Aix.

XIV.
Die Provence.


In der ersten Morgenfrische ging ich nach Cavallon. Auch dies Städtchen liegt, wie die meisten Ortschaften in der Provence, am Fuße eines Kalkfelsens, der nackt und hoch die Ebene überschaut; auf seinem flachen breiten Rücken hatte eine ganze kleine Burgstadt Raum. Es hat den Anschein, als hätten sich die Menschen mit ihren Wohnungen ganz aus der offnen Ebene zurückgezogen und unter dem Schutze einer solchen Höhe zusammengekauert. Die Gegend verliert hier den weichlichen Anstrich, man sieht nach dem Meere zu schwarze Gebirgszüge. Ich kam wieder über die Durance, welche sich hier in breiter Ausdehnung durch die Sümpfe fortwühlt. Der rauschende Wind trieb die Gewässer zu klatschenden Wogen auf, in der Schilfwaldung war ein unaufhörlich Schwirren und Pfeifen, Wolkenheere jagten dicht über der Erde, es war kühl und frisch, ein rechter Reisemorgen. In Orgon, welches mit seiner alten Burg hochromantisch am Fluß und Gebirge liegt, fand ich ein vorzügliches Frühstück und fiel auch gleich, als ich im Postwagen war, in einen guten Schlaf. Ich habe daher von dem ganzen Wege nichts gesehen, erwachte aber, von den Vaucluser Mühseligkeiten völlig wiederhergestellt, nahe vor Aix. Die Stadt liegt reizend zwischen sanften Höhen, umgeben von einem grün und weiß blinkenden Gürtel von Landhäusern. Im Postwagen war auch ein Offizier, der in der polytechnischen Schule zu Paris eine ausgezeichnete Bildung genossen hatte; wir blieben noch eine Zeitlang in Aix zusammen. Diese französischen Artillerie- und Ingenieuroffiziere zeigen viel Stolz gegenüber ihren Genossen von andern Waffengattungen, sie scheinen diese nur als ihre Handlanger und sich selbst als die Führer der Märsche, Schlachten und Belagerungen zu betrachten.


Aix ist eine freundliche Stadt, und seine Bewohner nehmen für sich ein durch gefälliges und gebildetes Benehmen. Man merkt etwas von dem Tone einer Universitätsstadt und von den Resten der Aristokratie, welche im vorigen Jahrhundert in dieser Stadt einen Mittelpunkt hatte. Nicht wenige der alten hochräumigen Häuser des Adels sehen jetzt sehr still aus; glücklich ihre Bewohner, wenn, wo die Politik nicht mehr herrscht, die Wissenschaft eingezogen ist. Wer von der Kampfbahn des öffentlichen Lebens verdrängt ist, der findet, wenn er sich nicht in religiöse Betrachtungen versenken oder nicht malen und bildhauen kann, in der Wissenschaft den sichersten Trost, sie wird ihm nach und nach eine Freundin, welche Herz und Sinn ausfüllt. Auch die Sprache tönt in Aix weicher und wohlthuender, selbst das Patois hört sich an, als wenn ein Italiener französisch spräche. Die alten schönen Platanenalleen und die Menge der Kaffeehäuser waren niemals leer von Besuchern. Die Leute von Aix suchen durch Feinheit und Annehmlichkeit des Lebens sich auszuzeichnen, da ihre Stadt mit Denkmalen hoher Kunst nicht bedacht ist. Ihre Trümmer von römischen Bädern, ihr Thurm des Marius in der Nachbarschaft, oder gar der Siegesberg, wo die Cimbern geschlagen wurden, sind Liebhabereien für die Alterthumsforscher. Auf die Mariusschlacht aber halten die Bewohner von Aix noch jetzt so ungemein viel, als wenn sie dabei gewesen wären. Ihre gothische Kathedrale ist wohl sehenswerth, aber die nordische Kunst konnte hier in der Provence sich nicht zu reinen Formen abklären. Ich trat noch Abends spät ein und bewunderte die magische Lichtwirkung, welche drei oder vier Lampen in dem weiten Dome hervorbrachten. Eine Thür mit Steinbildwerk und ein Flügelbild, welches König René geschenkt, der Sage nach auch gemalt hat, sind zwei Kleinode der Kathedrale, die Köpfe auf beiden voll feinen lieblichen Ausdrucks.

Auffällig war mir, in Aix so manche politische Inschriften zu finden. Ein Denkmal, welches „Joseph See im vierten Jahre der Republik dieser gesetzestreuen Stadt widmete,“ besteht in einem antik gebauten Thurme, auf dem oben eine Gerechtigkeitsgöttin und in der Mitte ein Herr steht, der eine Gesetztafel hält, nach welcher auf den Seiten ein Mann und eine Frau eifrigst hinsehen. Ueber dem Gesetzträger ist zu lesen. „Kommt, Bewohner der Erde, Nationen, hört das Gesetz.“ Dieses lautet: „Liebt Eure Nächsten, wie Euch selbst.“ dazu sind noch andere Bibelstellen bezeichnet. Unter der Frau ist die Inschrift: „Entronnen einer grausamen Sklaverei habe ich keinen Herrn als mich, aber von der Freiheit will ich keinen andern Gebrauch machen, als dem Gesetze zu gehorchen,“ unter dem Manne: „Treuer Beobachter dieser herrlichen Gesetze, welche ein Gott selbst uns zu geben gewürdigt, habe ich sie jeden Tag vor Augen und werde eher sterben als mich davon trennen.“ Diese ganze öffentliche Kundgebung ist in Geschmack und Inhalt doch recht französisch. Auf Inschriften an andern Orten offenbarte man dagegen Klagen über die Revolution, und pries „Vater Ludwig XVIII.“ Die Parteischeidung ist noch jetzt in diesem Süden schroffer und härter, als im übrigen Frankreich. Die altkönigliche Partei, welche Poesie und Bildung für ihr alleiniges Erbtheil hält, hat eine zähe und ausgebreitete Macht durch die katholische Kirche, die republikanische ist fast ganz in der sozialen aufgegangen und bewegt die gährenden Massen. In der einen wie der andern macht sich weniger ruhiges Urtheil, als unmittelbarer Glaube an die einmal aufgestellten Sätze geltend. Der Romane bringt seine Ansichten gleich in eine bestimmte faßliche Form und hält dann ohne weiteres Nachdenken daran fest, bis ein äußeres Ereigniß ihn auf eine andere Bahn wirft. Der Deutsche bleibt zu seinem Unglück ewig im Untersuchen und Klügeln.

Auch hier, wie so oft im Auslande, traf ich auf deutliche Züge, welche von der deutschen Philosophie und Wissenschaft der höhern Bildung aufgeprägt waren. Es ist als wenn etwas Unwiderstehliches in diesem scharfen Lichte wäre, welches ganz in der Stille von Deutschland ausströmt. Der gewöhnlichen deutschen Schulkenntnisse möchten indessen Manche aus den gebildeten Ständen noch sehr bedürftig sein. So las ich in einer sonst nicht schlecht geschriebenen Zeitung, wie über Männer aus der alten Geschichte ganz mit dem Pathos und der Unkenntniß eines Schulknaben gesprochen wurde, der ehrenwerthe Tiberius Gracchus war dabei ein rechter Nebelheld geworden. In Deutschland hat jede Stadt ein paar klassisch gebildete Männer und würde bei günstigen Zeitumständen vielleicht auch Staatsmänner, Generale und Seehelden liefern: in Frankreich ist auch die höhere Bildung auf die Hauptstadt zusammen gedrängt. Gelehrte und Dichter, Politiker und Industrielle, alle schauen immerfort nur nach Paris, in den Provinzen scheinen sie bloß wie in den Ferien zu leben.

Aix hat eine berühmte Juristenfakultät, und ich besuchte dort einige meiner Fachgenossen. Das römische Recht wird aber hier an seiner alten Stätte keineswegs klassisch betrieben. Man erkannte an, daß die deutschen Juristenschulen jetzt das wären, was einst die von Enjacius, aber von den Ergebnissen deutscher Rechtsforschung kannte man, wie es schien, das Meiste nur vom Hörensagen. Dagegen bissen sich hier die Advokaten arg herum, fünfmal hatten zwei erboßte Gegner ihre gedruckten Streitschriften gewechselt in Ausdrücken, die wahrlich nicht manierlich waren. Wir thun uns Deutschen Unrecht, wenn wir Gelehrtengezänk nur bei uns für heimisch halten. Kurios war mir immer ein französisches Studirzimmer. Der Deutsche begnügt sich mit einer behaglichen Stube, wo seine vielgebrauchten Bücher ungeschmückt ihm nahe zur Hand stehen. Der Franzose aber hat in seinem weiten Zimmer eine imposante Zurüstung von prunkenden Folianten, Statuen und Büsten, und stellt hinter den großen schwerbedeckten Tisch einen prächtigen Sammetsessel. Die Apotheker aller Länder können ebenfalls nicht leben, ohne daß ihr Laden auffällig geschmückt ist.

In Aix trifft man schon auf Seefische und solche Südfrüchte, welche nur an begünstigten Stellen am Meere gedeihen. Der vierstündige Weg bis Marseille ist der schönste, den ich in der Provence gemacht habe. Er hat die Abwechslungen einer Gebirgsstraße, steigt und fällt, bringt hier Tiefthäler und lachende Ortschaften vor den Blick, Windmühlen zu beiden Seiten, dort Felslehnen, eine über der andern, dann wieder das erquickende Grün der Wiesen, selbst Ansätze von Wäldchen. Trotz der Eisenbahn rollt hier ein Wagen nach dem andern durch den Staub der Straßen. Im Dorfe Beaume, anderthalb Stunden von Marseille, rathe ich jedem Landsmanne, sich unter den Weinlauben an der Straße an ihrem köstlichen Gewächse zu laben, und dann gemach die Höhe hinter dem Dorfe hinauf zu steigen, denn da oben sieht er auf einmal das Meer. Das Meer! Der erste Anblick wirkt erschütternd, aber unsäglich wohlthuend. Alles Denken und Empfinden ist wie in lichte Größe eingetaucht, und doch die Seele so kindlich glücklich, so daseinsfroh. Und ich sah dort das Meer in voller Pracht, die Sonne stieg hinab zum Wellenbade, und es athmete wie röthliche Gluth über der weiten Fläche, und die blauen Inseln und Felsen umkränzte ein rosig Schimmern. Die Alten hatten Recht, der blaue, endlos rollende Poseidon ist ebenbürtig dem lichthohen Aetherblau des Zeus.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und Leute in der alten und neuen Welt, Band II