Luthers Universitätsleben. 1501 — 1505.

Als Luther am 17. Juli 1501 seine „Wirtin zu Eisenach“ verließ, begab er sich vermutlich zuerst nach Mansfeld, um die Seinigen wiederzusehen und sich mit ihnen über seine weitere Laufbahn zu beraten. Sein Vater war dem geistlichen Stande abhold und sagte, er wolle keineswegs, dass sein Sohn „Bischoff, Pfaff, Mönch“ werde, „versorgt in fremden Gütern wohllebte und gute Tage hätte, statt sich durch eigne Mühe zu ernähren,“ er hoffte, der vielversprechende Sohn werde ihm einmal in weltlichen Ämtern und Würden Ehre machen, und dachte schon daran, ihn reich und in Ehren verheiratet zu sehen. Deshalb riet er zum Studium der Rechte und sorgte, da sich seine häusliche Lage wahrscheinlich verbessert hatte, für den Unterhalt des Sohnes auf der Universität. Luther bezeugt wenigstens später: „Er hielt mich mit aller Liebe und Treue in der hohen Schule zu Erfurt, und durch seinen sauren Schweiß und Arbeit hat er dahin geholfen, da ich hingekommen bin.“ Genau ist die Zeit nicht angegeben, wann er in Erfurt eintraf, doch wurde er zuverlässig noch in dem Jahre 1501 unter dem Rektorate des M. Jodocus Trautvetter bei der philosophischen Fakultät eingeschrieben. Einen philosophischen Cursus musste jeder Studierende zuerst durchmachen.

Er blieb hier sieben Jahre, bis 1505 als akademischer Schüler, und bis 1508 als Mönch des dortigen Augustinerklosters. Erfurt war damals eine blühende Handelsstadt, die wohl viermal so viel Einwohner zählte, als sie jetzt hat. Große Strecken, die jetzt Gärten und Plätze sind, sollen mit Straßen und Häusern bedeckt gewesen sein. Die Stadt besaß große Rechte und Freiheiten, so dass sie sich fast einer Reichsstadt gleich hielt, doch stand sie unter dem Erzbischofe von Mainz, der in ihr die peinliche Gerichtsbarkeit, das Münzrecht, die Handels-, die Straßen- und Baupolizei übte. Sie war sehr reich an Kirchen, Klöstern, Kapellen, geistlichen Brüderschaften und Stiftungen, so dass die Einwohner bei jedem Schritte an die Herrschaft der Kirche erinnert wurden und Luther davon sagen konnte: „es hieß da wahrlich Mönche geregnet und geschneit.“ Dazu kam, dass die Hochschule, die schon 1389 und zwar von der Bürgerschaft daselbst begründet worden war, eine große Menge von Gelehrten heranzog, die auch zum größten Teile dem geistlichen Stande angehörten. Obgleich sich unter den letzteren einige Humanisten und fast helldenkende Männer befanden, die dem hierarchischen System und der bornierten, hochmütigen und eigensüchtigen Mönchsrichtung feindlich gesinnt waren, so blieben dieselben doch ohne Einfluss auf die größere Masse und wirkten mehr nur auf ihre Freunde und einzelne Anhänger. „Einer meiner Lehrer, Grevenstein, raunte mir ins Ohr,“ sagt Luther, „die Tyrannen, die das Kostnitzer Concil beherrscht, hätten Huß tumultuarisch, widerrechtlich und unüberführt zum Tode verurteilt.“ Im Ganzen blieb er außer Berührung mit jener Partei und gab sich der strengen kirchlichen Richtung sogar in höherem Maße wieder hin, als es in Eisenach der Fall gewesen zu sein scheint. Es war dies auch ein großes Glück sowohl für ihn als für uns; denn ohne diese unbedingte Hingabe an das Herrschende Kirchentum würde er die Befähigung, als Reformator aufzutreten, nicht erlangt haben. Er würde, wie alle Humanisten, im glücklichsten Falle einen erfolgreichen kleinen Krieg gegen die Unwissenheit der Mönche und Geistlichen und gegen die Missbrauche in der Kirche geführt haben; aber zu dem weltüberwindenden Glauben, durch den er die Menschheit aus dem Mittelalter in eine neue, hellere Zeit herübergeführt hat, wäre er nicht gelangt. Außerdem aber widerstrebte auch seine echt deutsche Natur einer Richtung, an der sich nicht der ganze Mensch mit Seele, Gemüt und Geist, sondern nur ein scharfsinniger, von umfassenden Kenntnissen unterstützter Verstand betätigen konnte.


Er lebte in einem sogenannten Collegium, doch ohne ein Stipendium zu beziehen und hatte hier, oder später in der Klosterzelle, Lorenz Suße, der nachher erster evangelischer Prediger zu Nordhausen war, zum Stubengenossen. Sein Fleiß und Eifer wird gerühmt. Er las hier zuerst die lateinischen Klassiker Cicero, Virgil und Livius, und zwar nicht, wie Melanchthon sagt, wie Knaben lesen, sondern um Lebensanschauungen daraus zu gewinnen. Auch mit den Scholastikern beschäftigte er sich, vorzüglich aber mit dem genialsten und einflussreichsten Kirchenvater, Augustin, dessen Einwirkung auf seine Denkweise sich später vielfach bekundet. Die Vorlesungen hörte er pünktlich, und auch mit seinen Lehrern verkehrte er fleißig, um seine Ansichten zu berichtigen und seine Kenntnisse zu vermehren, besonders mit Trautvetter, den er noch 1518 in einem Briefe seinen ehrwürdigen Lehrer und besten Vater nennt. Luther stand früh auf und begann sein Tagewerk mit Gebet und Kirchenbesuch, weil „fleißig gebetet halb studiert sei“. Mit seinen Stubengenossen repetierte und disputierte er häufig. Um sich hierin zu vervollkommnen, trieb er auch die Lektüre des Terenz und Plautus, von denen er den letzteren besonders liebte. Die nominalistischen Scholastiker bildeten die vorgeschriebene Lektüre. Dass er sich mit gymnastischen Leibesübungen beschäftigt habe, wird nicht ausdrücklich gesagt, aber man darf es voraussetzen, teils weil es zur Sitte der Zeit gehörte, teils weil er in späteren Jahren häufig derselben in lobendem Sinne gedenkt. Er ging, wie alle Studenten, bewaffnet, war ein guter Reiter, und Wehr und Harnisch standen ihm gut an, als er sich später unter dem Namen eines Junker Georg auf der Wartburg aufhielt. Dem Vergnügen der Jagd war er nicht fremd. Stets pries er es, dass die Griechen so viel auf Gymnastik gehalten, und Alles empfahl er, was wehrhaft und mannhaft mache. Am Meisten gefielen ihm „die zwo Übungen und Kurzweile, nämlich die Musica und Ritterspiel mit Fechten, Ringen und was weiter dahin gehört.“ Wie die erstere die Sorge des Herzens und melancholische Gedanken vertriebe, mache das andere „feine geschickte Gliedmaßen am Leibe und erhalte ihn bei Gesundheit.“

Nach zwei Jahren seiner Studienzeit, 1503, wurde er Baccalaureus, d. h. er erlangte die unterste akademische Würde, wobei er nach den Statuten schwören musste, nichts wider den Ausspruch der heiligen Mutterkirche und approbierter Lehrer zu lehren und dem Decane so rasch als möglich Anzeige zu machen, wenn er wüsste oder hörte, dass ein der Fakultät Inkorporierter Ketzerei sähe und lehre, oder Irrtum oder sonst Etwas, das wider die Entscheidung der Kirche wäre. Als er hiernach eine Fußreise, vermutlich zu den Seinigen nach Mansfeld, unternahm, begegnete es ihm, da er eine Stunde von Erfurt entfernt war, dass er mit dem Fuße an seinen Degen stieß und das Messer, welches oben an der Scheide angebracht war, herausschoss und ihn an der Hauptader des Fußes stark verletzte. Das Blut war nicht zu stillen, das Bein schwoll an und ein Arzt war nicht sogleich zu haben. In der Todesangst rief er: „Maria, hilf!“ Ein herbeigerufener Wundarzt verband ihn nun zwar, doch in der Nacht brach die Ader wieder auf, und er rief abermals zur Jungfrau. „Da wäre ich,“ sagte er später, „auf Maria dahingestorben.“ In demselben Jahre erkrankte er auch wieder am Fieber und fürchtete, dass seine letzte Stunde gekommen sei. Ein alter Priester sprach ihm Mut und Seelenruhe ein und sagte: „Seid getrost, mein Baccalaurer, Ihr werdet dieses Lagers nicht sterben, unser Gott wird noch einen großen Mann aus Euch machen, der viele Leute wieder trösten wird; denn wen Gott lieb hat und daraus etwas Seligs ziehen will, dem legt er zeitig das heilige Kreuz auf, in welcher Kreuzschul' die Geduldigen viel lernen.“

Aus dem Jahre 1503 ist noch ein Vorfall bekannt, der zwar nicht unmittelbar eine Epoche für ihn wurde, der aber doch für sein späteres Leben entscheidend wirkte. Er befand sich auf der Universitäts-Bibliothek und suchte nach lesenswerten Büchern, als ihm die Vulgata, die lateinische Übersetzung der heiligen Schrift, in die Hände fiel. Er hatte dieses Buch nie gesehen, auch nicht einmal davon gehört; denn er glaubte, dass die evangelischen und epistolischen Perikopen oder Abschnitte, welche den sonn- und festtäglichen Predigten zu Grunde gelegt werden, die ganze Bibel ausmachten. Diese selbst war nicht nur den Priestern, sondern den meisten Universitätslehrern unbekannt, und es gab viele Professoren der Theologie, die sie nie in der Hand gehabt oder wenigstens nie gelesen hatten. Sie galt für verderblich, ja für ketzerisch. Den Laien war sie durchaus verboten, die Priester durften sie lesen, doch nur in lateinischer Sprache, aber sie taten es eben auch nicht. Die Satzungen der Kirche waren Norm des Glaubens, und da dieselben aus einer ganz andern Richtung des Geistes hervorgegangen waren, so konnte nach der Meinung der Kirche das unmittelbare Bibelwort nur sinnverwirrend und daher schädlich wirken.

Mathesius, einer der treuesten Schüler Luthers, der persönlich häufig mit ihm verkehrte, berichtet über diesen Fund in folgender Weise: „Zu einer Zeit, da er die Bücher genau nach einander besieht, um die guten kennen zu lernen, stößt er auf eine lateinische Bibel, die er zuvor die Zeit seines Lebens nie gesehen. Da bemerkt er mit großer Verwunderung, dass viel mehr Text, Episteln und Evangelien d’rin wären, als man in gemeinen Postillen und in den Kirchen auf den Kanzeln pflegt auszulegen. Wie er im alten Testamente sich umsieht, kommt er über Samuels und seiner Mutter Anna Historien (1. Samuelis Cap. 2 und 3). Die durchliest er eilend und mit herzlicher Lust und Freude. Und weil ihm dies Alles neu ist, fängt er an, von Grund seines Herzens zu wünschen: unser getreuer Gott wolle ihm dermaleinst auch ein solch Buch zu eigen bescheeren; wie ihm denn dieser Wunsch und Seufzer reichlich ist wahr geworden.“ Goethe sagt: „Was der Mensch in seiner Jugend lebhaft wünscht, das hat er im Alter in Fülle,“ d. h. was der Mensch vermöge seiner Natur in seiner Jugend lebhaft zu wünschen getrieben wird, und zu dessen Verwirklichung er also während seines Lebens alle Kräfte aufbietet, das wird ihm im Alter dem Wesen nach reichlich zu Teil werden, wenn auch vielleicht in anderer Form und in anderm Zusammenhange, als er es sich ursprünglich gedacht hatte.

Zunächst war das „Ketzerbuch“, in dem so viel verborgenes Gift liegen sollte, in Widerspruch mit seiner streng kirchlichen Richtung, und es blieb daher ohne allen Einfluss auf ihn; aber später war es ausschließlich die heilige Schrift, die sein ganzes Sein und Denken beherrschte und von deren ewigen Wahrheiten begeistert er das Papsttum stürzte und die Kirche Christi neu auferbaute. Er besaß dann auch nicht bloß ein Exemplar derselben, sondern er schuf sie auch in deutschem Sinne und deutschem Geiste für sein ganzes Volk aufs Neue und begründete damit eine Gottesanschauung, welche mit seiner eigenen in Erfurt und der des römischen Kirchentums in offnem Widerspruche stand. Das Bibelwort wurde der Angelpunkt, um den sich seine neue, aber in Wahrheit uralte Lehre bewegte. Er sagte daher in späterer Zeit von seinen früheren Lehrern: „Ihr Bestes war, dass sie die heilige Schrift verachten und unter der Bank liegen ließen. Was Biblia, Biblia! sprachen sie, Biblia ist ein Ketzerbuch, man muss die Doctores lesen, da findet man es.“ Zunächst ging es ihm aber, wie Vielen, die einer ausgeprägten Richtung sich mit Herz und Sinn hingegeben haben, dass er zwar der neuen Ansicht, die er in der aufgefundenen Bibel vertreten fand, auf einen Augenblick beitrat, dann aber, sowie er das Buch aus der Hand gelegt hatte, sich wieder der Gedanken- und Gefühlsströmung überließ, in die er sich hineingewöhnt hatte.

Nachdem Luther Baccalaureus geworden, war das geforderte philosophische Pensum vollendet, und er hätte sich nun ganz seiner Fachwissenschaft, der Jurisprudenz, zuwenden können, wenn er dazu eine vorwiegende Neigung gehabt hätte; allein das war nicht der Fall, und wir finden ihn daher auch in dieser Zeit meist noch mit philosophischen oder vielmehr mit scholastischen Gegenständen beschäftigt. Ob er selbst schon Vorträge gehalten, und zwar über die Natur- und Sittenlehre des Aristoteles, wie von Einigen angegeben wird, ist zweifelhaft. Wahrscheinlich findet hier eine Verwechselung mit der Zeit nach seiner Magisterpromotion statt. Jedenfalls wird er nicht in den öffentlichen Hörsälen, sondern nur in dem Collegium, dem er speziell angehörte, gelesen haben. Die Scholastik war ein Erzeugnis römischen Denkens und hatte zur Aufgabe, Glauben und Wissen oder die Offenbarung und die Vernunft zu vermitteln. Da die Kirche aber ein wahrhaft freies und selbstständiges Denken nicht zugestehen konnte, sondern ihrer Natur und Richtung gemäß fordern musste, jede von der Vernunft erkannte Wahrheit, sofern sie nicht mit den Bestimmungen und Entscheidungen der Kirche übereinstimmte, zu verwerfen, so ging ihr Zweck dahin, die kirchliche Lehre durch scharfe Begriffsbestimmungen und strenge, schutzgerechte Beweise in ein zusammenhängendes System zubringen und dadurch wider alle Angriffe zu sichern. Dass die Scholastik sich damit die Pforten, welche zur Wahrheit führen, selbst verschloss und bei dem regsten Eifer nur zu spitzfindigen Scheinwahrheiten gelangte, versteht sich von selbst, denn sie hatte ja bei ihren Forschungen das Ziel nicht vor sich, sondern hinter sich; sie strebte nicht einem Unbekannten entgegen, was dem denkenden Geiste durch seine Vertiefung in den Gegenstand erst klar gemacht und zur Anschauung gebracht werden sollte, sondern der zu findende Aufschluss war bereits als bekannt und in aller Form festgestellt vorhanden. Lessing sagt: „Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: wähle! ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: Vater, gib! denn die reine Wahrheit ist doch nur für Dich allein!“

Die Scholastiker hätten an die Möglichkeit einer solchen Wahl nicht denken können; denn durch die Lehre von der Untrüglichkeit des Papstes war sie zur Unmöglichkeit gemacht worden. Die Kirche hatte bereits für alle Zeiten festgestellt, was Wahrheit sei, d. h. was nicht nur geglaubt, sondern was auch gewusst werden sollte. Da diese päpstlichen Wahrheiten aber, ganz abgesehen von ihrem Werte an sich, durch römischen Verstand und römische Denkweise und durch das Organ der lateinischen Sprache erzeugt worden waren, so konnten sie schon um ihrer Form willen den deutschen Geist und das deutsche Gemüt im sechszehnten Jahrhundert nicht befriedigen. Luther fand daher, obwohl er sich mit voller Liebe und ganzer Seele dem Kirchentum hingab, doch nicht die Ruhe und den Frieden des Gemütes, wonach er so eifrig trachtete und wohin alle seine Studien abzielten, und es mag ihm öfter ums Herz zu Mute gewesen sein, wie jenem mönchischen Abschreiber des lateinischen Grammatikers Priscian, der bei einer besonders langweiligen Stelle, bei einer langen Aufzählung von Vokabeln mitten im Text, die deutschen Worte „ach Gott“ dazwischen fügte.

Luther sagt später, da er sich seiner scholastischen Studienweise erinnert: „Ich habe schon Stachel, Gift und Spieß sehr oft fühlen müssen, dass mir der Angstschweiß darüber ausgebrochen ist, und dabei gedacht: „O! wann willst du einmal fromm werden und genug tun, dass du einen gnädigen Gott kriegst? Und ich bin durch solche Gedanken zur Möncherei getrieben. Das ist die Frucht und Lohn, so wir ihrer Werklehre zu danken haben, das war die falsche Lehre, das Wallen und Insklostergehen, die Werke der Finsternis, das war unsere Nacht, Blindheit und Unwissenheit.“ Er kann nicht hinreichend harte Worte finden, um die Verderbtheit und Schädlichkeit der früheren Universitäten genügend zu schildern. Er sagt über der hohen Schule Gespenste, die wir mit unmenschlichem Gut gestiftet, und viele Doctores, Prädicatores, Magisters, Pfaffen und Mönche: „das ist große, grobe, fette Esel, mit roten und braunen Bareten geschmückt und auf uns geladen, die uns nicht Gutes lehreten, sondern nur immer blinder und toller machten.“ — „Es ist meine ernste Meinung, Bitte und Begierde, dass diese Eselställe und Teufelsschulen entweder in Abgrund versinken oder zu christlichen Schulen verwandelt würden.“ — „Was sind bisher unsre Universitäten anders gewesen, denn Mordgruben vieler trefflicher Ingenien und Verderbung der Jugend? Nicht allein darum, dass sie auf denselben ihren freien Mutwillen zu allen Sünden und Lastern gehabt haben, denn dasselbe ist das Allergeringste; aber dies ist am Meisten zu beklagen, dass keine nützliche heilsame Lehre ist vorhanden gewesen und zu voraus die lieben Studia christlicher Lehre mit verdrießlicher, unnützer und schädlicher Sophisterei verdunkelt worden, darin viel gute und köstliche Ingenia sind verwirret und gehindert worden, dass sie zu keiner nützlichen Frucht haben kommen können.“ Soviel sehen wir aus Allem, dass Luther zu einem freien, ursprünglichen und selbstständigen Denken und Fühlen in Erfurt nicht angeleitet worden ist. Da ihm indessen die Bestrebungen der Humanisten unmöglich unbekannt geblieben sein können und er sich, wie wir gewiss wissen, dem Studium der römischen Klassiker mit Liebe widmete, so müssen wir annehmen, dass er zu denjenigen Menschen gehörte, die sich zwar durch fremde Meinungen bestimmen lassen, wie jeder Mensch in dieser Rücksicht bestimmbar ist, aber nur insoweit, wie seine Hauptrichtung, d. h. seine Selbstständigkeit, dadurch nicht wesentlich verändert wird. Es waltete in ihm in tiefer Stille ein unerkannter, ahnungsvoller Geist, ein eigentümliches, geheimnisvolles Gemütsleben, das fremden Einflüssen nur zugänglich war, wenn das Arbeiten und Schaffen seines Geisteszuges dadurch nicht gestört wurde.

Im Jahre 1505, vermutlich um Ostern, machte er sein Magister-Examen. Die Prüfung währte etwa drittehalb Stunden. Am längsten, etwa ein und eine halbe Stunde, wurde nach seinen Kenntnissen über des Aristoteles Physik, Metaphysik und dessen Buch von der Seele geforscht, eine halbe Stunde über Erd- und Himmelskunde, Gedächtnis, Schlaf, Wachen, Kürze und Länge des menschlichen Lebens und Ähnliches, eine Viertelstunde über Ethik, Politik und Ökonomie des Aristoteles und eine Achtelstunde über Musik und Mathematik. Er erhielt unter siebzehn, denn sechzehn schienen zugleich mit ihm promoviert worden zu sein, die zweite Censur und wurde darauf mit dem goldenen Ringe und Magisterhute bekleidet. Der Umfang seiner Kenntnisse würde für unsre Zeit unbedeutend heißen, aber bei der geringen Vorbildung, welche die Studierenden zur Universität mitbrachten, konnte nicht mehr gefordert werden. Jedenfalls verlieh die Magisterwürde ein bedeutendes Ansehen und sein Vater freute sich sehr über dies glücklich erreichte Ziel, redete von jetzt an auch seinen Sohn nicht mehr mit Du, sondern mit dem vornehmern Ihr an. Luther stand im zweiundzwanzigsten Jahre.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Luther - Ein deutsches Leben