Abschnitt 2

VII.
Gesellschaftliche Gegensätze.


Es ist nicht bloß das Landesklima, welches der milden Frühlingsblüthe nur wenige Tage gestattet, sondern auch das angeborene Unabhängigkeitsgefühl die Ursache, daß der ersten Frische und Unschuld der Jugend eine so kurze Spanne Zeit vergönnt ist. Kleine Mädchen wenden und drehen sich wie Dämchen und lassen sich von den Knaben ernsthaft Komplimente sagen als wären es schon stattliche Kavaliere. Kindliche Freuden, die Naivetät der Sinne und des Herzens, das weiche Anschmiegen des Gemüths müssen dabei freilich bald verschwinden. Die armen Kinder büßen das schönste Glück der Kindheit ein. Kaum erwachsen aber treten die Mädchen wie Herrinnen auf, geben und nehmen Besuche und Gesellschaften und gehen und fahren aus mit ihren Freunden, wann und wohin es ihnen beliebt. Bei dieser Freiheit im täglichen Umgang gedeiht zwar der Stolz und die Selbstständigkeit des Charakters, aber sie legt sich auch wie ein kalter Reif auf die Poesie und Wärme des jungfräulichen Herzens.


Die meisten jungen Mädchen haben ein Benehmen als wären sie schon ein paarmal verlobt gewesen. Heirathen auf der Flucht oder insgeheim sind häufig, und es ist auch nichts Unerhörtes, wenn eine junge Dame, die Jedermann für unvermählt halten mußte, eines Abends der Gesellschaft ihren Mann vorstellt, dem sie schon vor Jahr und Tag angetraut war. Viele heirathen in Amerika auf gut Glück, gerade wie sie in irgend eine neue Gegend reisen ohne Geschäftsplan, aber mit der Zuversicht, es werde sich schon etwas finden woraus Geld zu machen. Bei solcher Gesinnung ist die Ehe nichts als ein Vertrag, der ebenso entschieden die Unabhängigkeit als die Einheit beider Theile wahrt. In den Vereinigten Staaten kann man mehr als anderswo eine Menge von Ehen zählen, die obenhin betrachtet, friedlich und glücklich sind, aber auch nirgends so viele äußerlich streng regelrechte Ehen, welche nur auf gegenseitiger kühler Achtung beruhen; jeder thut was er will, wenn nur der Anstand und der gute Schein dabei gewahrt wird. Der Deutsche faßt die Ehe auf als eine Harmonie der Seelen, welche in einander ruhen, und als eine gegenseitige Ausfüllung und Ergänzung der Charaktere. In Amerika aber geht jener schöne biblische Mythus, welcher lehrt, daß das Weib aus des Mannes Brust geschaffen worden, nur theilweise in Erfüllung. Wenn eine Amerikanerin einen Deutschen heirathet, so stellt sie sich gewöhnlich vorher die Frage, ob ihr Mann auch hübsch folgsam sein und ihr in Putz und Gesellschaft freien Willen lassen werde. Eine rechte Frau würde um alles in der Welt keinen Mann haben wollen, der so wenig hochherzig wäre, daß er nie etwas anderes als der gefällige Freund und Diener sein wollte.

Noch in tausend andern Beziehungen läßt sich die ewig rege Schwingung des Unabhängigkeitsgefühls nachweisen, es ist das Zünglein auf der Wage. Der Amerikaner dient nie. Zwingt ihn die Noth, sein Ich auch nur auf leichte Weise unter das Gebot eines andern zu stellen, so hat er immer die nächste Stunde im Auge, wo er wieder frei werden kann. Wenn ein Dienstbote nach Laune und Willkühr seines Herrn Haus verläßt, giebt es kaum ein Mittel, nur eine Entschädigung von ihm zu erlangen. Man würde es eben so seltsam finden, wenn ein Vater seinen Töchtern den Besuch irgend einer Sektenkirche erschweren oder seine Söhne ihre politische Ansicht entgelten lassen wollte, als es unerhört wäre, überhaupt die vollständigste Freiheit im Sektenbilden oder im Aussprechen politischer und sozialer Ideen zu beschränken. „Ich erkläre,“ so fangen schon die Kinder ihre Sätze an. Die republikanische Staatsverfassung ist nur eine fortgesetzte Anwendung dieses „Ich erkläre,“ das jeder Bürger ausspricht. Sie ist nicht die Mutter, sondern die Tochter des Unabhängigkeitssinnes, und so lange dieser nicht auszurotten, so lange ist auch die politische Freiheit ungefährdet. Der Mensch ist in Amerika so sehr Herr seines Leibes, daß man im Nothfall mit Leichtigkeit sich Dinge erlaubt, vor denen das natürliche Gefühl zurückscheut. Auch jene Neigung der Amerikaner, das Gute nicht seiner selbst wegen, nicht rein aus innerem Antriebe und aus Wohlgefallen daran zu thun, sondern weil es heilsam und förderlich ist, hängt mit jenem immer kühlen, immer berechnenden Selbstgefühl zusammen, das sich auch dem Zuge des Herzens nicht gefangen geben will. Um unabhängig, independent, zu sein, strebt der Amerikaner hartnäckig nach Geld und Gut, und deshalb erhebt er immer wieder den Nacken, wenn auch zentnerschwer das Unglück darauf fällt. Reichthum ist Macht, ist Freiheit von Andern; um sich den Boden zu schaffen, auf dem er unabhängig stehen kann mit all seinen Wünschen und Launen, häuft er Reichthümer zusammen. Je mehr erworben wird, desto mehr weitet sich das Selbstgefühl in seiner Brust, und desto unersättlicher verlangt er immer größern Raum, immer größere Mittel, sich zu entfalten und zu schwelgen im vollsten Bewußtsein seiner Macht und Freiheit.

Der Assoziationsgeist, der in Amerika so unzählige weit verzweigte Einigungen hervorruft, scheint im Gegensatze zu dem Unabhängigkeitsgefühl zu stehen, jedoch nur scheinbar. Dieses isolirt die Einzelnen, aber befähigt sie eben dadurch, sich durch freie Verträge mit einander zu verbinden. Nicht indem sie sich einander unterordnen, sondern dadurch daß sie als völlig Gleichberechtigte zusammentreten, bringen sie durch ihre Gesammtkraft mit großer Schnelligkeit riesenhafte Schöpfungen hervor, welche die Gewalt eines Einzigen, und wenn sie auch über die Mittel von Hunderttausenden verfügte, vergebens anstreben würde. Das Geheimniß liegt darin, daß in der Assoziation zuletzt jeder doch nur wie ein Punkt für sich allein arbeitet, aber weil er nur durch den Welteifer der Gesammtheit gewinnen kann, aus Eigensucht alle seine Kräfte mitspielen läßt. Weil der Einzelne seine Geltung und seine Wirksamkeit zugleich in Andern fühlen will, entsteht in Amerika die große Anzahl von Genossenschaften zu gesellschaftlichen, politischen und industriellen Zwecken. Gerade das dadurch erweckte Selbstgefühl der Einzelnen ist es, welches so gern in den öffentlichen Aufzügen der Genossenschaften paradirt. In diesem steht das Volk frei geschaart und frei geordnet zusammen.

Schwerer als die allgemein verbreitete Neigung zu Assoziationen ist die Allgewalt der öffentlichen Meinung zu begreifen. Nirgend anderswo giebt es eine so gebieterische und dabei so launische Tyrannei. Wenn sie vorschlüge, Flotten zu bauen, um ganz Palästina zu bevölkern, so würden wenige mehr darüber lachen. Sie kann Schändlichkeiten zu Vorzügen stempeln und erbärmliche Dinge zu erhabenen Phantomen aufblasen. Hat aber ein öffentlicher Unsinn oder eine politische Schlechtigkeit eine Zeit lang gedauert, so springt die öffentliche Meinung wieder auf mit der Kraft eines Erzengels und fegt mit feurigem Schwerte die Tenne wieder rein. In Europa vermag die öffentliche Meinung eher das Aufkommen neuer Untugenden zu verhindern, als von althergebrachten zu heilen. In Amerika würde sie, einmal erwacht, alles gleich über den Haufen rennen und gleich das Herrlichste gestalten, wenn die Ideen, welche sie auf ihr Banner schreibt, nicht bei der Ausführung erlahmten. Die schlauen Staatsmänner segeln zwar eine Zeitlang mit auf dem Strome der öffentlichen Meinung, aber bald wissen sie Hindernisse und Parteiinteressen geschickt und wirksam in einander zu flechten, der Volksgeist hat sich unterdessen wieder beruhigt, und von seinem ungeheuren Anlaufe bleiben nur kleine, aber meist gute Ergebnisse zurück. Wenn nun scheu die öffentliche Meinung die Unabhängigkeit der Einzelnen so häufig niederstürmt, so verträgt sich mit dieser noch viel weniger die ewige ängstliche Rücksicht, die sie auf einander nehmen. Auf der großen Gesellschaft in Amerika liegt ein Zwang, der einem Europäer unleidlich ist. Man fürchtet anzustoßen, man fürchtet noch mehr, irgend etwas zu thun oder zu sagen, was noch nicht allgemein gut geheißen ist. Daher hält man ängstlich seine Meinung zurück und forscht behutsam nach der des andern. Die Leute gehen ewig um einander herum, als wenn jeder für den anderen ein heißer Ofen wäre. Sie sind nicht blos blinde Sklaven der öffentlichen Meinung, sondern halten sich auch gegenseitig an der Leine. Nun gar etwas gerade heraus zu thun, was die öffentliche Meinung ausdrücklich mißbilligt, hieße glühend Eisen anfassen. Der Südländer würde sich eher selbst erschießen, ehe er sich auf eine Aufforderung zum Zweikampf nicht stellte; der Neuengländer lieber gleich Shaker werden, ehe er sich für irreligiös halten ließe; der Westländer ist immer noch am meisten natürlich und unbefangen. Diese Macht der öffentlichen Meinung entsteht aber daraus, daß ihr Ursprung verborgen ist. Würde sie durch bestimmte Stände oder Parteien gemacht, so würden auch die Widersacher nicht fehlen. Sie entsteht aber als Gemeingut aller, keimt langsam in unzähligen Köpfen, erhebt sich plötzlich und reißt alles fort wie ein Wirbelwind.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und Leute in der alten und neuen Welt, Band II