Tierleben

Bei einem Niedersachsen hat die Beschäftigung mit dem Tiere und dem Tierleben nichts auffallendes. Das ist ein Rassenzug, der sich vielleicht aus dem uralten Zusammenleben von Mensch und Tier als Hausgenossen unter einem Dach erklärt und bis auf unsere Tage immer wieder hervorbricht.

Aber bei Bertram ist die Liebe zum Tier noch etwas anderes als ein Rassengut, sie ist in seinem eigensten Wesen begründet und äußert sich überall in ganz persönlichen Zügen. Keiner von den uns bekannten Malern seiner und der nächstfolgenden Zeit geht in der Tierdarstellung so weit wie er. Dies muss schon früh und sogar störend aufgefallen sein. Bei der Geburt Christi auf dem Buxtehuder Altar hatte er sich nicht mit der üblichen Einführung von Ochs und Esel begnügt. Am Fuß des Zaungeflechts, das das Bett des Christkindes bildet, beschäftigt sich ein gefräßiges Schwein, und in den Sparren des Strohdaches über dem Haupt der Maria schleicht eine Katze. Einem spätem Geschlecht müssen diese Tiere als ungehörig und störend erschienen sein, denn obwohl der Altar nur auf alten Rissen restauriert war und sonst nirgend Spuren von Übermalung aufwies, ließen sich an diesen Stellen Übermalungen erkennen, und bei ihrer Entfernung tauchten die Tierbilder auf.


Vier Szenen auf den erhaltenen Altären kamen Bertrams Vorliebe entgegen, die Schöpfung der Tiere, Joachim bei den Hirten, die Geburt Christi und die Verkündigung an die Hirten. Es erscheint nicht unmöglich, dass er die Hirtenszene besonders darstellte, nur um seiner Neigung zur Tierwelt freien Lauf zu lassen. Zu seiner Zeit würde man sonst viel eher erwarten, dass er, wie noch sein Nachfolger Francke, die Verkündigung an die Hirten als Hintergrundsepisode auf der Geburt Christi abgemacht hätte.

Bei der Schöpfung der Tiere gibt Bertram eine Übersicht über die ganze Tierwelt. Zur Linken baut sich ein Abhang auf, der von oben bis unten mit den typischen Säugetieren — Haustieren und ihren Feinden — bedeckt ist, und über dem Eule und Fledermaus fliegen, zurRechtenschweben die ihm wichtigsten Vögel und — unten — die Fische auf dem Goldgrund. An der Erde darunter kriechen Taschenkrebs und Hummer. Aber Bertram zählt nicht nur auf, er charakterisiert. Das weiße Kaninchen säugt sein Junges, der Wolf fährt dem Lamm an die Gurgel, dass das Blut aufspritzt, der Bär fällt das Pferd an. Sie durften es noch, denn das Paradies, wo sie zahm nebeneinander lebten, war noch nicht geschaffen.

Die Fische sind auffallend gut beobachtet. Zu oberst schwimmt der Kaulbars mit der großen ungeteilten Rückenflosse. Es ist nicht vergessen, dass seine Bauchflossen rot sind. Halbverdeckt durch den Stör ist der Zander doch noch genügend gekennzeichnet, dass er sich als solcher durch den Raubfischrachen und die Flossenstellung bestimmen lässt. Den Stör wird jedes Kind erkennen, die ungleichen Schwanzflossen, die Panzerplatten am Rücken entlang, Schnauze und Maul, alles sitzt richtig, und auch die graubraune Schlammfarbe ist getroffen. Der Hecht unten hat eine etwas lang geratene Schnauze, ist aber sonst durch Umriss und Flossen unverkennbar. Es muss dem Künstler gut geschrieben werden, dass er hier so genau zusah, wo nur er selber und vielleicht die Amtsfischer damals Kontrolle üben konnten.

Vom Standpunkt der Tiermalerei müssen auch die Teufel auf dem ersten Schöpfungstag beurteilt werden. DerRote, der sich, vom Erdball halbverdeckt, umsieht, hat etwas packend Affenartiges in der Bewegung.

Das eigentliche Tierbild tritt erst im Marienleben auf.

Wir dürfen es wohl aussprechen, dass der Hügel mit der Schafherde neben dem heiligen Joachim das älteste wirkliche Tierbild in der deutschen Tafelmalerei ist. Die Herde bedeckt den Abhang, im Halbdunkel des Waldes, der ihn krönt, lauert der Fuchs — unter dem Schmutz der Jahrhunderte erschien er zuerst als Wolf — auf die jungen Lämmer, hinter einer Felsspalte taucht der graue Kopf des Wolfes auf. Junge Böcke stoßen sich, Schafe grasen aneinandergedrängt, ruhen und käuen wieder. Das Innigste an scharfer Beobachtung gibt Bertram in dem saugenden Lamm, das unter der Mutter kniet, zuckend gegen das Euter stößt und mit dem Schwänzchen schlägt.

Bei der Verkündigung an die Hirten benutzt der Hund den Augenblick, wo seine Herren beschäftigt sind, um aus dem Sack mit den Vorräten zu mausen.

Der Bock, der am Baum emporstrebt, gehört als Überlieferung aus der Antike zum uralten Inventar der Miniaturmalerei. Aber Bertram hat ihn mit gewaltigen Hörnern wie einen Steinbock gebildet.

Die rammsnasige Ziege im Vordergrund, mag Bertram sie in Italien gesehen haben oder mag sie ihm als eingeführtes Jahrmarktswunder in der Heimat begegnet sein, zeugt wieder von der Aufmerksamkeit, mit der er das Tierleben verfolgt.

Bei keinem Künstler neben oder vor ihm und bei keinem der nächstfolgenden Generation tritt eine solche Fülle von Tierdarstellungen und von scharf beobachteten Charakterzügen aus dem Tierlebcn auf. Bertram ist darin seiner Zeit und auch noch dem nächsten Geschlecht voraus. Francke, sein Nachfolger in Hamburg, hat in der Herde auf der Verkündigung an die Hirten nicht einen verwandten Zug, und er bildet die Kreuzigung ohne Reiter, während der Tempziner Altar es wahrscheinlich macht, dass die Kreuzigung bei Bertram Reiter aufwies.

Ist nun aber ein Künstler auf einem einzelnen Gebiet als Erfinder und Neuerer so selbständig und so durchaus hervorragend, so wird dadurch die Wahrscheinlichkeit gestärkt, dass er auch sonst, wenn er Gedantven ausdrückt, die vor ihm noch nicht nachgewiesen werden können, unabhängig vorgeht.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Meister Bertram tätig in Hamburg 1367-1415