Konsequenzen der kosmologisch-physikalischen Lebenstheorie

6. Einer weiteren Betrachtung bieten sich noch die Konsequenzen dar, welche die Durchführung der physikalisch-chemischen Ansichten über Leben und Tod besonders für die praktischen Wissenschaften: die Medizin, Pädagogik, Moral, Politik mit sich führt. In diesen Konsequenzen nimmt die kosmologische Physiologie die Gestalt an, welche man auch mit dem Namen des Materialismus belegt, und von vielen Seiten, freilich ohne der Sache naturhistorisch tiefer auf den Grund zu gehen, bekämpft hat.

Zu diesen Konsequenzen gehört nun vor allem die Ansicht, dass Menschen wie Tiere nichts als Maschinen seien, und das die Lebenstätigkeiten durch Vergleichung mit verschiedenen Maschinen erklärt werden sollen. Man nennt so den Menschen eine laufende Windmühle; den hüpfenden Frosch eine Repetieruhr; den Fisch ein cartesianisches Teufelchen; das Pferd eine lokomotive Dampfmaschine; das Huhn einen zweibeinigen wandelnden Ofen; das Gehirn einen elektrischen Telegraphen; das Herz eine Pumpe; die Nieren ein Sieb; wie es schon zu Bellinis, Hales, Voerhaaves Zeiten geschah.


Wer sich der Geschichte des Ritters Donquixote erinnert, durch welche Cervantes die mittelalterlichen Romandichter, die ihre Ritter mit Windmühlen kämpfen lassen, welche sie für Riesen hielten, verspottet; der könnte meinen, dass solche Vergleiche der jetzigen rationellen Physiologie gar nicht ernst gemeint, sondern nur dichtende Ausgeburten erhitzter, schwärmerischer Gemüter seien. Diese Meinung wäre jedoch ein Irrtum, denn wir haben hier einen kalten, berechnenden, tiefe Wissenschaft prätendierenden Ernst vor uns; an dem wir sehen, dass vor Jahrhunderten schon als Torheiten erkannte, hirnverbrannte Träumereien jetzt von der modernen Physiologie als das Neuste der wissenschaftlichen Forschung und Aufklärung vorgetragen werden. Zwischen dem mittelalterlichen Kampf und dem heutigen Vergleich des Lebens mit den Windmühlen ist nur der Unterschied, dass die mittelalterlichen Ritter die Windmühlen für lebende Menschen hielten, in denen sie Lebenskraft voraussetzten; die heutigen physikalischen Physiologen aber, die Menschen für Windmühlen halten um dem Menschen sein eigentümliches Leben abzusprechen und ihn in die sogenannte allgemeine Naturgesetzlichkeit zu begraben.

Ich darf mich der theoretischen Widerlegung dieser Ansichten hier überheben, und will nur auf eine praktische Konsequenz derselben für die Heilkunst aufmerksam machen. Es ist nämlich klar, dass wenn man den Menschen wirklich für eine Maschine hält, man ihn notwendig auch wie eine Maschine behandeln muss, was sich moralisch wie medizinisch die Urheber der Theorie, auf welche ihre Folgen doch zurück fallen müssen, am wenigsten möchten gefallen lassen; wie denn eine Maschinentherapie des Körpers und Geistes, die sich ihres Daseins bewusst ist, sich in dieser Zeit der Aufklärung auch schwer einführen lassen dürfte.

Die physikalische Physiologie sucht etwas Großes in der kosmischen Auffassung der Welt und des Menschen; darin dass der Mensch sich als ein Glied des Weltganzen fühlen, und in dem Gefühl der Weltmaschinerie und dem Weltkreislauf anzugehören seine Erhebung finden soll. Ohne den Widerspruch zu merken, lässt man auch zwischendurch die Versicherung blicken, dass der Mensch als Herr der Erde zu betrachten sei. Allein wenn man den Menschen erheben und als das Höchste als Herrn der Erde hinstellen will, muss man ihn zuvor in seiner Wahrheit als lebendes und fühlendes Wesen erkannt haben. Die kosmologische Physiologie hat aber als solches den Menschen gar nicht verstanden, weil sie sein Leben, seine Gesundheit, Krankheit und Heilung auf todte Naturprozesse reduziert; die menschliche Macht in den Gebirgen und Wolken oder im toten Stoffwechsel oder dem Feuer der Unterwelt sucht. Gerade der Materialismus, der den Menschen hoch über alles über Glauben und Wunder stellen möchte, erniedrigt ihn durch seine Maschinentheorien am allertiefsten. Sie sagt dem Menschen zuerst Schmeicheleien, und giebt ihm dann den mechanischen Gnadenstoß, dass ihm alle Glieder krachen. Jedenfalls könnte der materialistische Maschinenmensch als Herr der Erde nur eine sehr klägliche Rolle spielen, ebenso kläglich wie er als solcher behandelt wird. Man spricht viel über schlechte Gesetze; aber die Medizin hat sich in der Stoffwechsellehre sicherlich die allerschlechtesten gegeben. Man klagt über verderbliche Strömungen des Zeitgeistes. Aber wer macht den Zeitgeist? Die Erziehung, die Schulen, die Universitäten und diese macht, weil sie Staatsanstalten sind, die Regierung; die wenn sie die Examina nach den materialistischen Stoffwechsellehren einrichtet, diese und die Maschinenkunde in der Medizin zum Staatsdogma erhebt.

Ein anderes Ergebnis der Physikophysiologie ist die Aufhebung oder doch die Verwirrung des wahren Begriffs der Individualität und Persönlichkeit, der zu einem toten Stoff-Atomen-Molekular- oder Zellenbegriff erniedrigt wird. Es wird damit dem menschlichen Leben das Herz aus dem Leibe gerissen. Denn alle Geburt und Wiedergeburt des Lebens; alle Zeugung und Fortpflanzung, alle Ernährung, alles Wachstum wird dadurch zu einem toten, von äußeren, fremden Kräften regierten Stoffwechsel gemacht, worin alle lebendige Eigenmacht, aller organische Gestaltungs- und Bildungstrieb zu Grunde geht. Die Individualität ist in Wirklichkeit das wahre Selbst des menschlichen Lebens; die Selbsterhaltung und Selbstregierung, dieses große Gesetz im körperlichen wie geistigen Leben ist ein Werk der lebendigen Individualität und Persönlichkeit; in der Wissenschaft aber wollen die vorsichtigsten unter den Materialisten sagen, dass wir nicht wissen was Individualität ist, weil sie das Leugnen derselben, wozu sie gezwungen sind, nicht auszusprechen wagen; obgleich anderseits den toten Naturgesetzen und Naturkräften, dem Mechanismus und Chemismus, worauf man den Begriff der Individualität ausdehnen will, keine Individualität zugeschrieben werden kann, und die Individualität in den ganzen Stoffwechselkram grundaus nicht passt.

Das Aufgeben der Individualität hängt mit dem Streit des Materialismus gegen die Lebenskraft zusammen; weil Leben und Lebenskraft an die Individualität gebunden; Produkt der Individualität ist. Mag der mystische Begriff der Lebenskraft unvollkommen sein; so ist jedoch der Begriff der Molekularkraft, der Schwerkraft, Attraktionskraft, in der Iatrophysik ebenso dunkel und durchaus nicht mehr berechtigt; es ist nicht abzusehen, was die mystische, todte Molekularkraft mehr sagen will, als die Lebenskraft, so lange man dei dem abstrakten Kraftbegriff stehen bleibt. Die Furcht der Iatrophysik vor der Lebenskraft ist ganz unbegründet. Wir dürfen, da wir die Wirkungen und Taten der Lebenskraft und deren Stärkung als eine Tatsache vor uns sehen, nur das als Dasein anerkennen, was Lebenskraft hat, und die physiologische Molekularkraft als eine Donquixoterie betrachten, welche der Tod auf Lebensgebieten ist, deren Annahme auf eine Verwechselung des Lebens mit seinen Lebensbedingungen und Lebensresiduen beruht. Mit der Auflösung des Unterschiedes von Leben und Tod in allgemeine Naturgesetze muss notwendig der wesentliche Unterschied von Gesundheit und Krankheit, von Sterben und Heilung fallen, und alle diese Dinge müssen nicht als Veränderungen die im Leben selbst sondern auch in der Außenwelt ihre alleinige Ursache haben, betrachtet, die Pathologie auf die antike galenische Actiologie (auf Physik und Chemie) reduziert werden. Es war gerade der Charakter der Deutschen, parazelsischen Medizin die antike Aetiologie und Symptomenlehre zu verwerfen und die Krankheiten als von Innen entstanden, und sogar sich durch Ansteckung fortpflanzende Zustände zu betrachten, während man nach dem jetzt in Mode gekommenen System die ganz von Innen entstehenden Krankheiten aus der Wissenschaft ausschließen müsste. Abgesehen davon, dass in den Nervenleiden, wo gar keine ursachliche Stoffveränderung, kein Krankheitsstoff; keine materia peccans vorhanden ist, der Verstand der Stoffwechsellehre still steht; so müssten Gesundheit und Krankheit, Leben, Heilung und Sterben einerlei Stoffwechselprozesse, die in concreto zusammenfallen, sein; Physiologie und Pathologie, Hygienie und Therapie wären identische Wissenschaften mit der Physik und Chemie, und die Medizin hätte aufgehört selbstständig zu existieren, wenn etwas Wahres an der Stoffwechsellehre wäre. Diese unterwirft sich der toten Außenwelt, indem sie die, toten Naturkräfte, das Feuer, als ihren Gott anbetet.

Am wenigsten würde nach der kosmologischen Stoffkreislaufstheorie ein Fortschritt des Lebens; eine Verbesserung und Veredelung der menschlichen Gesundheit und des Menschenwohles, ein Fortschritt der Medizin selbst möglich sein; weil, da mit dem Menschen auch alle seine Werke in Kunst und Wissenschaft in den naturnotwendigen Kreislauf der Naturtätigkeiten gebannt erscheinen, wohl eine Erhaltung der Kraft in der Natur, aber keine Schöpfung neuer; keine Stärkung alter Lebenskräfte der Menschen; wie überhaupt keine neue Schöpfung des menschlichen Geistes in Wissenschaft und Kunst, in Zivilisation und Kultur nach dieser Theorie möglich wäre; denn wo alles in einem geschlossenen Kreislauf sich herumbewegt, ist eine Vervollkommnung und Veredelung unmöglich; jede höhere Stufentwickelung ist ausgeschlossen.

Eine weitere Konsequenz der Identifizierung von Leben und Tod durch die physikalisch-kosmischen Lehren ist nun noch die untergeordnete Stellung, welche der menschliche Geist dadurch in der Wissenschaft erhält. Der menschliche Geist wird nämlich dadurch den äußeren, anorganischen Naturkräften untergeordnet; entweder dem sogenannten Weltgeist oder der Weltseele wie im Idealismus; oder den chemischen Stoffen und Elementen wie im Materialismus. Denn der Idealismus betrachtet den Menschengeist als Atom der Weltkräfte, welche den Weltgeist darstellen; der Materialismus betrachtet ihn als eine allgemeine Eigenschaft der Weltmaterie, als welche die chemischen Stoffe angesehen werden. In beiden Fällen wird der Menschengeist seiner Eigenmacht, seines selbstständigen Lebens, seiner Individualität und seiner persönlichen Freiheit beraubt. Alle Lebenseigenschaften des Menschengeistes werden dadurch zu Grunde gerichtet; der Menschengeist wird als endlicher Geist den unendlich genannten, toten Naturkräften untergeordnet, und damit tot gemacht; denn der endliche Geist ist nichts als der todte Geist. Die Beweise, welche unter diesen Umständen der Idealismus etwa für die persönliche Freiheit des Menschen erbringt, fallen daher höchst jämmerlich aus, und sind mehr als Beweise für seine Sklaverei unter der Herrschaft der Weltkräfte zu betrachten. Hier ist denn nur von einer Außenwelt, nicht von einer Menschenwelt die Rebe. Alles dieses ist die nothwendige Konsequenz der wissenschaftlichen Identifizierung von Leben und Tod in der Abstraktion sogenannter Weltelemente oder Weltkräfte. An solchem Prinzip „hängt nickt nur der Himmel und die ganze Natur“ wie Aristoteles sagt, sondern auch der Menschengeist ist daran aufgehängt, so dass ihm der Hals zugeschnürt ist und er daran zappelt. Der heutige ewige Himmel des Aristoteles ist die Stoffwechsel- und Stoffkreislaufslehre, die Lehre von der Erhaltung der physikalischen Kraft in der ganzen Natur, worin auch die Lebenskraft des Menschengeistes zu Grunde geht.

Wir dürfen die wichtigste aller praktischen Konsequenzen der Iatrophysik nicht übergehen, welche darin besteht, den ganzen Zweck der Medizin und das Dasein derselben in Frage zu stellen. Der Zweck der Medizin ist kein anderer, als das Leben des Kranken vor dem Tode zu schützen; das Leben des Gesunden zu erhalten und zu erhöhen. Da nun nach der Iatrochemie und Iatrophysik ein wesentlicher Unterschied von Leben und Tod gar nicht vorhanden, das Leben nur durch todte chemische und physikalische Kräfte bewegt und in die allgemeine Naturgesetzlichkeit aufgelöst sein soll; so kann hier selbstverständlich von einem Kampfe von Leben und Tod in der Krankheit und einer Erhaltung und Beschützung des Lebens gegen den Todesfeind nicht die Rede sein. Wenn es nur einerlei harmonische ineinanderwirkende Naturkräfte in Leben und Tod vorhanden sind, so ist ein Todesfeind für das Leben unmöglich, und damit der Zweck der Medizin, das Leben gegen den Tod erhalten ein vollkommen unnützer, die ganze Aufgabe der Medizin fällt weg, sie wird zu einem bloßen Schein und Vorwand herabgewürdigt; die Kunst Krankheiten zu heilen wird der Medizin gänzlich bestritten. Wir sehen hier, dass die Frage nach Leben und Tod eine Existenzfrage für unsere Wissenschaft und Kunst ist, daher sich auch jatrochemisch wissenschaftliche Ärzte die Gefahr des Unterganges der Medizin vorhergesagt und in das angeblich unvermeidliche Schicksal der Wissenschaft geduldig ergeben haben.

7. Dass man die Leistungsfähigkeit der Medizin herabsetzt, nicht bloß anzweifelt, die Ärzte, welche die Lebenskraft des Kranken stärken wollen, verspottet; alles ärztliche Tun auf mechanische Handwerker und chemische Fabrikarbeit beschränkt, dass man den Ärzten von naturwissenschaftswegen das Heft ihrer Kunst aus den Händen windet, um es der Physik und Chemie zu übergeben, ihnen das Messer an die Kehle setzt, weil man der Medizin außer der physikalischen und chemischen alle andere lebenskräftige Rationalität streitig macht, ärztliche Lehrerstellen mit Physikern und Mechanikern besetzt, ist besonders durch die Bemühungen eines verstorbenen, berühmten Kosmologen zu einer alltäglichen Sache geworden. Die Medizin hat jetzt einen schweren Stand, weil die Ärzte an ihrer ganzen Kunst zu verzweifeln oder sie zu erheucheln gelehrt werden. Das sind die Gefahren der wissenschaftlichen Identifizierung von Leben und Tod für die Medizin, wodurch das individuelle persönliche Wohl der Kranken einer lebenfeindlichen und lebenzerstörenden, naturwissenschaftlichen Theorie des Weltganzen und allgemeiner Naturkräfte Preis gegeben wird, nach der man Sterne und Planeten, nicht Menschen kurieren möchte.

Gegen diese kosmischen Lebenstheorien der Physiologie schwimmen wir jetzt in einem starken Strom, wenn wir die Eigenmacht des Lebens zur Geltung bringen wollen. Dieser Strom ist ein Rückschlug aus den zu hoch in die Lüfte gestiegenen wolkigen, mystischen Lebenstheorien der letzten Naturphilosophie; aus den verdichteten Phantasmen der Seherin von Prevorst; die Folge des Wolkenbruchs, der sich aus dem heißen Luftstrom physiologischer Schwärmerei in die kühle Luft der nüchternen, induktiven Aufklärung ergossen und entladen hat. Die luftig dampfende, idealistische, positiv-negative Lebenstheorie ist bis zur Leiche abgekühlt, wir haben jetzt die Asche des naturphilosophischen Feuers im wahren Sinne des Worts, da die chemische Physiologie in der Asche der Leichen das Wesen des Lebens sucht, und die Anwendung der Knochen umgeackerter Kirchhöfe zur Förderung des Menschenglücks als das höchste Remedium der leidenden Menschheit empfiehlt. Wir sind mit der Physiologie aus dem Wolkenhimmel in die Unterwelt gekommen, wir haben eine unterirdische Physiologie, die das menschliche Leben in den Moleculen der Gräber sucht. Die Physiologie ist dollgedämmt mit Baumaterial aus der Physik und Chemie; man sieht nur chemisch-physikalische Tatsachen; aber hat keine Augen für die Tatsachen des organischen Lebens. Der Strom braust freilich nur gegen die mystische Theorie der Lebenskraft, aber er schwemmt auch das ganze Leben selbst mit sich hinweg.

Sollen wir uns aus Besorgnis, dass er die Medizin wegschwemmen werde, im Kampf dagegen erschöpfen? Das würde unnütz sein. Das Naturnotwendige der allgemeinen Naturgesetzlichkeit in der Wissenschaft muss selbst der Gang der Naturnotwendigkeit der toten Natur gehen; es kann aus dem maschinenmäßigen, ewigen Kreislauf und Stoffwechsel seiner Lehren nicht heraus und zur Freiheit des Lebens; nicht zu der, alle toten Kreise durchbrechenden höheren Vollendung und Veredelung gelangen; es wird in sich selbst ablaufen bis die ohnehin schon wackligen Räder dieses Getriebes zusammenbrechen.

Indessen darf die Lebenskraft der Physiologie nicht untätig in den Phantasien des Mystizismus fortschlummern, sondern wir haben zuzusehen, ob wir in der Physiologie und Medizin einen neuen, festen, wissenschaftlichen Boden gewinnen können, der die wahre Lebenskraft der Physiologie und Medizin zur Geltung bringt. Die Schwierigkeit ist hier, den rechten Weg zu finden, auf dem man beweisen kann, dass Leben und Tod nicht wesentliche identische, sondern grundverschiedene Dinge sind; dass nicht der Tod die Herrschaft über das Leben, sondern das Leben die Herrschaft über den Tod hat, und dass der Mensch in Wahrheit Herr der Erde ist.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Leben, Gesundheit, Krankheit, Heilung