Zustände der Zeit.
Die allgemeinen Zustände in Deutschland zur Zeit, da Luther Eisenach verließ und die Universität Erfurt bezog, waren das Erzeugnis der vorhergegangenen Jahrhunderte, wie jeder gegenwärtige Zustand der Völker und einzelner Menschen das Produkt der Vergangenheit ist. Werfen wir deshalb einen Blick rückwärts auf die Zeiten, die dem sechzehnten Jahrhundert vorangingen und die Grundlage der Erscheinungen desselben bildeten.
Die Deutschen hatten die alten Römer unterworfen und sich in ihre Hinterlassenschaft geteilt. Sie konnten sich aber von dem Erbe nur das wirklich aneignen, wofür sich bei ihnen ein Bedürfnis fühlbar machte. Da sie aber geistig roh waren, so beschränkte sich ihre Besitzergreifung hauptsächlich auf die weltlichen Güter, und obwohl sie sich auch des Christentums bemächtigten, das ihrer eigentümlichen Natur ganz besonders entsprach, so vermochten sie vorläufig doch nur, es in ganz äußerlicher Weise aufzunehmen. Dies war zunächst auch ausreichend, da sie hinter den Erscheinungen das tiefere Wesen wenigstens ahnten. In dieser Weise entwickelte sich bis zum dreizehnten Jahrhundert die christliche Kirche und das römische Papsttum. Unterdessen hatten sich in den südlichen und westlichen Ländern Europas, deren römische Bevölkerung die Deutschen mit ihrem Blute verjüngt hatten, besondere Nationalitäten oder Völkergeister herausgebildet, und eine von ihren Stammesgenossen, die in Deutschland selbst geblieben waren, ganz verschiedene Geistesrichtung angenommen. Das Papsttum war aber auf unmittelbar romanischem Boden erwachsen, und die Deutschen, die in Deutschland geblieben waren, konnten nur so lange mit ihren ihnen entfremdeten Brüdern zusammen gehen, bis sie an Erkenntnis und Verstandesbildung ihnen gleich geworden waren. Dieser Standpunkt war aber im dreizehnten Jahrhundert erreicht, und nun befriedigte die römische Hierarchie die geistigen und religiösen Bedürfnisse unseres Volkes nicht mehr. Man konnte und wollte in Deutschland nicht mehr bloß römisch denken und fühlen, sondern wollte es auf eigentümlich deutsche Weise.
Unglücklicherweise gelangte in dieser Zeit ein Adelsgeschlecht, das Habsburgische, zur Kaiserwürde, das, um seinen und des Volkes geistigen Aufschwung unbekümmert, seine ganze Kraft und Aufmerksamkeit nur auf die Begründung eines weltlichen Staates richtete. Dieses Kaisergeschlecht suchte nun das deutsche Volk unter der geistlichen Herrschaft Roms festzuhalten, und es gelang ihm dies leider so vollkommen, dass unsre Vorfahren beten, singen und glauben mussten, als ob sie Italiener oder Spanier wären. Die Folge dieses knechtischen Verhältnisses aber war, dass die Deutschen in Aberglauben und Unwissenheit versanken und ihr organisches Leben sich allmählich zu äußerlichem Mechanismus gestaltete. Der Glaube war fast ganz aus der Kirche gewichen und der Aberglaube, d. h. der Glaube, der nicht lebendig aus dem Gemüt entspringt, sondern nur künstlich durch den Verstand vermittelt wird, beherrschte sie. Gott aber ist solchen Zuständen Feind; er will frisches, freies, individuelles Leben, und so entwickelte sich nach allgemeinen göttlichen Gesetzen neben dem Aberglauben der Unglaube, der mit jenem auf gleicher Grundlage ruht, nämlich ebenso wie der Aberglaube das Erzeugnis einseitiger, kahler Verstandestätigkeit ist. Als Vertreter beider Richtungen können die Bettel-Mönche und die Scholastiker gelten. Pöbelfrechheit und Adelsdünkel sind nur die entgegengesetzten Pole an demselben Magneten, wie Rationalismus und Supranaturalismus, oder wie heute Pietismus und Materialismus.
In der Betrachtung der vorreformatorischen Zeit wird allgemein ein großer Irrtum begangen. Es wird der Zustand der Kirche ohne Rücksicht auf die Unterschiede der deutschen und der romanischen Volkstümlichkeit aufgefasst und dargestellt, während doch die Verderbtheit des christlichen Lebens unter dem Papsttum für jene eine ganz andere Bedeutung hatte, als für diese. Für die Völker romanischer Zunge war die Verfassung des Papsttums und das Verhältnis, in dem sie sich in Folge dessen zu Gott befanden, noch wesentlich dem Bedürfnis entsprechend, wie das sogar noch bis heute der Fall ist, während die Anschauung Gottes und der Welt, wie sie sich unter der Herrschaft des römischen Systems im Mittelalter entwickelt hatte, den Völkern deutschen Stammes ein Gräuel war. Dort reichte eine sittliche Verbesserung des kirchlichen Lebens vollkommen aus; hier bedurfte man einer Wiedergeburt des Geistes. Dort konnte das ganze alte Gebäude, wie es im Laufe der Jahrhunderte entstanden war, unversehrt stehen bleiben; es brauchte nur innerlich gereinigt und den Anforderungen der vorgerückten Zeit gemäß neu eingerichtet zu werden: hier musste man den alten Bau bis auf den Grund niederreißen und ein von dem früheren Werke völlig verschiedenes und auf ganz andere Grundlagen sich stützendes Gebäude aufführen, wenn den unwiderstehlichen Anforderungen des deutschen Geistes und Gemütes Befriedigung und Ruhe geschafft werden sollte. Dort musste das Moralsystem, hier die Dogmatik geändert werden.
Als vorbereitende Ursachen für die Reformation werden die Erfindungen des Linnenpapiers und der Buchdruckerei, die Eroberung Konstantinopels durch die Türken und das dadurch geförderte Wiederaufblühen der griechischen Literatur, sowie die großen Entdeckungen zur See angegeben. Die Wirkungen aber, welche diese Ereignisse einerseits auf die romanischen und andererseits auf die deutschen Völker ausübten, sind ganz verschiedene. Der Bücherdruck verbreiteten z. B. in Italien nur die literarischen Kenntnisse, schärfte das Urteil und hob das Vergnügen an geistiger, d. h. verständiger Tätigkeit. Die Zivilisation nahm zu, nicht die Kultur; der Verstand wurde entwickelt, nicht die Vernunft vertieft. In gleicher Weise wirkte das wiedererwachte Studium der antiken Kunst und Wissenschaft. Die Geistesrichtung wurde dadurch nicht geändert, sondern nur der Blick für die Fehler und Mängel geschärft, die sich im kirchlichen Leben als Auswüchse der Unsittlichkeit und der Unwissenheit hervorgetan hatten. Die Entdeckungen Amerikas und des Seeweges nach Ostindien waren nur Erregungsmittel der Phantasie und wurden sogar zum Vorteile des Papsttums ausgebeutet. Der heilige Vater verschenkte nach Belieben die für die Kirche entdeckten und in Besitz genommenen Länder und Erdteile. In Deutschland verhielt sich dies Alles anders. Zunächst wirkte die Buchdruckerkunst hier allerdings auch auf die Entwicklung des Verstandes und des Urteils über weltliche Verhältnisse; aber diese erweiterte Einsicht in das Endliche erregte zugleich eine denkende Betrachtung des Ewigen und Übersinnlichen. Der Verstand ordnete sich der Vernunft unter, die Klugheit der Weisheit, das äußere Tun dem inneren Sein. Durch die griechische Literatur erweiterten sich nicht nur die Kenntnisse in Bezug auf Stoffe und Formen der Kunst, in Bezug auf Lebensregeln und Klugheitslehren, sondern der Deutsche erkannte in dem Griechen sofort seinen Geistesverwandten, der ihm näher steht, als irgend sonst ein Völker - Individuum auf der weiten Erde. Er umfasste das Hellenentum mit ganz anderer Liebe, als der Italiener und Franzose; er umfasste es als den schönen, lebendigen Ausdruck eines Geistes, mit dem er sich einig fühlte, er hatte die griechischen Klassiker nicht nur, er besaß sie; er erfreute sich der schönen, reinen Menschlichkeit, der freien Individualität, zu der es der Geist unter dem heiteren griechischen Himmel gebracht hatte. Er machte sich heimisch bei den Hellenen und versuchte es, mit ihren Augen zu sehen und mit ihren Ohren zu hören, ihre Anschauungsweise in sich aufzunehmen. Ebenso verschieden als auf die Romanen wirkte auch die erweiterte Erdkenntnis auf den Deutschen. Die Welt, das Universum, war ihm gleichsam nur der Körper Gottes, und mit dem ausgedehnteren Körper wurde ihm auch das Wesen Gottes ein größeres, freieres. Wie unendlich musste ihm die Liebe Gottes erscheinen, die er auch für die Völker in jenen fernen, neuentdeckten Regionen väterlich besorgt sah, ob sie denselben auch nicht unter'Glockengeläut und im Ambrarauch der Kirchen deshalb anflehten.
Die Deutschen waren und fühlten sich als die Stiefkinder Roms, während Spanier, Italiener und Franzosen die echten Kinder der Kirche waren. Hierarchie und romanische Volkstümlichkeit sind gleichen Ursprungs und gleichen Geistes. Es ist wohl wahr, dass die romanischen Völkergeister den päpstlichen Thron stützen, aber man kann mit größerem Rechte auch sagen, dass in den letzten fünfhundert Jahren die romanischen Staaten hauptsächlich durch das römische Kirchensystem zu Ansehen und Übergewicht über die Deutschen gelangt seien. Sobald der deutsche Volksgeist und das wahre Evangelium Christi zu Anerkennung und Herrschaft gelangt, muss das Übergewicht der romanischen Staaten über die deutschen verschwinden, mit anderen Worten heißt dies: vor dem Lichte des ewigen Geistes, das der Heiland uns auf Erden angezündet hat, werden die Lichter der Zeitlichkeit verbleichen, sofern sie nicht ihre Macht, ihren Einfluss und ihre Bevorzugung wieder aus dem Lichtquell der göttlichen Wahrheit schöpfen, wofern sie das nicht in der Tat sind, was sie scheinen wollen.
Nicht die Päpste sind die „Statthalter Gottes auf Erden“, wenn sie sich auch unter diesem prunkenden Titel zu Luthers Zeit verehren ließen, sondern diejenigen, welche Gott unter den Menschen offenbaren, welche sich und ihrem Nächsten gegenüber den Willen Gottes tun.
Es ist nur ein Grund für die bodenlose Verderbtheit des römischen Kirchentums in und für Deutschland anzugeben, und dieser eine Grund ist der Umstand, dass sich das römische Wesen in Deutschland überlebt hatte.
So lange unser Volk geistig sehr beschränkt und roh war, gereichte ihm der Romanismus zum Heil, und es unterwarf sich ihm bereitwillig, wie denn die reine physische Kraft sich instinktiv einer geistigen Leitung leicht unterwirft; aber diese Zeit war vorüber. Jeder gibt gern zu, dass der Kinderrock, wie vortrefflich er auch an sich sei, dem erwachsenen Mädchen oder Knaben nicht aufgezwungen werden dürfe, während nicht so leicht, wenigstens von Denen nicht, die bei einer Änderung, verlieren, zugestanden werden mag, dass Gesetze und Einrichtungen, die einst vortrefflich waren, jetzt ein drückendes Joch sind, weil sie nicht mehr zeitgemäß sind. Es wird Mangel an guter Gesinnung, Mangel an konservativem Geiste genannt, die gute, alte Ordnung der Vorzeit unter der man doch das geworden ist, was man ist abschaffen zu wollen. Wir müssen diesem naiven Standpunkte, der unter Umständen auch sehr wohl begründet sein kann, sein Recht lassen, dagegen aber behaupten, dass das römische Kirchentum für das gesamte Deutschland des 16. Jahrhunderts ein überwundener Standpunkt war, der zum Verderben des Volkes schon viel zu lange gewährt hatte. Die rechte Zeit einer deutschen Kirchenverbesserung war nach dem Untergange der Hohenstaufen gekommen, und, wäre sie damals zu Stande gebracht, so würde sie nicht den Ruf einer weltgeschichtlichen Begebenheit erlangt haben, wenigstens keiner Epoche, weil die Veränderung nur ganz allmählich, gleichsam von selbst hätte eintreten können. Dies war nicht geschehen, weil es nicht im Vorteile der Kaiser und der Kirche lag, und so häufte sich unter Druck und Gewalt Missbrauch auf Missbrauch. Die Bestimmungen der Kirche, die aus den unmittelbaren Bedürfnissen der Zeit hervorgegangen waren und sich früher auf unbefangene Weise geltend gemacht hatten, verloren ihre Unbefangenheit und wurden Gegenstand des Raffinements und der Selbstsucht für Diejenigen, welche ihren Vorteil dabei fanden, und dazu gehörten außer den Päpsten alle Geistlichen, von den Kardinälen herab bis zu den Bettelmönchen, und ihre Zahl war Legion. Sie hatten Deutschland in Pacht; und wie schlechte Gutsbesitzer, die sich in ihrer Stellung nicht sicher fühlen, Forst und Acker und Weiden aussaugen, um in kürzester Zeit möglichst vielen Gewinn daraus zu ziehen, so machte es der päpstliche Hof mit den unterjochten Deutschen. Es ist kaum nachzuerzählen, da es unglaublich scheint, dass damals, wo das Geld einen zehnmal höheren Wert hatte, als jetzt, jährlich fünf Millionen Thaler aus Deutschland nach Rom geflossen sind. Es lässt sich diese grenzenlose Freigebigkeit nur durch eine psychologische Wahrnehmung erklären: der Deutsche gibt, wenn er liebt, was bei den romanischen Völkern durchaus nicht in gleichem Maße der Fall ist. Dem Deutschen sind Lieben und Geben fast gleichbedeutende Begriffe, wenigstens betrachtet er die Gabe als unmittelbare Folge der Liebe. Der römische Hof freute sich dieser ihm nützlichen Eigenschaft der Deutschen, spottete aber lieblos über ihre Einfalt und nannte die ihm daher zufließenden Einkünfte, namentlich, die Ablassgelder, das Sündengeld der Deutschen, oder noch kürzer: die deutschen Sünden. Es war aber nicht genug, dass so ungeheure Summen nach Italien flossen; es wurde außerdem fast der ganze übrige Ertrag deutschen Fleißes im Lande selbst von der Geistlichkeit aufgezehrt, so dass zur Erreichung irgend welcher anderen Zwecke gar keine Geldmittel frei blieben. Alles, was sich im mindesten von Wissenschaft und Kunst, von Handel und Gewerbe, von geistiger oder leiblicher Tätigkeit geltend machen wollte, musste das Gewand der Kirche umnehmen oder wenigstens eine scheinbare Beziehung zu derselben hervorkehren. Die ganze Gestaltung des Lebens trug den Stempel der Kirchlichkeit an sich, und was nicht kirchlich war, hatte keine Berechtigung zur Existenz. Da diese Kirchlichkeit aber sich als den letzten Zweck des Daseins hinstellte, da die göttlichen und menschlichen Wahrheiten, die uns der Heiland offenbart hat, durch das Kirchentum verfinstert und verlöscht waren, so musste die Heiligkeit sich mehr oder weniger in Scheinheiligkeit verwandeln; es mussten die sogenannten guten Werke die Stelle wahren Gottesdienstes, d. h. wahrer Einigung und Versöhnung mit Gott im Geiste des Menschen vertreten. Jeder Gemütsausdruck war verhindert, und der Verstand allein, der doch nur ein Werkzeug der Vernunft und des Gemütes sein soll, führte die unbeschränkte Herrschaft. Ein öder, düsterer Sinn, der nur noch wenige Schritte zum Stumpfsinn oder zur Verzweiflung übrig hatte, bemächtigte sich der Nation und der Ruf Gottes: Erwachet aus euren Gräbern! musste erschallen, wenn das deutsche Volk, das edelste Organ für die Entwicklung und Verbreitung des Evangeliums, nicht untergehen sollte.
Die Deutschen hatten die alten Römer unterworfen und sich in ihre Hinterlassenschaft geteilt. Sie konnten sich aber von dem Erbe nur das wirklich aneignen, wofür sich bei ihnen ein Bedürfnis fühlbar machte. Da sie aber geistig roh waren, so beschränkte sich ihre Besitzergreifung hauptsächlich auf die weltlichen Güter, und obwohl sie sich auch des Christentums bemächtigten, das ihrer eigentümlichen Natur ganz besonders entsprach, so vermochten sie vorläufig doch nur, es in ganz äußerlicher Weise aufzunehmen. Dies war zunächst auch ausreichend, da sie hinter den Erscheinungen das tiefere Wesen wenigstens ahnten. In dieser Weise entwickelte sich bis zum dreizehnten Jahrhundert die christliche Kirche und das römische Papsttum. Unterdessen hatten sich in den südlichen und westlichen Ländern Europas, deren römische Bevölkerung die Deutschen mit ihrem Blute verjüngt hatten, besondere Nationalitäten oder Völkergeister herausgebildet, und eine von ihren Stammesgenossen, die in Deutschland selbst geblieben waren, ganz verschiedene Geistesrichtung angenommen. Das Papsttum war aber auf unmittelbar romanischem Boden erwachsen, und die Deutschen, die in Deutschland geblieben waren, konnten nur so lange mit ihren ihnen entfremdeten Brüdern zusammen gehen, bis sie an Erkenntnis und Verstandesbildung ihnen gleich geworden waren. Dieser Standpunkt war aber im dreizehnten Jahrhundert erreicht, und nun befriedigte die römische Hierarchie die geistigen und religiösen Bedürfnisse unseres Volkes nicht mehr. Man konnte und wollte in Deutschland nicht mehr bloß römisch denken und fühlen, sondern wollte es auf eigentümlich deutsche Weise.
Unglücklicherweise gelangte in dieser Zeit ein Adelsgeschlecht, das Habsburgische, zur Kaiserwürde, das, um seinen und des Volkes geistigen Aufschwung unbekümmert, seine ganze Kraft und Aufmerksamkeit nur auf die Begründung eines weltlichen Staates richtete. Dieses Kaisergeschlecht suchte nun das deutsche Volk unter der geistlichen Herrschaft Roms festzuhalten, und es gelang ihm dies leider so vollkommen, dass unsre Vorfahren beten, singen und glauben mussten, als ob sie Italiener oder Spanier wären. Die Folge dieses knechtischen Verhältnisses aber war, dass die Deutschen in Aberglauben und Unwissenheit versanken und ihr organisches Leben sich allmählich zu äußerlichem Mechanismus gestaltete. Der Glaube war fast ganz aus der Kirche gewichen und der Aberglaube, d. h. der Glaube, der nicht lebendig aus dem Gemüt entspringt, sondern nur künstlich durch den Verstand vermittelt wird, beherrschte sie. Gott aber ist solchen Zuständen Feind; er will frisches, freies, individuelles Leben, und so entwickelte sich nach allgemeinen göttlichen Gesetzen neben dem Aberglauben der Unglaube, der mit jenem auf gleicher Grundlage ruht, nämlich ebenso wie der Aberglaube das Erzeugnis einseitiger, kahler Verstandestätigkeit ist. Als Vertreter beider Richtungen können die Bettel-Mönche und die Scholastiker gelten. Pöbelfrechheit und Adelsdünkel sind nur die entgegengesetzten Pole an demselben Magneten, wie Rationalismus und Supranaturalismus, oder wie heute Pietismus und Materialismus.
In der Betrachtung der vorreformatorischen Zeit wird allgemein ein großer Irrtum begangen. Es wird der Zustand der Kirche ohne Rücksicht auf die Unterschiede der deutschen und der romanischen Volkstümlichkeit aufgefasst und dargestellt, während doch die Verderbtheit des christlichen Lebens unter dem Papsttum für jene eine ganz andere Bedeutung hatte, als für diese. Für die Völker romanischer Zunge war die Verfassung des Papsttums und das Verhältnis, in dem sie sich in Folge dessen zu Gott befanden, noch wesentlich dem Bedürfnis entsprechend, wie das sogar noch bis heute der Fall ist, während die Anschauung Gottes und der Welt, wie sie sich unter der Herrschaft des römischen Systems im Mittelalter entwickelt hatte, den Völkern deutschen Stammes ein Gräuel war. Dort reichte eine sittliche Verbesserung des kirchlichen Lebens vollkommen aus; hier bedurfte man einer Wiedergeburt des Geistes. Dort konnte das ganze alte Gebäude, wie es im Laufe der Jahrhunderte entstanden war, unversehrt stehen bleiben; es brauchte nur innerlich gereinigt und den Anforderungen der vorgerückten Zeit gemäß neu eingerichtet zu werden: hier musste man den alten Bau bis auf den Grund niederreißen und ein von dem früheren Werke völlig verschiedenes und auf ganz andere Grundlagen sich stützendes Gebäude aufführen, wenn den unwiderstehlichen Anforderungen des deutschen Geistes und Gemütes Befriedigung und Ruhe geschafft werden sollte. Dort musste das Moralsystem, hier die Dogmatik geändert werden.
Als vorbereitende Ursachen für die Reformation werden die Erfindungen des Linnenpapiers und der Buchdruckerei, die Eroberung Konstantinopels durch die Türken und das dadurch geförderte Wiederaufblühen der griechischen Literatur, sowie die großen Entdeckungen zur See angegeben. Die Wirkungen aber, welche diese Ereignisse einerseits auf die romanischen und andererseits auf die deutschen Völker ausübten, sind ganz verschiedene. Der Bücherdruck verbreiteten z. B. in Italien nur die literarischen Kenntnisse, schärfte das Urteil und hob das Vergnügen an geistiger, d. h. verständiger Tätigkeit. Die Zivilisation nahm zu, nicht die Kultur; der Verstand wurde entwickelt, nicht die Vernunft vertieft. In gleicher Weise wirkte das wiedererwachte Studium der antiken Kunst und Wissenschaft. Die Geistesrichtung wurde dadurch nicht geändert, sondern nur der Blick für die Fehler und Mängel geschärft, die sich im kirchlichen Leben als Auswüchse der Unsittlichkeit und der Unwissenheit hervorgetan hatten. Die Entdeckungen Amerikas und des Seeweges nach Ostindien waren nur Erregungsmittel der Phantasie und wurden sogar zum Vorteile des Papsttums ausgebeutet. Der heilige Vater verschenkte nach Belieben die für die Kirche entdeckten und in Besitz genommenen Länder und Erdteile. In Deutschland verhielt sich dies Alles anders. Zunächst wirkte die Buchdruckerkunst hier allerdings auch auf die Entwicklung des Verstandes und des Urteils über weltliche Verhältnisse; aber diese erweiterte Einsicht in das Endliche erregte zugleich eine denkende Betrachtung des Ewigen und Übersinnlichen. Der Verstand ordnete sich der Vernunft unter, die Klugheit der Weisheit, das äußere Tun dem inneren Sein. Durch die griechische Literatur erweiterten sich nicht nur die Kenntnisse in Bezug auf Stoffe und Formen der Kunst, in Bezug auf Lebensregeln und Klugheitslehren, sondern der Deutsche erkannte in dem Griechen sofort seinen Geistesverwandten, der ihm näher steht, als irgend sonst ein Völker - Individuum auf der weiten Erde. Er umfasste das Hellenentum mit ganz anderer Liebe, als der Italiener und Franzose; er umfasste es als den schönen, lebendigen Ausdruck eines Geistes, mit dem er sich einig fühlte, er hatte die griechischen Klassiker nicht nur, er besaß sie; er erfreute sich der schönen, reinen Menschlichkeit, der freien Individualität, zu der es der Geist unter dem heiteren griechischen Himmel gebracht hatte. Er machte sich heimisch bei den Hellenen und versuchte es, mit ihren Augen zu sehen und mit ihren Ohren zu hören, ihre Anschauungsweise in sich aufzunehmen. Ebenso verschieden als auf die Romanen wirkte auch die erweiterte Erdkenntnis auf den Deutschen. Die Welt, das Universum, war ihm gleichsam nur der Körper Gottes, und mit dem ausgedehnteren Körper wurde ihm auch das Wesen Gottes ein größeres, freieres. Wie unendlich musste ihm die Liebe Gottes erscheinen, die er auch für die Völker in jenen fernen, neuentdeckten Regionen väterlich besorgt sah, ob sie denselben auch nicht unter'Glockengeläut und im Ambrarauch der Kirchen deshalb anflehten.
Die Deutschen waren und fühlten sich als die Stiefkinder Roms, während Spanier, Italiener und Franzosen die echten Kinder der Kirche waren. Hierarchie und romanische Volkstümlichkeit sind gleichen Ursprungs und gleichen Geistes. Es ist wohl wahr, dass die romanischen Völkergeister den päpstlichen Thron stützen, aber man kann mit größerem Rechte auch sagen, dass in den letzten fünfhundert Jahren die romanischen Staaten hauptsächlich durch das römische Kirchensystem zu Ansehen und Übergewicht über die Deutschen gelangt seien. Sobald der deutsche Volksgeist und das wahre Evangelium Christi zu Anerkennung und Herrschaft gelangt, muss das Übergewicht der romanischen Staaten über die deutschen verschwinden, mit anderen Worten heißt dies: vor dem Lichte des ewigen Geistes, das der Heiland uns auf Erden angezündet hat, werden die Lichter der Zeitlichkeit verbleichen, sofern sie nicht ihre Macht, ihren Einfluss und ihre Bevorzugung wieder aus dem Lichtquell der göttlichen Wahrheit schöpfen, wofern sie das nicht in der Tat sind, was sie scheinen wollen.
Nicht die Päpste sind die „Statthalter Gottes auf Erden“, wenn sie sich auch unter diesem prunkenden Titel zu Luthers Zeit verehren ließen, sondern diejenigen, welche Gott unter den Menschen offenbaren, welche sich und ihrem Nächsten gegenüber den Willen Gottes tun.
Es ist nur ein Grund für die bodenlose Verderbtheit des römischen Kirchentums in und für Deutschland anzugeben, und dieser eine Grund ist der Umstand, dass sich das römische Wesen in Deutschland überlebt hatte.
So lange unser Volk geistig sehr beschränkt und roh war, gereichte ihm der Romanismus zum Heil, und es unterwarf sich ihm bereitwillig, wie denn die reine physische Kraft sich instinktiv einer geistigen Leitung leicht unterwirft; aber diese Zeit war vorüber. Jeder gibt gern zu, dass der Kinderrock, wie vortrefflich er auch an sich sei, dem erwachsenen Mädchen oder Knaben nicht aufgezwungen werden dürfe, während nicht so leicht, wenigstens von Denen nicht, die bei einer Änderung, verlieren, zugestanden werden mag, dass Gesetze und Einrichtungen, die einst vortrefflich waren, jetzt ein drückendes Joch sind, weil sie nicht mehr zeitgemäß sind. Es wird Mangel an guter Gesinnung, Mangel an konservativem Geiste genannt, die gute, alte Ordnung der Vorzeit unter der man doch das geworden ist, was man ist abschaffen zu wollen. Wir müssen diesem naiven Standpunkte, der unter Umständen auch sehr wohl begründet sein kann, sein Recht lassen, dagegen aber behaupten, dass das römische Kirchentum für das gesamte Deutschland des 16. Jahrhunderts ein überwundener Standpunkt war, der zum Verderben des Volkes schon viel zu lange gewährt hatte. Die rechte Zeit einer deutschen Kirchenverbesserung war nach dem Untergange der Hohenstaufen gekommen, und, wäre sie damals zu Stande gebracht, so würde sie nicht den Ruf einer weltgeschichtlichen Begebenheit erlangt haben, wenigstens keiner Epoche, weil die Veränderung nur ganz allmählich, gleichsam von selbst hätte eintreten können. Dies war nicht geschehen, weil es nicht im Vorteile der Kaiser und der Kirche lag, und so häufte sich unter Druck und Gewalt Missbrauch auf Missbrauch. Die Bestimmungen der Kirche, die aus den unmittelbaren Bedürfnissen der Zeit hervorgegangen waren und sich früher auf unbefangene Weise geltend gemacht hatten, verloren ihre Unbefangenheit und wurden Gegenstand des Raffinements und der Selbstsucht für Diejenigen, welche ihren Vorteil dabei fanden, und dazu gehörten außer den Päpsten alle Geistlichen, von den Kardinälen herab bis zu den Bettelmönchen, und ihre Zahl war Legion. Sie hatten Deutschland in Pacht; und wie schlechte Gutsbesitzer, die sich in ihrer Stellung nicht sicher fühlen, Forst und Acker und Weiden aussaugen, um in kürzester Zeit möglichst vielen Gewinn daraus zu ziehen, so machte es der päpstliche Hof mit den unterjochten Deutschen. Es ist kaum nachzuerzählen, da es unglaublich scheint, dass damals, wo das Geld einen zehnmal höheren Wert hatte, als jetzt, jährlich fünf Millionen Thaler aus Deutschland nach Rom geflossen sind. Es lässt sich diese grenzenlose Freigebigkeit nur durch eine psychologische Wahrnehmung erklären: der Deutsche gibt, wenn er liebt, was bei den romanischen Völkern durchaus nicht in gleichem Maße der Fall ist. Dem Deutschen sind Lieben und Geben fast gleichbedeutende Begriffe, wenigstens betrachtet er die Gabe als unmittelbare Folge der Liebe. Der römische Hof freute sich dieser ihm nützlichen Eigenschaft der Deutschen, spottete aber lieblos über ihre Einfalt und nannte die ihm daher zufließenden Einkünfte, namentlich, die Ablassgelder, das Sündengeld der Deutschen, oder noch kürzer: die deutschen Sünden. Es war aber nicht genug, dass so ungeheure Summen nach Italien flossen; es wurde außerdem fast der ganze übrige Ertrag deutschen Fleißes im Lande selbst von der Geistlichkeit aufgezehrt, so dass zur Erreichung irgend welcher anderen Zwecke gar keine Geldmittel frei blieben. Alles, was sich im mindesten von Wissenschaft und Kunst, von Handel und Gewerbe, von geistiger oder leiblicher Tätigkeit geltend machen wollte, musste das Gewand der Kirche umnehmen oder wenigstens eine scheinbare Beziehung zu derselben hervorkehren. Die ganze Gestaltung des Lebens trug den Stempel der Kirchlichkeit an sich, und was nicht kirchlich war, hatte keine Berechtigung zur Existenz. Da diese Kirchlichkeit aber sich als den letzten Zweck des Daseins hinstellte, da die göttlichen und menschlichen Wahrheiten, die uns der Heiland offenbart hat, durch das Kirchentum verfinstert und verlöscht waren, so musste die Heiligkeit sich mehr oder weniger in Scheinheiligkeit verwandeln; es mussten die sogenannten guten Werke die Stelle wahren Gottesdienstes, d. h. wahrer Einigung und Versöhnung mit Gott im Geiste des Menschen vertreten. Jeder Gemütsausdruck war verhindert, und der Verstand allein, der doch nur ein Werkzeug der Vernunft und des Gemütes sein soll, führte die unbeschränkte Herrschaft. Ein öder, düsterer Sinn, der nur noch wenige Schritte zum Stumpfsinn oder zur Verzweiflung übrig hatte, bemächtigte sich der Nation und der Ruf Gottes: Erwachet aus euren Gräbern! musste erschallen, wenn das deutsche Volk, das edelste Organ für die Entwicklung und Verbreitung des Evangeliums, nicht untergehen sollte.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Luther - Ein deutsches Leben
001. Die Stände, in der Mitte als Vertreter des Handwerks ein Schmied mit einem Hammer.
Greifswald, Eldena, Kirche des Zisterzienser-Klosters (2)
Handwerker
Reformationszeit, Die Heroen der Naturwissenschaft
Hutten, Ulrich von (1488-1523)Humanist, erster Reichsritter, Schriftsteller
Hausbau, Bauhandwerker
Hausierer, Käse- und Backwarenverkäufer, Scherenschleifer
Marktleben
Schmiede
Schneider
Schuster
Tischler
002 Aus dem Studentenleben (3)
004 Unterricht im Singen, Lesen und Rechnen in einer Stadtschule mit einer Züchtigungsszene
005 Herrscherin Rute. Das Standessymbol des LehrersJPG
005 Herrscherin Rute. Lehrer mit drei StudentenJPG
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