Bild und Beurteilung der kosmologisch-physikalischen Lebenstheorie

3. Um uns nun ein freies Urteil über das Verhältnis von Leben und Tod in den Naturwissenschaften zu verschaffen, ist es nötig, dass wir uns zuerst ein Bild der jetzt herrschenden physikalischen Lebenstheorie entwerfen.

Diese Theorie beruht auf der alten Ansicht der Welteinheit, nach welcher die sämtlichen Naturreiche ein großes Ganze, das Weltall bilden, worin Leben und Tod zu einem harmonischen Weltzweck ineinander greifen. Dieses Weltganze, der Kosmos nach A. v. Humboldt, ist dann eine Weltmaschinerie, in welcher der Mensch nur als ein untergeordnetes Rad für den allgemeinen Weltzweck eingreift. In dieser Theorie ist das Wesentliche nicht, dass die Welt überhaupt als Ganzes aufgefasst wird; sondern als ein Ganzes von bestimmter Art; als ein solches Ganze, in dem äußere und übermenschliche Gesetze regieren, denen der Mensch grundaus unterworfen ist; so dass der Mensch im Dienste der Natur als ein, den Naturkräften untergeordnetes, nicht als ein freies Wesen erscheint. Was man die Erhaltung der Kraft in der ganzen Natur nennt, ist nur mechanische und chemische Krafterhaltung, keine Lebenskraft, die menschenzerstörende, nicht menschenerhaltende Kraft. Dieser Kosmos soll denn von sogenannten allgemeinen Naturgesetzen regiert werden, denen auch das menschliche Leben gehorcht und unterworfen ist; von solchen Naturgesetzen, die also über Leben und Tod in gleicher Weise herrschen; so dass die tote und die lebendige Natur nur von einerlei Gesetzen naturnotwendig geleitet würde. Aus der Gleichheit der Naturgesetze in Leben und Tod wird dann eben die wesentliche Identität von beiden gefolgert. Als solche allgemeine Naturgesetze werden die physikalischen und chemischen Gesetze angenommen: die Gesetze der Schwere, der mechanischen Bewegung; die Elektrizität, der chemischen Verwandtschaft, welche allein im menschlichen Körper herrschen sollen. Dass man diese Gesetze als allgemeine Naturgesetze für Leben und Tod betrachtet, und keine besonderen Lebensgesetze statuiert, macht den eigentlichen Charakter der neueren physikalischen Physiologie aus.


Den allgemeinen Naturgesetzen entsprechend nimmt man auch allgemeine Elemente oder Tätigkeitssubstrate an, als welche die formlosen chemischen Stoffe gelten, so dass man alle lebenden Körper, den Menschen mit einbegriffen, wie die toten, um sie wissenschaftlich zu fassen, in chemische Stoffe zerlegt und somit der lebende Mensch vor dem Forum dieser Physiologie keinen Augenblick sicher ist ausgepresst und chemisch analysiert zu werden; weil diese Wissenschaft über die mechanische und chemische Analyse nicht hinausgehen zu können meint, und ihre Fähigkeiten in diesen Grenzen ein- und abgeschlossen hält, so dass der wissenschaftliche Geist darüber hinaus aufhören würde, wie es in verschiedener Weise: Herschel, Oerstedt, Liebig, A. v. Humboldt u. A. betont haben.

Demgemäß gibt es dann auch nur einen allgemeinen Tätigkeitsprozess in der ganzen Natur, den physikalischen und chemischen Prozess; es gibt keinen eigenen Lebensprozess; und alles Leben wird auf mechanische und chemische Tätigkeit zurückgeführt oder daraus erklärt; alle Naturtätigkeit ist hiernach ein Stoffwechsel oder Stoffkreislauf, in dem Leben und Tod nur als verschiedene Stoffe und Kraftmischungen, welche durch Stoffstatik nach Zahl, Maß und Gewicht zu bestimmen sind, erscheinen, wobei es dann so genau nicht genommen wird, um etwa zu erklären, warum Menschen und Vieh bei gleichen Stoffmischungen doch so verschiedene, und hinwiederum verschiedene Menschen bei oft gar nicht chemisch gleichen Stoffmischungen doch so gleiche, allgemein menschliche, Naturen haben. Die physikalische Physiologie ist daher eine zwar exakte, aber tote Aufklärung des Lebens; sie rechnet, aber ihr Fazit ist falsch, weil sie von falschen Voraussetzungen zu rechnen angefangen hat.

Eine Folge dieser physikalischen Lebensauffassung ist dann das Bestreben, die menschliche Lebensordnung in mathematische Formeln zu fassen, wie es mit den mechanischen toten Naturtätigkeiten geschieht, wobei natürlich die Lebensgrößen mit toten Maßstäben gemessen und auf tote Größen zurückgeführt; die Freiheit der Lebensbewegungen in die Ringe toter Kräfte gezwängt wird. Die Frage, ob es nicht auch andere Lebensmaßstäbe und Lebensformeln gibt, wird hier nicht untersucht. Das Leben wird exakt getötet, nicht exakt aus seinen eigenen Gesetzen entwickelt.

Betrachten wir diese physikalische Lebensauffassung vom historischen Standpunkte aus, so findet sich, dass sie keinesweges neu, sondern nur ein anderer Ausdruck der antiken Weltharmonie und Metamorphosenlehre ist, die sich im Mittelalter zur Lehre vom Makrokosmos und Mikrokosmos gestaltete, und später mit der Entwickelung der Chemie in der arabischen, und der Physik in der Reformationszeit als Iatromathematik, Iatrophysik und Iatrochemie erschien. Die neuere physikalische Physiologie ist demnach nichts anderes, als die Iatrophysik von Bellini, Vernoulli, Borelli, Hales, Keil; die Korpuskularphilosophie und Iatromechanik von Descartes, Sanctorius, Mead; Baglivi; Harvey; die Iatrochemie des Sylvius, v. Helmort, Boerhaave, Lavoisier; dieselbe Erklärung des Lebens aus toten physikalischen, mechanischen und chemischen Ursachen, wie wir sie kompendiös schon in Hallers Physiologie zusammengestellt finden, und wie sie die Franzosen in den Worten: 1'homme machine aussprechen. Wir dürfen uns also der Namen: Iatrophysik, Iatrochemie, Chemiatrik, Iatromechanik, Iatromathematik als mit der jetzt beliebten Benennung: physikalischer oder chemischer Physiologie als völlig synonym bedienen.

4. Fragen wir nach den allgemeinen Gründen, welche die physikalische Physiologie oder die moderne Iatrophysik und Iatrochemie für ihre Lebensansicht geltend macht, so lassen sich diese im Wesentlichen auf drei Hauptpunkte zurückführen: 1) dass zwischen den Bewegungen der lebenden und toten Natur kein durchgreifender Unterschied aufzufinden, beide daher identisch sein müßten. 2) Dass physikalische und chemische Tätigkeiten tief ins innere des Organismus eindringen. 3) Dass der Mensch und alle lebenden Wesen durch ihre Lebensbedingungen absolut von der toten Außenwelt abhängig und darum ein Produkt derselben, das erst später entstanden ist, sei, und darin seine wahre Ursache habe.

Untersuchen wir den ersten dieser Gründe, so erscheint er als ein Ausdruck der Theorie der Leiter der Natur von Bonnet und des französischen system de la nature, wonach die Natur keinen Sprung machen und alles in ihr so allmählich in einander übergehen soll, dass Mensch und Stein nicht zu unterscheiden; die Steine Menschenrechte haben, der Mensch vor Gebirgen und Wässern nichts voraus und eine Seifenblase so viel Recht auf Individualität als der Mensch haben soll. Die physiologischen Physiker nehmen eine allgemeine Bewegung in der Natur an, die sie Molekularbewegung nennen, und wollen so alle Lebenstätigkeit auf Molekularbewegung zurückführen. Diese Theorie ist das Spiegelbild der alten Korpuskularphilosophie und der Atomlehre, die man neulich in der Chemie angewendet hat. Es ist eine Hypothese wie die Atomistik überhaupt, und niemand hat jemals im lebenden Körper die allgemeine naturnotwendige Bewegung gesehen, welche man Molekularbewegung nennt. Man hat sicher mehr Ursache eine solche Hypothese zu verwerfen als anzunehmen. Aber wenn die Schwierigkeit der Unterscheidung gewisser Lebensbewegungen, besonders bei den niederen, mikroskopischen Geschöpfen, von den toten mechanischen Bewegungen der elektrischen und kapillaren Aktionen auch zugegeben wird; so ist dies kein Grund zu der Annahme, dass auch auf den höheren Stufen des Lebens, und namentlich im Menschen, alles durch todte Molekularbewegungen bewirkt, und darum ein lebender Mensch von einer Leiche nicht sollte unterschieden werden können, weil man in beiden dieselben Molekularbewegungen hypothetisch voraussetzt. Eine Wissenschaft, die es unternehmen will die Identität der Mumien der Pharaonen mit lebenden Ägyptern zu beweisen, würde auf den Namen einer medizinischen Wissenschaft keinen Anspruch haben; sie wäre totgeboren und selbst leichenhaft.

Was den zweiten der angeführten Gründe betrifft, aus dem man schließt, dass alle Lebenstätigkeiten physikalisch und chemisch sein müßten, weil physikalische und chemische Aktionen tief ins Innere des Körpers eindringen, so hat man hierbei vor Allem die Erscheinungen des Atemholens und der Verdauung vor Augen, indem Luft und Nahrung ins Innere des Körpers aufgenommen werden, um assimiliert zu werden. Es ist das, was wir Intususception nennen. Lassen wir den Streit darüber, ob das Atmen und die Verdauung wirklich rein chemische und mechanische Prozesse, oder nur organische Verarbeitungen der chemischen Lebensmittel zu lebendigem Blut und Fleisch sind, wie wir es ansehen, bei Seite; so ist, auch wenn die erste Ansicht beibehalten wird, doch so viel klar: dass jene Prozesse nur an der Oberfläche des Körpers vorgehen, und gar nicht als ein Eindringen chemischer Tätigkeiten ins Innere des Lebens selbst betrachtet werden dürfen. Denn Lunge und Magen sind nichts als innere Körperoberflächen; die mit der Außenwelt nur ebenso in Berührung treten, wie die äußere Haut und die Kiemen, und was auf diesen Oberflächen geschieht, geschieht nicht im Innern des Organismus selbst, sondern nur an seinen äußeren Pforten; was im Inneren selbst vorgeht, braucht also deshalb nicht chemisch zu sein, weil die äußere Berührung chemisch ist.

Wenn die Iatrophysik nach dem Mechanismus der Bewegung der Glieder oder des Körperskeletts überhaupt durch die Muskeln in den Kreis dieser Betrachtung zieht; so ist hier zu erinnern, dass in diesen Schlussfolgerungen irriger Weise die Mittel mit dem Zweck des Lebens grundaus verwechselt werden. Der lebende Körper kann sich sehr wohl, wie es bei den Bewegungen des Körpergerüstes durch die Muskeln geschieht, mechanischer Mittel bedienen, ohne dass darum das Ziel und die Ursache des Lebens selbst mechanisch zu sein brauchte; im Gegenteil hört dieser ganze Mechanismus, dessen sich das Leben für seine Zwecke bedient, mit dem Aufhören der ihn ins Spiel setzenden Lebenstätigkeit der Muskeln auf; und die Mechanik der Gliederbewegungen kann nicht im Entfernten als Grund für die Ansicht dienen, dass der Lebensprozess selbst mechanischer Natur sei; um so weniger, als das Leben in seinen Entwickelungsstufen sich diesen Mechanismus erst baut; so dass er keinerlei Ursprünglichkeit im Leben hat.

Der Dritte unter den angeführten Gründen für die Identität des Lebens mit den toten Naturtätigkeiten wird allgemein als am meisten durchgreifend und schlagend für die Iatrophysik betrachtet. Man sagt kurzweg: der Mensch ist nur ein relatives sterbliches Wesen, das seinen absoluten Grund in der unsterblichen Außenwelt hat, und von dieser absolut abhängig ist; er ist eine Zusammensetzung aus Stoffen oder Elementen der Außenwelt und folglich müssen auch die toten Naturgesetze der Außenwelt im Menschen wiederkehren. Diese Ansicht ist es, worauf sich die Theorie des Menschen als Mikrokosmos gründet, der nur ein, aus dem Makrokosmos abgelöstes Atom oder ein Stoffwirbel desselben sein soll. So nennt man die Erde die Mutter oder den Vater der Menschen, und folgert: dass väterliche Arbeit im Sohn liege; oder wie die Iatrophysik: dass Mensch und Erde aus denselben Stoffen gebildet; also auch mit denselben Tätigkeiten begabt sein müssten. Dieser in den antiken, immer noch nicht überwundenen, Weltanschauung wurzelnde Grund hat die meisten Anhänger gefunden, er ist überall stillschweigend gebilligt und niemand hat es dagegen aufzutreten gewagt, darum hat die Iatrochemie der neusten Zeit diesen Grund vor allen für sich geltend machen, und die chemischen Lebenserklärungen so allgemeinen Beifall finden können. Dass der Mensch ohne Essen und Trinken nicht leben kann ist für die kosmologischen Physiologen Grund genug zu der Annahme, dass das Leben schon in Essen und Trinken sitzt und der Mensch lebt, um zu essen; dass er nichts als ein Produkt des Umsatzes von Essen und Trinken, oder wie Lieb ig sagt, der Außenverhältnisse; das Kind umgesetzte Milch, das Rind und Schaaf umgesetztes Gras, der Mensch umgesetztes Rind ist.

Allerdings ist richtig, dass die lebende Welt und der Mensch späteren Daseins ist als die Erde; ja dass der Mensch ohne die Erde nicht dasein würde; allein ob darum die Erde und die todte Naturnotwendigkeit über dem Menschen steht und Herr des Menschen ist, ist eine andre Frage. Nicht immer ist das früher Dagewesene auch das Höhere und Späteres Beherrschende; spätergeborenes Leben kann sehr wohl die Gewalt über die früher dagewesene tote Natur haben; wie in der Stufenentwickelung des Lebens selbst wieder die später entstandenen Generationen vollkommner und höher entwickelt sind, als die früher Dagewesene, wovon wir schon in der Geschichte der Urwelt das sprechendste Zeugnis finden.

So ist also auch das Verhältnis des Menschen zu den Lebensbedingungen von der entgegengesetzten Seite aufzufassen, und aus den vorhandenen Tatsachen das Umgekehrte von dem zu folgern, was die chemische Physiologie aus ihnen folgert. Nicht nur, dass der Mensch den Einwirkungen der äußern Natur und den toten Naturgesetzen der Physik und Chemie sich nicht entziehen kann; sondern auch umgekehrt, dass sich die äußere Natur der Macht des Lebens und besonders der Macht des Menschen nicht entziehen kann; dass also die Lebensbedingungen in der Gewalt des Menschen sind, ist zu betrachten.

Es ist richtig, dass der Mensch Lebensbedürfnisse hat; dass er ohne Essen und Trinken Nichtbestehen kann; doch übersehen, eben so richtig und noch wahrer ist dies; dass die Nahrung, die Luft und alle Lebensbedingungen in der Macht und in der Gewalt des Menschen sind; dass die Außenwelt dem Menschen sich nicht entziehen, nicht wehren kann von dem Menschen verzehrt zu werden; dass alle Mechanik und aller Chemismus der Lebensbedingungen nicht hindert, dass sie in der Verdauung verarbeitet, vernichtet und durch organische Gestaltung in lebendiges Blut umgebildet werden.

Das Höchste ist das Absolute. Wenn also der Mensch die höhere Macht über seine Lebensbedingungen hat, und diese sich seiner Macht nicht entziehen können; so ist nicht der Mensch, als etwas relatives, von den Lebensbedingungen; sondern die Lebensbedingungen sind, als das relative, von der absoluten Macht des Lebens im Menschen über die äußere Natur, abhängig. Was man allgemeine Naturgesetze nennt, steht hiernach nicht über, sondern unter dem Menschen; die sogenannten allgemeinen Naturgesetze sinken zu besonderen herab, über welche noch allgemeinere Lebensgesetze stehen.

5. Hiermit dürften die allgemeinen Gründe der Chemiatrie und Iatrophysik für die Identität von Leben und Tod in der Natur als unhaltbar sich ergeben haben, und es möchte nur noch die Bemerkung sich anschließen, dass diese Gründe rein theoretischer und hypothetischer, durchaus nicht empirischer Natur sind, und im entferntesten nicht den Charakter von wahren Tatsachen haben. Diejenigen also, welche den Lehren der Naturwissenschaften deshalb vertrauen, weil sie nur sichere sinnliche Tatsachen als Bürgschaft der Wahrheit darin erwarten, möchten auch von dieser Seite der empirischen Begründung der Chemiatrie keine sicheren Stützen zugestehen. Das Weltganze mit dem Weltgeist ist kein einfach empirischer Gegenstand, sondern eine bloße Idee, eine Hypothese, welche die Wissenschaft sich gebildet hat. Ihr gegenüber steht eine große Tatsache, die Tatsache, dass ungeachtet alles Vergehens und Strebens der einzelnen lebenden Wesen, das Leben überhaupt, und die lebendigen Naturreiche, der Menschen der Spitze, doch nicht aus der Welt zu bringen sind, dass sie, anstatt im Weltall unterzugehen, sich vielmehr immer höher ausbilden und sich die Außenwelt unterordnen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Leben, Gesundheit, Krankheit, Heilung