Einzelformen

Es genügt nicht, die Gesichtstypen und Körper als Ganzes zu beobachten. Wer tiefer in Bertrams Kunst eindringen will, muss auch die Einzelformen des Gesichts und des Körpers untersuchen. Im Vergleich mit dem westfälischen Altar von 1430 wird er überall die Wendung auf eine unmittelbare Anschauung der Natur entdecken.

Bei der Darstellung des Auges hat sich Bertram wie seine ganze Generation freigemacht von der bis dahin herrschenden schematischen Verwendung schwarzer Augenpunkte, die, in die Augenwinkel gestellt, ein nicht vorhandenes Leben vortäuschen. Der kleine westfälische Altar der Kunsthalle bietet auch hierin den einführenden Vergleich.


Bei Bertram sind die Augen in der Regel braun, bei Frauen auch grau oder blau. Von seinen Zeitgenossen unterscheidet ihn, dass er sehr viel Weiß zeigt, besonders ausgeprägt freilich erst auf dem Buxtehuder Altar. Auf dem Grabower Altar fällt es noch nicht auf. Sollten ihm italienische Augen im Gedächtnis geblieben sein? Zwischen den beiden Altären liegt Bertrams Romfahrt. Auch die vielen dunkeln Typen des Buxtehuder Altars könnten derselben Quelle entstammen.

Die Umgebung des Auges wird scharf beobachtet und bei Männern sehr weitgehend individualisiert. Beim heiligen Simeon des Grabower Altars (Darstellung im Tempel) gibt Bertram die stark gewölbten Augendeckel des semitischen Typus wieder.

Die Bildung der Nase wird am besten an den Skulpturen beobachtet. Die Verschiedenheit ist sehr groß. Es genügt jedoch, die der Propheten Ezechiel und Joel (Abbildung im II. Teil) genau zu betrachten, um Bertrams Naturgefühl zu ermessen. Bei Ezechiel hat die mächtige Hakennase sich wie unter einem Druck abgeflacht, sodass die Nasenflügel sich breit an die Wange legen. Joels Nase beginnt mit einer scharfen geraden Ausladung und schlägt dann unvermutet einen kräftigen Haken. Beide sind zugleich sehr typisch und sehr individuell.

Bei Frauen und jungen Leuten kommt Bertram mit einem typischen kleinen Munde aus, der sich fast auf die Angabe der sinnlich vollen Mittelpartie der Lippen beschränkt. Wie das übrige Gesicht individualisiert Bertram bei den Männern auch den Mund. Meist freilich deckt ihn der Bart, doch vermag er nicht den Ausdruck zu zerstören. Besonders zart erscheint mir in dieser Beziehung das Untergesicht des alten Isaak, wie er mit Esau spricht. Beim Simeon der Darstellung auf dem Grabower Altar lässt der weiße Bart die feine semitische Anlage des Mundes durchscheinen, die in der breiten Form der Öffnung, in der Art, wie die Zähne sichtbar werden und in der Zeichnung der Lippen mit den deutlich angegebenen Kerbungen der Wülste, ohne Übertreibung auf das schärfste gekennzeichnet ist. Ebenso lässt er beim Christusknaben unter den Schriftgelehrten den cholerischenMund des Mannes, der die Bibel an die Erde wirft, zur Geltung kommen. Sehr individuell ist der kleine vierkantige Mund des Soldaten, derauf dem bethlehemitischen Kindermord des Grabower Altars aufgeregt mit Herodes spricht.

Bei den Skulpturen lassen fast nur die Frauen den Mund sehen. Es ist schon bemerkt worden, dass Bertram die Frauen in der Skulptur weit mehr individualisiert als auf den Gemälden. Das gilt auch von der Art, wie er den Mund einbettet.

Nur auf der Predella des Grabower Altars haben die glatt rasierten Mönchsköpfe einen freiliegenden Mund. Sie sind auffallend gut gefühlt. Beim Origenes quillt die lange Oberlippe an den Winkeln ein wenig über die schmal verlaufendeUnterlippe. Dieser Typus kommt noch mehrfach vor. Am feinsten aber ist vielleicht der Mund des heiligen Bernhard gefühlt, der Mund des Redners mit eingezogenen Winkeln, die die Muskulatur dahinter fest heraustreiben.

Entsprechend der Mode, langes, wallendes Haar zu tragen, das bei beiden Geschlechtern die Ohren völlig verdeckt, kommt Bertram nur sehr selten in die Lage, das Ohr zu bilden. Auf dem Grabower Altar fällt der Noah auf, unter dessen kurzem Haar ein Ohr sichtbar wird. Es ist ohne besondere Absicht auf Bildnismäßigkeit gezeichnet. Auf dem Buxtehuder Altar tragen der Diener auf der Hochzeit zu Kana und der alte Hirt der Verkündigung die Ohren frei. Häufiger werden sie beim Christkind und bei den Kindern auf dem bethlehemitischen Kindermord sichtbar.

Die einzigen Ohren, die auf den Skulpturen vorkommen, sind sehr viel besser individualisiert. Das des Propheten Hosea in der Bekrönung schmiegt sich vorzüglich dem langen Kopfe an, das des h. Bernhard (in der Predella) ist so individuell wie dieser Kopf überhaupt. Der Umschlag ist in der oberen Ecke sehr stark, fehlt am äußeren Rande ganz. Der Ohrzapfen ist sehr klein.

Die ohne Ausnahme blonden Frauen Bertrams tragen das wellige Haar, soweit die Haube es nicht verdeckt, meistens aufgelöst. Seltener kommt es in Flechten vor. Bei einer Neigung des Kopfes pflegen sich Strähnen an der Schläfe zu lösen. Das gibt bei den Bildern wie bei den Skulpturen, der heiligen Cäcilie beispielsweise, sehr lebhafte Wirkungen. Bei den Männern ist die Mannigfaltigkeit sehr groß. Bertram beobachtet nicht nur die Farbe der Haare und passt sie dem Fleischton an, er sieht auch auf ihre Struktur. Die blonden haben langes weiches oder, wie die Engel, lockiges, die dunklen seidiges, welliges, flockiges, strähniges, beiden Jüngern meist gelocktes Haar. Bertram hat auch beobachtet, dass das derbe Haar gelegentlich einzelne steife Grannen hat. Was Bertram schon sieht und ausdrückt, erkennt man am besten durch die genaue Untersuchung einzelner Typen, z.B. des heiligen Simeon von der Darstellung im Tempel des Grabower Altars. Hier gibt sich der alte Meister sichtlich Mühe, die gekräuselte, fast wollige Struktur des weißen Haares auszudrücken, die den semitischen Zügen entspricht. Auch die scharfen Linien, die die Pflanzung des Haars auf der Wange des semitischen Typus beschreiben, sind ihm nicht entgangen (Prophet Ezechiel).

Das alles gehört zu den neuen Eroberungen, durch die sich Bertrams Geschlecht von dem vorhergehenden abhebt, die für den Ausdruck des Haares nur wenige festgelegte und stets wieder angewandte Mittel besaß.

Wie bei Francke sind die Hände von sehr verschiedenem Wert. Aber aus anderer Ursache und in anderer Form.

Bei Francke scheint es an der mehr oder weniger eigenhändigen Arbeit zu liegen, wenn, wie auf der Gruppe unter dem Kreuz, die Hände mit überraschendem Gefühl für den Organismus durchgebildet, und auf andern Bildern wohl in der Bewegung gut, aber in der Form oberflächlich wirken.

Bertram hat oft auf demselben Bilde sehr konventionelle Hände neben überraschend gut gefühlten. Es sieht aus, als hätte er für zeigende und segnende Hände das überlieferte Schema nicht verlassen, das er auswendig wußte, während er bei seinen selbsterfundenen Motiven, namentlich wo die innere Handfläche sichtbar wird, sich die Natur angesehen. Dieselbe Verschiedenheit lässt sich bei den Skulpturen beobachten. Hier hat der Prophet Obadja eine überaus energisch durchgebildete Hand, während daneben sehr ungefühlte vorkommen. Aber zum Unterschied gegen Bertrams Malerei, die wir als von einer Hand empfinden, haben wir bei der Skulptur vielleicht drei verschiedene Mitarbeiter von Bertrams eigenem Werk zu unterscheiden.

Es lässt sich als Regel aufstellen, dass Bertram bei Händen, die von oben gesehen werden, eine Gliederung der Finger noch nicht angibt, dagegen die Finger und die Handfläche deutlich gliedert, sowie er die Innenseite darzustellen hat.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Meister Bertram tätig in Hamburg 1367-1415