das alles sind Merkzeichen der Bildnismäßigkeit. Man möchte die Züge einer dem Künstler nahestehenden Persönlichkeit vermuten, der Frau oder der Schwester, denn sie kehren unter den Skulpturen auch bei andern Heiligen wieder.

So sieht man die Heilige von vorn, höchstens ein wenig von der Seite, wenn sie in der feierlichen Schar der Männer und Frauen steht, die der Erlösungstat beiwohnen. Anders, wenn sie sich allein von einem Sockel erhebt, so dass man sie umkreisen und in vielen Ansichten beobachten kann.

Dann erst wird dem Gefühl unmittelbar verständlich, dass das Werk eines Bildhauers vor einem steht. Der Maler ist gewohnt, sein Stück Weltbild von einer Seite zu sehen. Der Bildhauer konzipiert rund. Wenn er das Bild eines Menschen schafft, so packt er aus seiner Bildhauernatur heraus unbewußt eine Stellung, eine Bewegung, die von allen Seiten anziehende und fesselnde Anblicke gewährt. Mit einer verstandesmäßigen Überlegung hat diese Schöpferleistung nichts zu tun. DerVerstand allein führt nur zum Akademismus.

Bertrams Maria Magdalena müßte so von allen Seiten gesehen werden. Von links im Profil wirken die Motive am reichsten zusammen. Das Gesicht mit den leise vorgeschobenen Lippen und dem suchenden Blick hat etwas verhalten Bewegtes. Weint sie? — Sehr dekorativ steht die Masse der Kopfrüsche zu der schweren Fülle der Schulterrüsche. Unter dem weißen Kopfputz, der in wenigen großartigen Falten hängt, fühlt sich die Form des Käppchens. Reizvoll kontrastiert die runde glatte Form des Salbgefäßes mit dem Gefältel, das von der Hand herabhängt. Daumen und Zeigefinger scheinen durch den weichen Stoff hindurch, und ihre Form bestimmt den dreieckigen Ansatz der hangenden Falten.

Von der rechten Seite gesehen sprechen außer dem Kopf nur Mantel und Hand. Die tiefhängende Linke (im Gegensatz zu der angezogenen Rechten, die das Gefäß trägt) hat den Mantel ein wenig unter den Ellbogen gezogen und packt ihn von der Unterseite aus. Dadurch hebt sie sich von dem stumpfen Ton des Futters ab, und zwischen den hängenden Falten unter der Hand und dem langen Faltengehänge auf dem Rücken entsteht eine reichbewegte Zone von Dreieckfalten, einer voll ausgebildeten unter dem Ellbogen, einer schlaffern unter ihr, einer ganz verhangenen weiter unten, wo es in ein senkrechtes Gehänge übergeht.

265 Maria Magdalena

Von alldem kommt nichts ans Licht, wenn die Figur an ihrem Platze steht. Der Künstler wusste es, als er sie bildete, so gut wie er wusste, dass niemand den Rücken sehen würde. Aber er hat ihn darum doch nicht vernachlässigt.

268 Figuren in zufälliger Aufstellung
269 Figuren in zufälliger Aufstellung

Drei schwere Falten hängen von der Schulter bis zu den Fersen herab, etwas schräge, denn die Gestalt ist in schreitender Bewegung. Unter den Ellbogen klemmen sich die Falten, dann erscheinen die großen Dreiecke und ihre mehr und mehr verhangenen Nachfolger nach unten. Die beiden Ellbogen in verschiedener Höhe, das kurze Gehänge unter der linken Hand, das lange etwas ausladende Gehänge unter der rechten geben einen ungemein reichen, als Leben fühlbaren Umriss. Wie weit der alte Meister sich über alles, was er hier geleistet hat, mit Worten hätte aussprechen können, können wir nicht sagen. Aber das sehen wir in jedem Zuge, er wusste, was er wollte. Mit Worten können wir es auch heute nicht erschöpfen. Aber es schien mir nötig, bei einer beliebigen Gestalt einmal zu tun, als hätten wir eine lebensgroße Figur für eine ganz freie Aufstellung vor uns.

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Wie weit der künstlerischen Konzeption bei den übrigen Statuetten eine Idee, die aus dem Wesen oder aus dem Schicksal des Dargestellten stammt, bestimmend gewesen ist, lässt sich schwer angeben. Wo wir, wie bei Maria Magdalena oder Paulus, von einer sehr bekannten Legende oder von einer Art Bildnisüberlieferung ausgehen können, verstehen wir ohne weiteres, wie der Künstler zu dem formenden Gedanken gekommen ist. Aber bei vielen der übrigen Gestalten lässt uns dieser Kompass im Stich. Wie weit gab es für die einzelnen Propheten und Apostel eine Überlieferung, die Bertram weiterbilden konnte? Wie mag die Mitarbeit des Auftraggebers zu denken sein? Hat er den Künstler überhaupt beeinflusst bei der Konzeption?

271 Der Prophet Ezechiel

Die Charakteristik könnte bei den meisten Figuren nicht lebhafter ausgefallen sein, wenn der Künstler überall soviel bestimmendes Material gehabt hätte wie bei den eben angeführten Statuetten. Was er geleistet hat, kommt bei der Aufstellung im Altar nicht zu seinem Recht. Erst wenn die Figuren frei stehen, wirkt alles Leben, das sie bewegt.

Heute noch, wenn die Figuren beim Packen und Ordnen an die Erde gestellt wurden, konnte dem Blick, der sie unvermutet traf, die erstaunliche Lebensfülle der Silhouette und des Ausdrucks unheimlich vorkommen. Dabei lässt sich nirgend die geringste Übertreibung verspüren. Es war dem Künstler ganz ernst nicht nur etwas zu machen, sondern etwas auszudrücken. Unser Auge, das so lange gewöhnt war, an Bildhauerwerken etwas in sich Unlebendiges zu sehen, hat sich bei Bertram zunächst umzustimmen und sich zu erinnern, dass die Lebendigkeit, die diese urtümliche, aber auch ursprüngliche Kunst besitzt, unsern Besten wieder ein Ziel geworden ist. Heute steht die Skulptur dem Empfinden nicht nur der Massen sehr fern. Zu Bertrams Zeit war sie volkstümlicher als die Malerei, rascher vorangeschritten und übte die stärkere Wirkung. Ihr war es vorbehalten, bei der Verwandlung der großen Altäre das letzte feierliche Wort zu sprechen.

273 Der Prophet Ezechiel

Es setzt immer wieder in Erstaunen, wie Bertram mit einem so geringen Wissen um die Ponderation des Körpers doch so außerordentliche Glaubwürdigkeit erreicht hat. Ob er Stand- und Spielbein bewusst unterschieden hat, scheint zweifelhaft. Gelegentlich, bei dem Johannes und der Maria der Kreuzigungsgruppe, ist dieses Motiv des Ruhens auf einem Bein deutlich genug ausgesprochen. Aber andere Figuren stehen dann wieder auf ihrem kleinen grünen Hügel, als ob sie einen Berg herab kletterten: das Standbein geknickt, den Fuß des Spielbeins wie tastend in die Tiefe gestreckt.

Der Körper ist meistens unter dem Mantel verkümmert. Nur wo, wie bei den Propheten Jeremias, Daniel und Joel, ein Rock allein das Kleidungsstück bildet, arbeiten sich die Formen klarer heraus. Dies gilt auch von den Frauen, deren Körper übrigens im allgemeinen lebendiger gefühlt ist. — Die altertümliche „geschwungene“ — herausgedrückte — Hüfte kommt noch einige Male vor, bildet aber die Ausnahme.

Das Verhältnis des Kopfes zum Körper ist ungleich. Die zuerst in die Augen fallenden Statuetten mit den viel zu großen Köpfen bilden doch schließlich die Ausnahme. Bei den Frauen sind die Köpfe im Verhältnis meist kleiner als bei den Männern. Die heilige Ursula mit ihrem ganz zierlichen kleinen Köpfchen und die breit hingestellte untersetzte heilige Catharina stehen auch in bezug auf die Verhältnisse allein.

Die Erfindung konnte sich um den Körper erst in zweiter Linie kümmern, ihr eigentliches Gebiet waren Stellung und Bewegung, Kopf und Gewandung.

275 Der Prophet Joel

Bei der Haltung wiederholt sich kein Motiv, obwohl Anlass genug da wäre, denn fast alle Gestalten haben einen leichten Gegenstand zu tragen, ein Buch, das Zeichen des Martyriums oder Opfergaben (die h. drei Könige), und auch der Charakter des Kunstwerks als feierlichster Schmuck des Altars zog den Möglichkeiten der Bewegung feste Schranken. Durch Vergleich der einzelnen Motive wie der Haltung der Hände oder, bei kleineren Gruppen, der Art wie das Buch gehalten wird, erschließt sich die Fülle der Gesichte, über die der alte Meister befiehlt.

Die Farbigkeit der Plastik gab dem Künstler des Mittelalters vieles, worauf unsere heutige Kunst verzichten muss. Meister Bertram hat mit großer Sicherheit Gebrauch davon gemacht. Dieselben zwei Reihen Statuetten in weißem Gips oder in braunem Holz würden nicht einen Bruchteil des Lebens ausdrücken, das diese Gestalten so unmittelbar gegenwärtig macht.

Was die Farbe leistet, lässt sich allein an der Intensität des Blickes der Köpfe ermessen. Bertram hat den Ausdruck geradezu auf die Wirkung des Blickes angelegt. Die alte Farbe der Köpfe ist schon tonig geworden, aber diese Macht des Blickes ist geblieben. Was sagen die Augen der Reihe rechts von der Kreuzigung, die mit Paulus beginnt? Jeder wird alles einzelne um eine Abschattung anders empfinden, aber man versuche einmal, den Blick des Paulus, der auf ein fernes hohes Ziel gerichtet ist mit dem des Wanderers Jacobus, der seinen Weg auf der Erde sucht und dem der folgenden zu vergleichen und sich in Worte zu übersetzen, was sie sagen.

277 Der Apostel Paulus

Vom Blick aus ist das Leben der Köpfe verständlich.

Auch hier erscheint die gestaltende Kraft des Meisters unbegrenzt. Sie beschränkt sich aber nicht auf die Schöpfung immer neuer Typen lediglich formaler Abwandlung, jeder einzelne Kopf ist in sich durchgebildet, als hätte der Meister nur diesen einen Kopf zur Aufgabe gehabt. Wie die Figuren in Reih und Glied stehen, kommt nur ein Teil der Leistung ans Licht.

Um sich in Bertram hineinzufühlen, beginnt man am besten mit einem der männlichen Charakterköpfe, etwa dem Paulus (der ersten Figur rechts vom Kreuz). Der gebrechliche, hochgewachsene alte Mann vermag den Hals nicht mehr aufrecht zu halten. Aber der Kopf ist doch aufgerichtet und der Blick sucht ein Ziel hoch in der Ferne. Von hinten gesehen erweckt allein der Ansatz des Halses an die mageren Greisesschultern die Vorstellung von hohem Alter. Der Schädel ist kahl, hat aber an Schläfen und Nacken noch einen dicken Kranz von dunkeln Locken. Nach hinten ist der Kopf hoch überbaut — ein Zug von tiefer Einsicht des Meisters — und über der Stirn trägt er noch eine einzelne dunkle Locke. Die große energische Nase hat die Falten der Kraft über der Wurzel, die Stirn trägt Furchen, von den äußern Augenwinkeln strahlen die Krähenfüße aus. Im dunkeln, lockigen, zweispitzigen Bart sitzt der Mund frei, so dass die leise herabgezogenen Winkel zu sehen sind. Sehr individuell sind auch die untern Augenlider und die Backenknochen. Der Kopf ist gemalt wie ein Studienkopf. Wer das alles auf sich wirken lässt, muss zu dem Schluss kommen, der Meister hat sich bewusst vorgenommen, die geistige Macht des heiligen Paulus auszudrücken. Er hat nicht einem beliebigen Greisenkopf den Namen des Apostels gegeben. Das Wesentliche würde sogar im Gipsabguss noch vorhanden sein.

Und wie den Paulus hat er alle andern Männergestalten behandelt.

Aber noch auffallender ist, dass er für die weiblichen Heiligen von dem Idealtypus loskommt und Individuen bildet.

Der Gegensatz ihrer ganz wie Bildnisse wirkenden Gesichter zu den Idealtypen auf den Bildern des Grabower und noch des Buxtehuder Altars fällt beim ersten Vergleich auf. Was auf den Gemälden Bertrams nur bei der Charakteristik des Mannes zu finden ist und höchstens — und auch nur innerhalb gewisser Grenzen — noch bei Frauen auftritt, die als alt gekennzeichnet werden sollen, der Stempel der Individualität, erscheint hier in der bildnerischen Darstellung einer jungen Frau.

Ein solcher weiblicher Idealtypus kommt bei den Statuetten des Grabower Altars überhaupt nicht vor, ausgenommen die Züge der Maria, eine sehr auffallende Erscheinung im Hinblick auf die Gemälde des Meisters, auf denen fast alle Frauen dasselbe Gesicht haben. Dagegen lässt sich leicht feststellen, dass, wenn auch der Ausdruck wechselt, die bestimmenden Züge aller weiblichen Heiligen der Skulpturen genau dieselben sind, die Nase mit starken und etwas angezogenen Nasenflügeln, die etwas vortretende aber kurze Oberlippe des zierlichen Mundes, die ein wenig vorstehenden Augen mit den starken untern Lidern.

Dies lässt sich nur verstehen, wenn angenommen wird, dass Bertram der Bildhauer von überlieferten Typen noch freier war als der Maler Bertram, und dass in seinerPhantasie das individuelleBildnis einer jungen Frau unauslöschlich und — während er am Grabower Altar arbeitete — unverdrängbar lebte. Er konnte es mit leisen Abweichungen und wechselndem Ausdruck, ohne Natur anzusehen, wiederholen. Wer diesen Eindruck auf Bertrams Phantasie hervorgebracht hat, lässt sich nur vermuten.

Ein Bildnis in dem Sinne, dass der Meister unmittelbare Naturstudien gemacht hätte, liegt auch hier wohl kaum vor.

281 Der Apostel Paulus
282 St. Petrus
283 Der Apostel Matthäus
284 Der Apostel Matthäus
285 Der Prophet Jeremias
286 Predella – Der heilige Bernhard
287 Der Apostel Petrus
288 Der Apostel Andreas
289 Der Apostel Jacobus D. J.
290 Der Apostel Jacobus D. Ä.
291 Der Apostel Thomas
292 Der Apostel Philippus
293 Der Apostel Matthäus
294 Der Apostel Simon
295 Der Apostel Judas Thaddäus
296 Der Prophet Jesaias
297 Der Prophet Jeremias
298 Der Prophet Ezechiel
299 Der Prophet Ezechiel
300 Der Prophet Daniel
301 Der Prophet Joel
302 Der Prophet Amos
303 Der Prophet Obadja
304 Der Prophet Obadja
305 Die heilige Christine
306 Die heilige Christine
307 Die heilige Christine
308 Die heilige Cäcilie
309 Die heilige Cäcilie
310 Die heilige Cäcilie
311 Die heilige Agnes
312 Die heilige Dorothea
313 Die heilige Elisabeth
314 Die heilige Elisabeth
315 König Balthasar
316 König Caspar
317 König Melchior
318 König Melchior


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Meister Bertram tätig in Hamburg 1367-1415
Aus der Bekrönung (Eine der törichten Jungfrauen)

Aus der Bekrönung (Eine der törichten Jungfrauen)

257 Maria Magdalena

257 Maria Magdalena

259 Maria Magdalena

259 Maria Magdalena

261 Maria Magdalena

261 Maria Magdalena

263 Maria Magdalena

263 Maria Magdalena

265 Maria Magdalena

265 Maria Magdalena

268 Figuren in zufälliger Aufstellung

268 Figuren in zufälliger Aufstellung

269 Figuren in zufälliger Aufstellung

269 Figuren in zufälliger Aufstellung

271 Der Prophet Ezechiel

271 Der Prophet Ezechiel

273 Prophet Ezechiel

273 Prophet Ezechiel

275 Der Prophet Joel

275 Der Prophet Joel

277 Der Apostel Paulus

277 Der Apostel Paulus

281 Apostel Paulus

281 Apostel Paulus

282 ST. Peter

282 ST. Peter

283 Apostel Matthäus

283 Apostel Matthäus

284 Der Apostel Matthäus

284 Der Apostel Matthäus

285 Der Prophet Jeremias

285 Der Prophet Jeremias

286 Predella—Der H. Bernhard

286 Predella—Der H. Bernhard

287 Der Apostel Petrus

287 Der Apostel Petrus

288 Der Apostel Andreas

288 Der Apostel Andreas

289 Der Apostel Jacobus d. Jüngere

289 Der Apostel Jacobus d. Jüngere

290 Der Apostel Jacobus d. Ältere

290 Der Apostel Jacobus d. Ältere

291 Der Apostel Thomas

291 Der Apostel Thomas

292 Der Apostel Philippus

292 Der Apostel Philippus

293 Der Apostel Matthäus

293 Der Apostel Matthäus

294 Der Apostel Simon

294 Der Apostel Simon

295 Der Apostel Judas Thaddäus

295 Der Apostel Judas Thaddäus

296 Der Prophet Jesaias

296 Der Prophet Jesaias

297 Der Prophet Jeremias

297 Der Prophet Jeremias

298 Der Prophet Ezechiel

298 Der Prophet Ezechiel

299 Der Prophet Ezechiel

299 Der Prophet Ezechiel

300 Der Prophet Daniel

300 Der Prophet Daniel

301 Der Prophet Joel

301 Der Prophet Joel

302 Der Prophet Amos

302 Der Prophet Amos

303 Der Prophet Obadja

303 Der Prophet Obadja

304 Der Prophet Obadja

304 Der Prophet Obadja

305 Die H. Christine

305 Die H. Christine

306 Die H. Christine

306 Die H. Christine

307 Die H. Christine

307 Die H. Christine

308 Die H. Cäcilie

308 Die H. Cäcilie

309 Die H. Cäcilie

309 Die H. Cäcilie

310 Die H. Cäcilie

310 Die H. Cäcilie

311 Die H. Agnes

311 Die H. Agnes

312 Die H. Dorothea

312 Die H. Dorothea

313 Die H. Elisabeth

313 Die H. Elisabeth

314 Die H. Elisabeth

314 Die H. Elisabeth

315 König Balthasar

315 König Balthasar

316 König Caspar

316 König Caspar

317 König Melchior

317 König Melchior

318 König Melchior

318 König Melchior

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