Abschnitt 1

VII.
Gesellschaftliche Gegensätze.


Wer einmal in Amerika gewesen, erinnert sich gewiß noch daran, daß er in einer Stunde oft zehn ganz entgegengesetzte Ansichten über dortige Verhältnisse hörte, und doch schien die Sache jedem so klar wie Sonnenlicht. Je länger einer in diesem Lande eingebürgert, desto einseitiger und hartnäckiger wird sein Urtheil darüber. Wenn das nun Einheimischen so geht, so mag der Fremde sich noch mehr in Acht nehmen. In der That ist die Linie sehr fein, jenseits welcher ihm das ganze Land glänzt wie ein Zauberwald, während ein anderer eben alles unter der Linie sieht, statt des erhabenen Aufschwungs Fäulniß offen und geheim, statt neuer Civilisation nur die alte in einer gröberen Ausgabe für’s Volk. Der grämliche Beobachter findet sehr bald einsiedlerische Murrköpfe und verunglückte Einwanderer, diese lassen ihm über die ganze Union grelle Lichter fallen, in deren Scheine der Fremde nichts als ein hastig arbeitendes Volk erblickt, das im neuen weiten Lande rasch innerlich kalt und alt wird. Ist der Ankömmling aber in rosiger Stimmung, so folgt er ohne Zweifel Führern, welche ihn immer so zu leiten und zu stellen wissen, daß er lauter Herrlichkeiten sieht. Wo sie ihrem Gast einen Blick auf minder Erfreuliches gestatten, malt ihm sogleich ihre Phantasie so lebhaft und kraftvoll die großartigste Zukunft in den Hintergrund, daß er staunend die Erben dieser Segensärnte für die Glücklichsten unter der Sonne erklärt. Der Reisende ist dann gleichsam durch eine Stadt gekommen, auf deren riesenhaften Grundmauern sich unter einer Menge von Nothhütten einige prächtige Bautheile erheben, hinter denen noch unergründliche Kothlachen stecken, – Dank der Führerkunst seiner Freunde glaubt er aber, die Riesenstadt sei schon beinah fertig. Die Amerikaner entfalten darin ein bewunderungswürdiges Talent, ihre Gäste nur das Schöne und Große sehen zu lassen, und sie vollgestopft mit den Herrlichkeiten der Zukunft wieder heimzuschicken. Sie fühlen sich als diejenigen, deren Thaten und Ideen die Menschheit wunderbar erneuern sollen, sie glauben aller Augen auf sich gerichtet, und sind persönlich dabei interessirt, daß man in ihnen die Lehrer und nicht die Stümper sehe.


Man darf sich daher nicht wundern, wenn die Berichterstatter über amerikanische Zustände und Aussichten so häufig von einer ganz verschiedenen Grundidee ausgehn. Amerika ist einmal das Land der Gegensätze. Auf Gluthhitze tritt plötzlich Eiskälte ein; nach dem furchtbarsten Gewitter, wo man fürchten sollte, die Erde springe im nächsten Augenblick wie eine Bombe in Stücken, lächelt wenige Minuten später die Natur in stiller Lieblichkeit. Fast eben so schnell verwandelt sich der ruchloseste Bursche in einen kirchlichen Eiferer, wird der Säufer ein strenger Mäßigkeitsmann; umgekehrt kommen Fälle genug vor, wo Söhne und Töchter aus den ersten Familien in kurzer Zeit ganz verwildern. Jede Erscheinung dieser Art drängt sich so grell und mächtig vor das Auge des Beobachters, daß ihr Gegensatz ihm leicht verdunkelt wird. Der eine denkt nur an den strahlenden wolkenlosen Himmel und die üppige Fruchtbarkeit, der andere kann den Gedanken nicht los werden, daß unter dem grellen Sonnenlicht so rasch und so viel Leben verdorrt, und aus dem feucht schwangern Boden die giftigen Fieberdünste aufsteigen.

Bei dem ersten Eintritt in die amerikanische Gesellschaft fallen indessen nicht Kontraste, sondern viel eher eine weitgedehnte Einförmigkeit ins Auge. Wie an Gesichts- und Leibesbildung sind sich die Menschen auch in Benehmen und Charakter merkwürdig ähnlich. Studien, Kämpfe und Leiden sind die Schmiede, in welchen die Charaktere zurecht gehämmert werden. Bei den Amerikanern macht sich aber das Leben im Ganzen leicht und glücklich, junge Ehen werden so rasch eingegangen wie neue Geschäfte, das Nationalgefühl wie die Geldgedanken strömen gleichmäßig durch alle Köpfe und Herzen, daher geräth der eine Mensch hier ungefähr geradeso wie der andere. Der Beschauer ist wie in einem Garten, wo überall rothbäckige Aepfel und Birnen von den Bäumen lachen, aber nirgends Weintrauben, Aprikosen und Orangen. Wenn der ächte Künstler daran zu erkennen, daß er seine Gestalten mit individuellem Leib und Leben ausstattet, so wird er in Amerika keine große Mannigfaltigkeit an Vorbildern finden. Allgemeines und leichtes Gedeihen hält die Entwicklung der Charaktere ebenso zurück, als Noth und Dumpfheit des täglichen Lebens. Irländische Feldbauer, ungarische Hirten, russische Soldaten haben eine Familienähnlichkeit, als stammten sie alle von einem Elternpaar. Wenn die Rekruten aus preußisch Polen zuerst nach Berlin kommen, läßt sich das eine Dutzend nicht vom andern unterscheiden; erst nachdem sie Jahr und Tag in den deutschen Städten verkehrten, erhalten ihre Gesichter etwas individuellen Ausdruck. In der amerikanischen Gesellschaft zeigen sich bei näherer Beobachtung wohl scharf geprägte Naturen, hartgesottene Geldherrn, vielgewandte Staatsmänner, geriebene Advokaten und geschmeidige Prediger. Aber auch bei diesen verbergen sich die Ecken und Kanten des Charakters unter der vorsichtigen Zurückhaltung, welche den Amerikanern in Sachen der öffentlichen Meinung eigen ist, sowie unter einem Anstrich von liebenswürdiger Schwäche gegen die Launen und Wünsche der schöneren Hälfte der Gesellschaft. Müssen doch ergraute Männer sich bemühen, in Gegenwart junger Damen so kindlich fröhlich zu erscheinen, als besuchten sie noch gemeinschaftlich die Tanzstunde. Aber auch unter Männern desselben Berufs zeigt sich viel mehr Gleichmäßiges in Rede und Ausdrucksweise, als in der alten Welt. Kennt man einen amerikanischen Prediger, so hat man den Schlüssel zum Thun und Wesen ihrer meisten Amtsbrüder, die katholischen Geistlichen ausgenommen; denn diese, so behaupten die amerikanischen Prediger, verstehe man erst, wenn man gründlich das Wesen der katholischen Kirche studire, und auch dann kenne sie noch keiner ganz.

Dagegen giebt es in der amerikanischen Gesellschaft Kontraste, wie sie in Europa sich nur in den höheren Kreisen der Residenzstädte finden, wo Fremde aus mehreren Ländern sich begegnen. Die Union bildet für sich allein eine Welt von Staaten und Völkern, und deren Verschiedenheiten sind bis in die untern Schichten hinein vertreten. Da ist der feine, vorsichtige, vielwissende Yankee, der leidenschaftliche prahlerische Südländer, der freimüthige Mann aus dem Westen mit seinem ruhigen Selbstvertrauen. Jeder hat warme Anhänglichkeit an sein Geburtsland und dessen Eigenthümlichkeiten, und sucht sie auf Kosten der andern herauszustreichen. Der Südländer ist für den Yankee ein wilder Heide, Jener nennt dafür den Yankee einen scheinheiligen Heuchler, der Westländer gilt beiden als ein selbstgefälliger Halbbarbar. Aber sie alle kennen auch die Vorzüge, die der eine vor dem andern voraus hat, und wie jede Stadt ihren Spottnamen hat, so ist auch das Stichwort bekannt, welches das bezeichnet, worauf sie mit Recht stolz ist. In diese reiche Mannigfaltigkeit mischen sich dann die Ankömmlinge aus Europa, der Irländer, Schotte und Engländer, der Deutsche, Franzose und Spanier; nur der Slave fehlt oder verschwindet bald, seine Nationalität hat überhaupt nur da Dauer, wo sie massenhaft auftritt. Die Verkettung verschiedener Volksarten, welche sich durch Geschäfte, Freundschaften und Heirathen bis in das Innere der Familien hineinzieht, giebt der amerikanischen Gesellschaft etwas Buntes und Lebhaftes und befestigt in ihr ein Durcheinanderwogen von Ansichten, Religionen und Sitten. Der Zu- und Abfluß fremder Elemente läßt aber die meisten amerikanischen Häuser selten zu der ruhigen heimathlichen Gewöhnung kommen, in welcher sich die Familienglieder in stillem innigen Gleichklang der Gemüther neben einander bewegen. Es stellt sich vielmehr der rücksichtsvolle, aber etwas oberflächliche Verkehr ein, welcher die Unterhaltung größerer Gesellschaften bezeichnet.

Der Grundton im Charakter des Amerikaners, die Saite, welche bei all seinem Thun und Denken anklingt, ist das Unabhängigkeitsgefühl. Dies arbeitet in ihm so zäh und tief und empfindlich, daß den meisten Europäern dafür das Verständniß fehlt, weil sie durch Liebe und durch Zucht von Kindesbeinen an anders gewöhnt sind. Den Amerikanern dagegen, wenn sie nach Europa kommen, ist nichts widriger, als das Gebieterische in dem Auftreten der Eltern, Dienstherren und Obrigkeiten. Sie werfen uns den Egoismus vor, der andere nach seinem Willen zwingen will: im Grunde aber sind sie noch viel stärkere Egoisten, weil jeder sich ganz allein haben will. Die Kinder werden zwar unablässig gepflegt und verzärtelt, aber die Gewohnheit, jedem seinen Willen zu lassen, ist so eingewurzelt, daß sie aus Mangel an Ueberwachung häufig in die größten Gefahren laufen. Sobald sie ihr kleines Ich nur fühlen können, sind sie auch aller Zucht entwachsen. Ehe sie bis fünf zählen können, spricht man ihnen schon Gründe vor, weshalb sie das eine thun und das andere lassen sollen. Man braucht nicht gerade die Meinung eines pommerschen alten Herrn zu theilen, daß Kinder gezogen werden müßten, wie junge Hunde, aber es kommt uns doch sonderbar vor, wenn ein Amerikaner seinem Söhnchen die Gründe auseinandersetzt, warum es französisch lernen müsse, und das Knäbchen ihm mit großer Gelassenheit antwortet: „ja, Vater, was Ihr sagt, ist Eure Meinung, und was ich sage, ist die meinige, ich folge doch lieber der meinigen.“ Keiner ist übler daran, als ein deutscher Lehrer in einer amerikanischen Schule, die Rangen spielen ihm unbarmherzig mit, und dabei verlangt man von ihm, er solle ihre Ansicht in Dingen achten, die sie erst von ihm lernen sollen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und Leute in der alten und neuen Welt, Band II