Verhältnis des Idealismus und Materialismus zur Lebenstheorie

8. Wir müssen aber bekennen, dass zur Erreichung dieses Zieles die beiden jetzt in der Wissenschaft vorhandenen Systeme des Materialismus und Idealismus nicht ausreichen. Denn beide, als antike Systeme, führen zu demselben Ziel der allgemeinen Weltharmonielehre, zur kosmischen, mechanischen und physikalischen Physiologie, in welcher der Tod die Herrschaft behält. Es fehlt nicht an idealistischen Systemen der Pathologie und Physiologie der neuesten Zeit; wir haben sogar eine idealistische Chemie und Physik; welche sich gegen die Allgemeingültigkeit materieller Beachtungen verwehren und ausdrücklich auf philosophisches und rationelles Denken dringen; welche aber ebenso wie der Materialismus den Menschen zu einer nur auf äußeren Anstoß bewegten Maschine machen, und ihm jede selbstständig und von Innen wirkende Lebensenergie rauben. Der Unterschied ist nur, dass in dem medizinischen Idealismus z. B. von Lotze, der Mensch zu einer ideellen Maschine gemacht wird, während er in dem Materialismus eine materielle Maschine ist. Dieser Unterschied ist aber für die Medizin, wie für die Moral und Politik, nichtssagend, weil das menschliche Leben auch im Idealismus nicht als herrschend und absolut, der Menschengeist nicht in seiner persönlichen Freiheit und Wahrheit erscheint. Beide Systeme wagen nicht das individuelle und persönliche Leben des Menschen als das höchste in der Welt hinzustellen; sie erkennen nicht die Macht des Lebens über den Tod an; sie können nicht die äußeren Lebensbedingungen der Macht des Lebens selbst unterordnen: beiden Systemen fehlt die Lebenskraft; sie sind nicht lebensfähig. Dies ist es aber, worauf es in der Medizin nicht minder, wie in der Erziehung, der Moral und Politik, als Lebenswissenschaften ankommt. Alle Lebenserhaltung und Veredlung ist nur dadurch möglich, dass der Mensch die Lebensbedingungen bewältigt, dass das Unterliegen des Menschen unter die Lebensbedingungen der Außenwelt verhindert wird. Darin allein liegt der wahre Sinn des Satzes: dass der Mensch Herr der Erde sein soll. Er kann nicht Herr der Erde sein, wenn er nicht Herr seiner Lebensbedingungen, nicht Herr des Essens und Trinkens, der Witterung, der Jahreszeiten, des Klimas geworden ist, indem er alle diese Dinge seinem Lebensgange unterordnet. Idealismus und Materialismus gelangen in der kosmologischen Weltanschauung zu demselben Resultat der Aufhebung der Eigenmacht des organischen Lebens. Die berühmtesten der chemischen und physikalischen Physiologen oder vielmehr der Iatrochemiker, Iatromechaniker der neuesten Zeit, wie Liebig, Humboldt und ihre Nachahmer in der Makro- und Mikrokosmologie, wie Lotze, wollen sich durchaus von dem Vorwurf des Materialismus reinigen. Da man der neueren Naturforschung überhaupt den Vorwurf gemacht hat, dass der Materialismus schädlich und gefährlich sei, und die kosmischen Physiologen sich für die Repräsentanten aller Naturforschung halten; so wollen sie den Vorwurf zurückweisen, als ob die in der Neuzeit so stark hervortretende Neigung zu dem Studium der Natur-Wissenschaft überhaupt die Gefahr des Materialismus mit sich führte. Sie wollen beweisen, dass die neuere Naturforschung einen philosophischen, idealistischen Charakter habe, oder wie Liebig sagt, auch das Übersinnliche anerkenne, und meinen, dass damit die Sache abgetan sei. Hierbei wird die Frage was der Materialismus eigentlich ist, und worin seine Gefahr besteht, nicht erörtert; anderseits von der Naturwissenschaft als ein identisches, en bloc, so gesprochen, dass lebende und tote Naturprinzipien und Gesetze nicht unterscheiden, und die Anwendung toter Naturgesetze auf lebende Wesen, als etwas selbstverständliches nicht berührt wird.

Auch wird nicht in Betracht gezogen, dass es ebensowohl einen guten und schlechten, gefährlichen Idealismus giebt, und der philosophische Idealismus in Abstrako, wie die Naturphilosophie, noch keine Gewähr für die Wahrheit gibt.


Die idealistische Naturforschung kann ebenso irrig sein, wie die materialistische; alles kommt auf die Prinzipien derselben an, und es hilft dem Materialismus der neuesten Zeit gar nicht, dass er sich in den Idealismus flüchtet, weil die toten Prinzipien in Dingen des Lebens, die hier eben das Schädliche sind; im Idealismus wie im Materialismus gleich schädlich werden können. Ja man darf sagen, dass der Materialismus nicht durch sein sinnliches Material, sondern allein durch seine toten, maschinenmäßigen Ideen, die ihn alles lebendige umzurennen und sich den f an der Wand zu zerschlagen treiben, schädlich und verderblich wird.

9. Idealismus und Materialismus, und ihnen entsprechend: Spekulation und Empirie, sind zwei so verschiedene Wissenschaften, dass sie sich als Wissenschaften im Prinzip gegenseitig ausschließen und durchaus nicht anerkennen, besonders nicht in dem Gegensatz von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften oder von Physik und Ethik, und dennoch in der Praxis eine gegenseitige Freundschaft zur Schau tragen. Was A. v. Humboldt in seinem Kosmos Wissenschaft nennt, ist etwas Grundverschiedenes von dem, was Fichte, Schelling und Hegel Wissenschaft nennen. Fichte, Hegel halten das, was Humboldt Wissenschaft nennt, die naturwissenschaftliche Empirie, gar nicht für wahre Wissenschaft; sondern nur für ein Aggregat von unwissenschaftlichen sinnlichen Kenntnissen. Humboldt und die Physiker dagegen halten die spekulative Wissenschaft wieder nicht für Wissenschaft sondern für eine Zusammenstellung von Glaubensartikeln und übersinnlichen Phantasien, denen gar keine wissenschaftliche Beweiskraft beizumessen ist. Wissenschaft ist ihnen nur das, was mechanische Größen hat; mit toten Maßstäben und Gewichten gemessen und gewogen, und was dem gemäß eine mathematisch exakte Beweisführung aus sinnlichen Gründen zulässt. Nach A. v. Humboldt gibt es außer der losmischen, physikalisch-chemischen, und allenfalls der historischen Wissenschaft; also außer Kosmologie und Geschichte, überhaupt gar keine weitere Wissenschaft; das wissenschaftliche in allen Dingen ist hiernach Chemie und Physik; denn die Physiologie kann als Wissenschaft nicht anerkannt werden, da es kein selbstständiges Leben gibt, und die Physiologie nach dieser Ansicht gar kein Objekt hat. Hiernach hört denn die sensualistische Wissenschaft A. v. Humboldts, Liebigs, Vogts da auf, wo die Wissenschaft Fichtes, Hegels erst anfängt; und die idealistische Wissenschaft der letzteren hört wieder da auf, wo die Wissenschaft des Kosmos erst anfängt, nämlich bei der Rationalität, welche auf Zahl-, Maß- und Gewichtsbestimmungen der sinnlichen Materie sich stützt. Diese Gegensätze sind den verschiedenen wissenschaftlichen Prinzipien durchaus entsprechend; sie sind in ihren Konsequenzen unvereinbar und sich gegenseitig ausschließend. Was hiernach die Wissenschaft im Allgemeinen sein soll, ist unsagbar; es giebt vielmehr nach dem Gesagten gar keine allgemeine Wissenschaft, sondern nur zwei entgegengesetzte sich feindlich bekämpfende wissenschaftliche Systeme, die abwechselnd zur Herrschaft zu gelangen suchen. So haben abwechselnd auch an unserer Universität bald die idealistische Philosophie, bald die materialistische Geologie, Physik und Chemie die ganze Wissenschaftlichkeit für sich in Beschlag genommen; jetzt ist die materialistische Naturwissenschaft herrschend, alles übrige, was man noch Wissenschaft nennen möchte, wird für unwissenschaftlich gehalten. Durch das Vertrauen zu ihrer Wahrheit hat man die geologisch-physikalischen, als die Naturwissenschaften überhaupt zu einem so hohen Rang erhoben; dass ihr selbst Theologen bei der Jubelfeier unserer Universität den tiefsten Diener gemacht, und den Glauben an die physikalische Naturwissenschaft neben, vielleicht über den Glauben an Gott gestellt haben. Wir finden hier ein Überspringen des Idealismus in den Materialismus, und umgekehrt; aber ohne gegenseitige Befriedigung. Beide Systeme sind unfähig die menschlichen Lebensfragen zu lösen.

10. Was ist das Ziel der Wissenschaft? Wohin geht das Streben? Man sagt: nach Wahrheit. Dann fragen wir, was ist die Wahrheit, und erhalten keine oder ungenügende Antwort. Wenn der Satz richtig ist, dass das Leben die Wahrheit ist; so führt uns dieses auf den Menschen, als der höchsten Spitze des Lebens; und dann müssen wir sagen das Streben ist auf den Menschen gerichtet, wir wollen zum Menschen und menschlichen Zielen gelangen. Dann ist alle andere sogenannte objektive Wissenschaft nur Mittel um diesen einen Zweck zu erreichen. Alle kosmologische und anorganische Naturwissenschaft, Astronomie, Geologie, Physik, Chemie sind dann nicht das Ziel, sondern nur Mittel zum Ziel des Strebens. Dies mag auch von jeher im praktischen Gefühl der Gelehrsamkeit und Weisheit gelegen haben; aber in der Wissenschaft selbst hat sich die umgekehrte Ansicht als Grundsatz geltend gemacht, nämlich, die, dass der Mensch das untergeordnete Subjekt; dagegen die Außenwelt, der Kosmos, das wahre Objekt, das Ziel, das Höchste des Strebens sei. So ist die Wissenschaft in ihren beiden jetzt vorhandenen Systemen mit einem Grundwiderspruch behaftet, wodurch sie von Hause aus ihr Ziel verrückt und verfehlt, indem sie die Mittel mit dem Zweck verwechselt; den Menschen als Ziel im Herzen hat, aber die tote Außenwelt vor Augen und auf der Zunge; und dass sie sich am Ende das Gegenteil von dem beweist, was sie eigentlich beweisen will. Sie möchte beweisen, dass der Mensch das Höchste ist; aber traut sich am Ende nicht, es zu sagen; weil sie den Weg nicht finden kann, auf dem sie zur Wahrheit gelangen will.

So sucht der Idealismus die ewige Wahrheit im Weltabsoluten, im Weltgeist. Obgleich er den Menschen im Herzen hat; so lässt er den Menschen, seine Individualität, seine Persönlichkeit, seine Freiheit im Weltabsoluten untergehen; er gibt den Menschen als sterbliches, endliches Subjekt auf; er schämt sich am Ende seiner selbst. Die Angst und Furcht vor der Selbstvergötterung, vor dem individuellen Egoismus, vor den persönlichen Interessen; vor der Erhebung und höheren Vollendung des einen über den anderen, lässt den Idealismus sein Herzensgut fallen, indem er nach übermenschlichen, abstrakten, toten Weltseelenidealen schnappt; oder vielmehr leeren Ideen, Träumen nachjagt. Der Idealismus will den Menschen zur Idee erheben, aber erniedrigt ihn zur Abstraktion; er ist eine Jagd nach dem Weltabsoluten das noch viel weniger als gemaltes Wild ist. Der Schwerpunkt des Idealismus, sein Ziel von dem er angezogen ist, und wonach er sich getrieben fühlt, ist unfassbar und unhaltbar; und doch lässt er in diesem Schatten von Schwerpunkt sein vorgestecktes Ziel, den Menschen, immerfort untergehen; er sucht den Menschen, aber er kommt nicht zum Menschen; er stolpert immerfort über ihn hinweg; über seine persönliche Freiheit und seine Wahrheit.

Der Materialismus hat den Menschen noch mehr als der Idealismus im Herzen; er hat ihn auch vor Augen; aber sieht ihn mit offenen Augen nicht; obgleich er alles zu sehen sich einbildet. Er spricht es aus, dass der Mensch das Höchste, und alle Wissenschaft anthropologisch sein soll. Dies würde gut sein, wenn man nur wüsste, was die Anthropologie im Materialismus ist. Sie ist die Stoffwechsellehre; Stoffkreislaufslehre; sie ist am Ende gar keine menschliche, sondern eine ganz außermenschliche Geologie, Physik, Chemie. Steffens hat in seiner Anthropologie bewiesen, dass der Kern der Erde metallisch sei; das Felsenbein im menschlichen Schädel der Kern des Menschen; unendliche Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Menschen in dem Tellurismus eingeschlossen. Die heutigen Materialisten beweisen, dass der Mensch ein im Weltall verschwindendes Atom ist; ein zufälliger Stoffwirbel, der sich vom Winde immer wieder verwehen lässt, ein bisschen kreislaufender Stickstoff oder Kohlenstoff, die vom Negerherzen durch das Palmöl in das Europäerherz gelangen, höchstens ein kleines Rad in der Weltmaschinerie, die keine Seide spinnt, und, von der man überhaupt nicht weiß, was sie spinnt, und ob sie spinnt; Hirngespinste macht, wie die Materialisten, oder ob sie eine leer umlaufende Windmühle ist. So oft das Wort Weltmaschinerie auch ausgesprochen ist; ist es gedankenlos ausgesprochen, ohne dass die Sprecher wussten, was sie sagen wollten. Daraus will man den Menschen als das Höchste erkennen! Wir dürfen sagen: der Materialismus sucht den Menschen, wie der Idealismus, aber er kann ihn eben so wenig finden; er sucht ihn in der Außenwelt im Kreislauf der Weltstoffe, wie ihn der Idealismus im Kreislauf der Weltideen sucht. Beide suchen den Menschen in äußeren Ursachen, in Feuer, Wasser, Luft und Erde in Nahrung, Wind und Wetter, dem Blitz und Donner; oder in außermenschlichen Inspirationen, die man den göttlichen Odem nennt.

Beide sind sich über Ursprung und Zweck der Wissenschenschaft nicht klar, wodurch sie den Menschen erklären wollen. Sie nennen die Wissenschaft einen objektiven Geist, ohne zu sehen, dass sie in der außermenschlichen Welt nicht vorhanden ist; dass die Erde und Gebirge, die Lüfte und Wässer, das Feuer; die Planeten keine Wissenschaft und Kunst haben; dass die Wissenschaft eine menschliche Schöpfung ist. Der Materialismus sieht nicht, dass wie viel Kräfte auch in den materiellen Stoffen sitzen mögen; doch keine Wissenschaft in ihnen sitzt; dass die außermenschlichen Stoffe nicht sehen, nicht hören, nichts verstehen und nichts wissen; dass alle möglichen Kraft- und Stoffbewegungen niemals die Wissenschaft hervorbringen; dass der Stoffkreislauf, so naturgesetzlich er sein möchte, doch unwissend und unvernünftig ist, und keinen Weg zur Erkenntnis des Menschen zeigt, den wir suchen.

Idealismus und Materialismus suchen noch heute, wie Diogenes, den Menschen mit Laternen am hellen Tage; sie stecken äußeres Lampenlicht an, und finden das innere Licht des Menschen nicht.

Die Aufgabe ist daher, die Wissenschaft auf den Menschen zurückzuführen, und dann einen Weg zu erfinden, der zum Menschen hinführt, auf dem man den Menschen finden kann.

Wir sagen nun: der Weg auf dem man allein den Menschen finden kann ist der Weg des Lebens; desjenigen Lebens, welches den Tod überwindet, und sich in sich selbst höher vollendet. Diesen Weg müssen wir betreten, und zuerst den inneren Charakter des Lebens und das Lebensgesetz finden.

11. Wir haben die Behauptung ausgesprochen, dass die beiden Systeme der Wissenschaft, der Idealismus und der Materialismus nicht fähig sind die Lebensfragen zu lösen und das Leben zu begreifen. Die Wahrheit dieser Behauptung ist nun schon in anderen Ausdrücken von zwei berühmten Philosophen anerkannt worden, nämlich von Descartes und Kant. Descartes sagte: die Philosophie vermöge die Aufgabe der Veredlung des Menschengeschlechts nicht zu lösen; die Veredlung des Menschengeschlechts müsse aus der Medizin kommen. Das Prinzip des Menschengeschlechts ist nun das dem Tode entgegengesetzte Leben, das Menschenleben, die Veredlung des Menschengeschlechts ist eine Lebensveredlung; und der Descartes'sche Satz kann so ausgesprochen werden: die Wissenschaft der Philosophie kann das Menschenleben oder den Menschen als lebendes Wesen nicht begreifen und darum das Menschenleben nicht veredlen. In dem Descartes'schen Satz liegt also das Geständnis, dass die Wissenschaft das Leben des Menschen nicht zu begreifen im Stande sei.

Kant hat bewiesen, dass die philosophische Vernunft gewisse Dinge zu begreifen unfähig sei, oder dass sie für viele Dinge keine Begriffe besitze. Zu diesen Dingen rechnete Kant besonders Gott, die Unsterblichkeit der menschlichen Seele; die Unendlichkeit, das Gemüt und das Selbstbewusstsein, die Freiheit. Von allen diesen Dingen könne man mit den wissenschaftlichen Kategorien das Dasein und Nichtdasein, also das gerade Gegenteil beweisen, so dass lauter Trugschlüsse herauskämen, und darum bleiben sie für die Wissenschaft unbegreiflich; es seien also transzendentale Begriffe. Fragt man nun, was das Transzendente bei Kant ist; so kann man nur sagen, dass es die Dinge des Lebens sind. Zuerst der christliche Gott, den Kant vor Augen hatte, ist eben der lebendige Gott. Denn Jupiter und Jehovah sind durch die Kategorien sehr gut zu begreifen, weil sie keine menschliche spezifische Lebenseigenschaften besitzen; Wolken- und Feuergötter sind; daher denn die alte Mythologie ohne Transzendenz verständlich ist. Was die Unsterblichkeit der Seele betrifft, so ist es nicht nur die Unsterblichkeit der Seele, sondern das ganze Leben der Seele selbst, was für den Idealismus unbegreiflich ist; denn wenn das spezifische Leben der Seele begriffen ist; so ist auch, wenn nicht die Unsterblichkeit, doch das ewige Leben der Seele begriffen. Was so von der Seele gilt, gilt auch vom Gemüt, vom Bewusstsein, von der Freiheit; denn hier ist nur von der persönlichen Freiheit die Rede, welche allein dem Leben angehört, indem die Persönlichkeit sich aus der Individualität entwickelt und das Individuum die Gestalt des Lebens ist. So ist es faktisch daher eigentlich längst bewiesen; dass der Idealismus das Leben nicht begreifen und die Lebensfragen nicht lösen kann.

Das Leben ist als etwas Natürliches und den Begriffen Unangemessenes von dem spekulativen Idealismus, und auch von Hegel, immer verworfen worden, so dass die verschiedenen Erscheinungen des Lebens, wie Vater und Sohn; auch Gott der Vater und der Sohn; Mann und Weib; die Individuen, Arten und Gattungen der Tiere und Pflanzen, als das dem spekulativen Gedanken unwürdige Geschmeiß, von den spekulativen Kategorien durchaus fern gehalten worden sind. Auch die spekulativen Dichter, wie Schiller, geben dem Leben, wegen seiner Natürlichkeit, eine sehr untergeordnete Rolle; was seinen Grund in dem alten abstoßenden Gegensatz von Ethik und Physik zu haben scheint. Darum ist eben das Leben in der spekulativen Wissenschaft nie in seiner Eigenmacht und Größe verstanden; sondern entweder in fremde abstrakte Begriffsformen gefasst und damit überall tot gemacht worden oder als transzendent unbegriffen liegen geblieben. Hätten die Skeptiker und Kaut Begriffsformen, welche den Charakter des Lebens ausdrücken, vor sich gehabt; so würden sie die Erkenntnis für zulänglich erachtet haben auch das Gemüt, das Bewusstsein, die Freiheit und den persönlichen Gott zu fassen; da dies aber nicht der Fall war; so muss es als eine richtige Einsicht betrachtet werden; dass sie die genannten Dinge als unfassbar bei Seite liegen ließen, obgleich sie den Grundcharakter aller dieser Dinge, nämlich das individuelle und persönliche Leben, sich nicht zum Bewusstsein brachten.

Der Idealismus hält sich immer an die logischen Begriffsformen, welche die Wesenheiten der Dinge, die idealistische Allgemeinheit und Notwendigkeit enthalten. Diese logischen Begriffsformen stellen die idealistische Vernunft dar. Nun hat man seit dem antiken Skeptizismus schon eingesehen, dass ein Widerspruch vorhanden ist zwischen Gefühl und Vernunft; ein Widerspruch der auch zu einem Widerspruch des Subjekts gegen die Vernunft; oder der subjektiven Meinungen, Überzeugungen, der Instinkte, Triebe, gegen die objektive Wahrheit ist erweitert worden; was denn so viel heißt, dass zwischen den idealistischen logischen Begriffen und den menschlichen Gefühlen ein Widerspruch vorhanden ist. Dieser Widerspruch ist zwar immer empfunden; auch oft und vielfach überwunden; aber niemals wissenschaftlich gelöst worden. Wir stehen heute noch bei diesem Widerspruch wie vor fast zweitausend Jahren. Der alte Skeptizismus hielt das Auffinden dieses Widerspruchs für eine besondere Fähigkeit oder Zunft, indem der skeptische Arzt Sextus Empiricus sagte: der Skeptizismus sei die Kraft das Empfundene und das Gedachte, also Gefühle und Gedanken sich entgegenzusetzen; aber doch schon bestimmt aussprach, dass diese Entgegensetzung oder dieser Widerspruch auf einer Verschiedenheit des Inhalts der Empfindungen und der Gedanken beruhe; dass beide also sich ihrem Inhalte nach widersprächen, so dass von beiden das Entgegengesetzte gelte. Wir sehen hier von der sophistischen Dialektik, mit der diese Widersprüche sind behandelt worden ab; und halten nur die Tatsache fest, dass der Widerspruch der idealistischen Vernunftbegriffe gegen das menschliche Gefühl seit lange erkannt worden ist, ohne gelöst zu werden; und dass man ihn sogar, als einen unlöslichen, hat bestehen lassen.

Der Widerspruch der idealistischen Vernunft gegen die Dinge des organischen Lebens ist so in vielfacher Gestalt zum Vorschein gekommen; ohne dass man sich des Grundes und der entgegengesetzten Prinzipien in den sich widersprechenden Dingen wäre bewusst geworden. Er ist bei den alten Skeptikern zum Vorschein gekommen in Form des Widerspruchs der sinnlichen Empfindungen, und der darauf sich gründenden Meinungen, gegen die kategorische Vernunft; oder des Widerspruchs der empfundenen und gedachten Dinge; bei Descartes in Form des Widerspruchs der philosophischen Ideen gegen den Gang des menschlichen praktischen Lebens in Kultur und Zivilisation; bei Kant in Form des Widerspruchs der Vernunftkategorien in ihrer Anwendung auf die Erkenntnis seiner transzendenten Dinge; er ist zu allen Zeiten zum Vorschein gekommen an dem Widerspruch der Triebe und Leidenschaften des Menschen gegen die wissenschaftliche Vernunft. Dieser Widerspruch hat dann die höchste Spitze erreicht in der christlichen Zeit in Gestalt des Gegensatzes von Glauben und Wissen; von Religion und Wissenschaft. Niemals ist dieser Widerspruch gelöst worden; ja er ist in dem Kampfe der Gegensätze von Glauben und Wissen bis zur Unversöhnlichkeit getrieben worden. Der Widerspruch hat nicht gelöst werden können, weil man seinem allgemeinen Grunde, dem prinzipiellen Gegensatz von Leben und Tod niemals auf die Spur gekommen ist.

Obgleich der Widerspruch niemals gelöst worden ist; so hat man ihn doch auf verschiedene Art zu überwinden oder gewaltsam zu beseitigen gesucht. Er ist in der Moral dadurch überwunden worden, dass man geboten hat, dass die Instinkte, Triebe und Leidenschaften, überhaupt die natürlichen Neigungen des Gemüts durch die Vernunft unterdrückt werden sollten; von den psychologischen Empirikern der Neuzeit, Locke, Hume, Helvetius, dadurch, dass sie umgekehrt alle Gedanken auf Empfindungen (Gefühle, Erfahrungen) zurückführen, also die Vernunft durch die Empfindungen, Neigungen und Triebe unterdrücken wollten; von Descartes und den Skeptikern dadurch; dass sie in menschlichen Dingen an aller Wahrheit verzweifeln und sich dem Schicksal oder der Kirche anheimgeben; von Kant dadurch, dass er empirische und transzendente Erkenntnisse annahm.

Nach der anabiotischen Theorie ist dieser Kampf der Gefühle mit der Vernunft; des Glaubens mit dem Wissen ein Kampf des Todes mit dem Leben in der Wissenschaft; indem alle diejenigen Dinge, welche man als mit der Vernunft im Widerspruch stehend erkannt und bezeichnet hat, Dinge des organischen Lebens in Körper und Geist sind, worauf die toten abstrakten Kategorien nicht passen. Glauben und Empfinden sind Lebensprozesse; das Denken geschieht in toten Formen, ist Mechanismus. Die abstrakten Begriffe der Wissenschaft reichen daher zur Erkenntnis lebendiger Dinge nicht aus, und der Idealismus ist zur Erkenntnis des Lebens und zur Lösung der Lebensfragen unfähig; er macht die konkreten Dinge des menschlichen Lebens körperlich und geistig tot.

Fragen wir uns nun, worin die Totenstarre der alten und neuen Vernunftkategorien eigentlich liegt; so ist dies nichts anderes, als die Art ihrer abstrakten Allgemeinheit. Die Kategorien sind Allgemeinheitsbegriffe; das ist ihr Wesen. Nun sind es aber solche Allgemeinheiten, die sich über alles in der Welt, also über Leben und Tod so erstrecken, dass sie abstrakte Allgemeinheiten über Leben und Tod sind. So gelten also die Begriffe von Substanz, Qualität, Quantität, Kausalität, Zeit, Raum für alle lebenden und toten Dinge in gleicher Weise, und wir haben keine anderen logischen Gedankenformen in denen das Lebendige gefasst werden könnte. Man sollte nun glauben, dass diese Kategorien auch die Allgemeinheit des Lebens enthalten müssten, eben weil sie aus der lebenden und toten Welt von den alten Philosophen sind abstrahiert worden. Dies ist auch bisher geglaubt worden; allein es ist ein Irrtum. Denn diese Kategorien gehören der alten toten Weltanschauung an, welche den Urgrund aller Tätigkeiten im Äther der Wolken, und im ewigen Sternenhimmel des Aristoteles suchte, und danach die mechanische Kreisbewegung der toten Natur zum Prinzip aller und auch der lebenden Dinge machte. Es sind also in der Tat alle Kategorien abstrakte Allgemeinheiten der toten Natur; die dann äußerlich auf das Leben übertragen, aber nicht aus dem Leben selbst entwickelt worden sind, und welche die wahre Allgemeinheit des Lebens gar nicht enthalten. Die wahre Allgemeinheit des Lebens ist die lebendige Individualität mit der Einheit der Lebensfunktionen; die lebendige Eigenmacht aus inneren festen Punkten der Bewegung und Selbsterregung; die Persönlichkeit und die persönliche Freiheit des Menschen. Für alle diese lebendigen Allgemeinheiten hat die bisherige logische Vernunft keine Kategorien, und weil sie keine hat, so ist ihr nur übrig geblieben mit ihren toten Maschinen-Organen das Leben erfassen zu wollen. Dabei ist seit dem Altertum das Leben tot gemacht worden. Die Alten haben das geistige und körperliche Leben des Menschen tot gemacht, indem sie den Menschen medizinisch und politisch als Maschine, als Sklaven behandelt, überhaupt das Leben auf allen Gebieten mit Füßen getreten haben.

Ein großer Stein des Anstoßes auf dem Wege zum Leben ist ferner die alte Kausalitätslehre gewesen, über welche man logisch nicht hinaus zu können meint. Insbesondere klammert sich der neue Materialismus und die physikalische Physiologie an den Kausalitätsbegriffen, und sagt, dass der menschliche Geist die Dinge des Lebens nicht anders als in ihrem mechanischen Geschehen von Ursache und Wirkung auffassen könne, und das Leben also unter die Presse der Kausalität gebracht werden müsse. Hierbei hat man aber lebende und todte Dinge nicht unterschieden und doch ausdrücklich nur mechanische Ursachen und Wirkungen im Auge, und betrachtet deshalb die analytische Mechanik als den Grundpfeiler der Physiologie. Dies ist seit dem Altertum geschehen, wo schon Aristoteles das logische Denken mathematisch analysiert hat. Diese Analyse, so haarscharf sie auch sein mag, hat es aber nur mit mechanischen, toten Größen, Zahlen und Maßen zu tun, und bringt daher auch nur eine todte, äußere, mechanische Kausalität hervor. Daraus sind die Dinge des Lebens und das Leben selbst nicht zu begreifen; denn das Leben hat nicht äußere, sondern innere Ursachen der Bewegung. Wir können das Kausalitätsrätsel also nur dadurch lösen, dass wir die alte todte von der lebendigen Kausalität wohl unterscheiden; da es, was man bisher nicht eingesehen hat, zweierlei Kausalitäten gibt, die sich wie Leben und Tod unterscheiden.

Die alte mechanische Kausalitätslehre führt in der Naturwissenschaft auf die Weisheit des Archimedes zurück, der mit der Bewegung der Erde aus Vorsicht, dass sie nicht umstürze so lange warten wollte, bis man ihm einen festen Punkt außer der Erde gäbe, wo er seine Hebel ansetzen könnte. So hört denn auch die Weisheit der heutigen Materialisten und Zellenlehrer da auf, wo sie keine äußere Ursache mehr haben, um ihre materialistischen Schrauben anzusetzen. Darum steht ihr physiologischer Verstand still, wo die mechanischen und chemischen Ursachen aufhören, und nun sagen sie, mit A. v. Humboldt, dass hier alle Wissenschaft überhaupt aufhört, ohne zu wissen, dass dieser Verstand nur mechanisch und geologisch ist. Der physiologische Verstand kann nur dadurch wieder in Bewegung gesetzt werden, dass wir anabiotisch die inneren Ursachen und die inneren festen Punkte des Lebens ergründen, und auf diesen die erklärenden Hebel ansetzen. Dazu gehört, dass wir von der alten Raupenhaut der Kausalitätslehre die Physiologie reinigen.

Die logischen Gedankenformen passen nur auf mathematische Gegenstände und Größen; das kategorische Denken ist eine mathematische, mechanische Konsequenz und muss daher auf die Dinge der toten Außenwelt, und auf den Mechanismus, insoweit er dem Leben dienstbar und ein Mittel für den Lebenszweck ist, beschränkt werden; zur Auffassung der Lebenszwecke und der Lebensprinzipien selbst ist die mathematische Konsequenz unanwendbar, und die mathematische Sicherheit und Gewissheit hat auf dem Gebiete des Lebens und den Lebensgrößen keine Gültigkeit. Darum hat die wissenschaftliche kategorische Vernunft von jeher das Gefühl und den lebendigen Glauben von sich ausgeschlossen, und umgekehrt hat der christliche Glaube niemals sich mit der philosophischen Rationalität vertragen können. Der Streit zwischen Glauben und Wissen wird niemals geschlichtet werden können, bevor man nicht das Lebensprinzip in der Wissenschaft anerkannt und geltend gemacht und das wahre Verhältnis von Leben und Tod in der Wissenschaft zur Wirksamkeit gebracht hat. Zwar ist bisher viel von Leben und Lebenskraft in der Wissenschaft die Rede gewesen; doch in der physikalischen Physiologie fast nur, um zu zeigen; dass es gar kein Leben, das dem Tode widersteht, gebe, und es ein Aberglauben sei, von Lebenskraft auch nur zu sprechen; in den idealistischen Lehren nur um das konkrete Leben des Menschen in den Weltseelenideen und den abstrakten Äther zu verflüchtigen der nicht besser ist, als der Tod.

Es ist gesagt worden: Glauben und Wissen sind verschiedene Gebiete, die auf immer getrennt bleiben müssen. Ja freilich, wenn auf immer nicht zum Bewusstsein der Wissenschaft kommt, dass ihre abstrakten Kategorien tot sind; und wenn der christliche Glaube niemals zum Bewusstsein des in ihm liegenden absoluten Gegensatzes von Leben und Tod gelangt. Dann aber müsste man weiter sagen: Leben und Wissenschaft, Herz und Kopf, Gemüt und Verstand müssen ewig getrennte Gebiete bleiben; und wir müßten die Möglichkeit einen Weg zu ihrer Vereinigung zu finden gänzlich leugnen, und dann aber auch an aller Lebenskraft des Menschengeschlechts verzweifeln.

Der Idealismus hat sich nicht nur niemals die Aufgabe gestellt eine Lebensfrage zu lösen; sondern die Dinge des praktischen Lebens als gar nicht vor sein Forum gehörig seit dem Altertum bestimmt von sich gewiesen. Man hat hier angenommen, dass der Zweck des Philosophierens nur sei, sich aus dem Leben auf sich selbst zurückzuziehen und etwa das dem Gewissen zu überlassen, was die Wissenschaft nicht zu leisten vermag. Daran ist nichts anderes Schuld als das Gefühl, dass in Dingen des Lebens mit der Wissenschaft nicht auszukommen ist, und dass die Wissenschaft da aufhört, wo das Leben anfängt.
Wenn unser alter, ehrenwerter Kollege Sextus empiricus vor 1600 Jahren sagte, dass Empfinden und Denken oder wie er als Arzt eigentlich meinte: Erfahrung und Spekulation, sich so sehr entgegenständen, dass ein in menschlichen Dingen erfahrener Praktiker zu den spekulativen, mathematischen Dogmen in Gemütsruhe den Kopf schütteln, an allem was sie sagten zweifeln, aber doch die spekulativen Leute reden lassen müsste, weil sie es nicht besser verständen; so gab er am Ende doch das Leben preis, weil er es, trotz der Erfahrung über dasselbe, dennoch mit wissenschaftlichen Gründen nicht aufrecht erhalten konnte. Wenn Descartes sagte, die Veredlung des Menschengeschlechts könne von der Philosophie nicht bewirkt werden und müsse dereinst aus der Medizin kommen; so schloss er das menschliche Leben von der Spekulation aus, wie in anderer Weise Kant, der das Leben der Seele, das Leben Gottes, die Freiheit des Lebens in die Transzendenz verwies. Wenn andere strengere Spekulanten, wie Spinoza, Hegel dagegen mit den abstrakten Kategorien, vom Äther aus, frisch auf das Leben in scholastischer Weise losphilosophieren; so geschieht dies am Ende doch auch nur so, dass die lebendigen Wesen als Geschmeiß; der lebendige Vater und Sohn, als den logischen Begriffen unangemessen, d. h. also, dass das spezifische Leben, als den abstrakten Begriffen unangemessen, aus der wissenschaftlichen Welt fern gehalten oder in dem idealistischen, nicht bloß kopfzerbrechenden, sondern auch knochenzerbrechenden Räderwerk zu Pulver zermalmt wird; alle Lebenserfahrungen daher nichts helfen, weil sie in dem diamantenen, steinernen Netz der toten Kategorien wieder versteinert werden.
12. Was nun den Materialismus näher betrifft; so erklärt sich dieser von Hause aus selbst für unfähig den menschlichen Geist und den Geist überhaupt, als übersinnlichen Gegenstand, zu begreifen; er schreibt dem Geist andere Tätigkeitsgesetze als der Materie zu, gerät aber in viele Widersprüche indem er doch wieder die Geistestätigkeiten nach Zahl, Maß und Gewicht der toten Natur bestimmen will. Nach dieser Ansicht ist der Menschengeist gleichbedeutend mit Kraft als Eigenschaft der Materie; Denken und Selbstbewusstsein sind Eigenschaften der Materie des Gehirns, sie sind durch den Stoffwechsel bestimmt. Die Menschenseele ist eine Oxydation des Phosphors und Schwefels im Gehirnfett und Eiweiß. So ist die Seele außer wie in dem Menschen; die Seele der Außenwelt ist Gott; die Welt ist der Körper Gottes u. s. w. Das ist das Naturevangelium; welches eigentlich Naturkosmetikum heißen müsste. Dass hier von einem Begreifen des Lebens nicht die Rede sein kann, ist von selbst ersichtlich, um so mehr als ja das individuelle Leben in seiner Eigenmacht von dem Materialismus gänzlich geleugnet; die persönliche Freiheit zu einer toten Ungebundenheit der Naturkräfte herabgewürdigt wird.

So müssen wir also sagen, dass Idealismus und Materialismus in der Wissenschaft sich in die Hände gearbeitet haben, das Leben in der Wissenschaft tot zu machen und zu begraben.

13. Da beide Systeme, der Materialismus wie der Idealismus nicht ausreichen, die Selbsttätigkeit des Lebens zu erfassen; so müssen wir andere Wege suchen, wenn wir das menschliche Leben nicht geradezu aufgeben, sondern vielmehr festhalten wollen. Wir sind genötigt über die Formen und Prinzipien der beiden Systeme des Idealismus und Materialismus hinauszugehen, wenn wir mit der Wissenschaft nicht hinter der Lebenspraxis zurückbleiben wollen. Durch die im Materialismus jetzt geläufige Ansicht, dass die menschliche Erkenntnis beschränkt und über die von Idealismus und Materialismus bezeichneten Grenzen nicht hinaus könne, dürfen wir uns um so weniger hier beirren lassen, als beide Systeme ihre Unfähigkeit in Dingen des Lebens selbst zugestehen müssen. Das menschliche Streben nach höherer Vollendung und Fortschritt muss auch in der Wissenschaft geltend gemacht werden, die nicht verdammt sein kann, in antiken logischen Formen festgebannt zu sein.

Man behauptet, dass wir in der Erkenntnis nicht weiter gehen können, als die Anwendung der mechanischen und chemischen Analyse und des antiken Gesetzes der Kausalität erlaubt. Man gibt sich so zufrieden, wenn man jedem Dinge einen äußeren Grund angewiesen, und den Grund des Menschenlebens in den Mechanismus und Chemismus verlegt hat. Damit soll das Können unsrer Erkenntnis zu Ende sein. Auch A. v. Humboldt beschränkt seinen Kosmos auf das Gebiet der sinnlichen Analyse.

Allein zunächst ist die Frage hier gar nicht: was wir theoretisch durch ein wissenschaftliches System erkennen können; sondern, was wir als Menschen praktisch wollen und sollen und thun müssen. Der Kranke fragt den Arzt nicht ob er seine Krankheit erkennen und begreifen, wie weit er dabei mit seiner Kausalitätslehre kommen könne; sondern er fordert von ihm, dass er handeln und die Krankheit heilen solle, der Weg des Handelns ist die Aufgabe der Medizin. Wege des Handelns zu finden, das ist die seit Jahrtausenden geübte Praxis. Soll sich der Arzt für bankerrot erklären, weil er nur beschränkte Erkenntniswege habe?

Das Leben, was der Arzt behandeln soll, ist hier da; auch wenn er es nicht zu erkennen vermag; er ist also getrieben, entweder es ohne Erkenntmis zu behandeln, oder gezwungen sich neue Erkenntniswege zu suchen, wenn die alten nicht ausreichen. Kommen wir auf diesem Weg zur Erkenntnis zurück und finden, dass die vorhandenen Erkenntnisformen des Idealismus und Materialismus: die mechanische und chemische Analyse und die alte abstrakte Kausalitätslehre, nach der wir dem Leben beliebig eine todte Ursache unterlegen und es so zur Maschine machen können, zur wahren Erkenntnis nicht ausreichen; so dürfen wir darum das Leben in seiner Eigenmacht nicht leugnen, sondern sind aufgefordert, uns neue Erkenntniswege für dasselbe zu schaffen. Dies ist das Verfahren, welches ich in der Verjüngungslehre eingeschlagen habe, um die Frage nach der Bedeutung von Leben und Tod in den Naturwissenschaften auf eine befriedigende Weise zu lösen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Leben, Gesundheit, Krankheit, Heilung