Abschnitt 3

V.
Cincinnati.


Ermüdet von dem amerikanischen Treiben griff ich einmal freudig zu, als ich bei einem Landsmanne die Prachtausgabe von Tiecks Werken fand. Auch der Fürst der Romantiker stand hier bestaubt im Winkel: der ihn sich zur Erholung mitgebracht, hatte seit drei Jahren diese Bücher nicht mehr aufgeschlagen. Ich aber erfrischte mich durstig an diesem köstlichen Strome von Leben und Poesie und stand auf einmal wieder in den blühenden Hainen voll himmlischer Gebilde und ewiger Gedanken. Aber – nach und nach wurde mir eine gewisse Leere merkbar, diese ganze Zauberwelt schwebte rein in der Luft, bitterwenig hatte realen Boden. Und wie war es einem so hohen und schöpferischen Geiste, wie Tieck, möglich, in der Zeit der tiefsten Schmach des deutschen Volkes, unter der Napoleonischen Herrschaft, sich mit so viel Kindereien zu beladen, und kein Wort, keinen Ton zu haben für das Elend des Vaterlandes! Nie wurde mir die ungeheure Fülle und Ausdehnung unserer Literatur auffälliger, aber niemals wurde mir auch das Ueberwuchern des Unmännlichen darin und der überkünstelten Empfindung widerwärtiger, als wenn ich mich unter andern Völkern befand. Diese staunen unsere Universalität des Wissens an, sie nennen uns die Großhändler der Wissenschaft, die Weltphilosophen, das Volk der Denker und der schönen Humanität, aber sie haben, einige schmachtende Ladies ausgenommen, nur ein mitleidiges Lächeln und geradezu kein Verständniß für die vielen großen Kinder in unserer Literatur, jene schwächlichen Gemüther, die sich mit lauter Seelenduft umhüllen und dann gleich üppigen Treibhausblumen im Spiegel beschauen.


Für Cincinnati hatte ich mir sieben Tage festgesetzt, es wurden aber sieben Monate daraus. Ich fing nämlich, mannichfach dazu aufgefordert und unterstützt, hier an, einen Abriß der deutsch-amerikanischen Geschichte aus den Notizen zu bilden, die ich hin und wieder bisher gesammelt hatte. Es sollte nur ein paar Bogen geben, das Unternehmen aber wurde so anziehend und erregte solche Theilnahme, daß ich Monat auf Monat in immer heißerer Arbeit zusetzte, bis zuletzt jenes größere Werk, „Geschichte und Zustände der Deutschen in Amerika“ entstanden war, welches als das erste seiner Art am Ohio gedruckt wurde. In dieser Zeit habe ich vielerlei Amerikanisches kennen gelernt, indem ich für meinen Zweck mich ebensoviel unter Menschen als in Büchern umzusehen hatte. Hat man nur ein paar Einführungszeilen von berühmten Männern in Europa, so findet man von einer amerikanischen Stadt zur andern eine Gastfreiheit ohne Ende, und wenn man einmal die stehenden Formen und Ansichten der dortigen Gesellschaft kennt, bewegt man sich darin leicht und sicher. Ich verkehrte in Cincinnati zudem viel mit deutschen Doktoren, welche auch unter den vornehmern Klassen bedeutende Praxis hatten, und bekam dadurch Gelegenheit, manchmal tiefere Blicke zu thun in das Familienleben hinter den prunkenden Empfangszimmern. Alles und jedes, was in der Familie geschieht, unterliegt einerseits dem Bewußtsein, daß jeder vollständig und allein Herr über sich selbst ist. und andrerseits der unbedingten Herrschaft der öffentlichen Sitte. Kerngesunde Menschen giebt es unter den Amerikanern unglaublich wenig. Wie es bei Leuten von reizbaren Nerven gewöhnlich ist, stellt sich bei der Mehrzahl der Amerikaner von Zeit zu Zeit wiederkehrend eine krankhafte Neigung ein sich aufzuregen, und dieses Bedürfniß zu befriedigen greift man im Stillen zu seltsamen Geheimmitteln.

Die Kreise, welche die Amerikaner „unsere beste Gesellschaft“ nennen, sind in diesen westlichen Städten eben erst zusammengeflossen aus reich gewordenen Familien von allerlei Bildungsstufen. Eine europäische Reise giebt unter den Reichen dort ein ganz besonderes Ansehen, und man sieht in den mitgebrachten Gemälden die allerärgsten Sudeleien, welche als große Kunstwerke bewundert werden. Vom übrigen Volke suchen sich diese Kreise durch rein äußerliche Gränzlinien scharf abzuscheiden. So gab es in Cincinnati einen Club nach englischer Art, in welchem man mit Bedacht den jährlichen Beitrag auf hundert Dollars gestellt hatte. Ich lernte aber in dieser Stadt viele Familien unter den englischen Amerikanern kennen, deren ganzes Sein mich mit Hochachtung erfüllte. Bei längerem und freundschaftlichem Umgang erkennt man, wie viel Gold in dem Volkscharakter steckt; die Amerikaner selbst sind liebenswürdiger als ihre industriellen Ansichten und Gewohnheiten. Mag es noch so viele Rowdies und Humbuger in ihrem Lande geben, so ist es doch noch viel reicher an Gentlemen. Unter den Farmern wie unter den angesehenern Männern in den Städten trifft man verhältnißmäßig wenige, welche kleinlich, engherzig oder ohne reges Ehrgefühl wären, und das wiegt doch wahrlich manche Schattenseite auf. In ihrer Unterhaltung sprühen selten die Lichtfunken, welche aus origineller Lebensanschauung und tieferer Erkenntniß des Weltlaufs aufblitzen, aber das Gespräch bleibt immer achtungsvoll, anständig, voll trockenen Humors und voll praktischer Einfälle, und stets ist es gehoben durch das Interesse für das große Volksganze. Die Deutschen sehen sich bei der Unterhaltung wie rechte Streithähne immer ins Gesicht, und vergessen dabei die Umgebung und Anforderung ihres Landes und Volkes; der Amerikaner hält auch bei dem gewöhnlichen Gespräch den Blick immer ins Weite gespannt. Und wie zahlreich sind in Amerika solche Frauen, welche mit Herzensgüte oder doch wohlwollender Gesinnung auch praktischen Verstand und Charakterstärke verbinden. In der neuen Handelsrepublik darf man unter den Frauen die glänzende Anmuth und Feinheit aristokratischer Bildung nicht gar häufig erwarten, aber hübsch und lebhaft sind die jüngern fast alle, und statt in zarten, humanen Empfindungen zu schwelgen, legen sie kurzweg Hand ans Werk und helfen der Armuth wirklich.

Es gab damals in Cincinnati zwei Kreise: den einen bildeten vorzugsweise Mitglieder der Episcopalkirche, zu ihnen gehörten die ältern großen Grundbesitzer, der andere Kreis bestand mehr aus Predigern, Advokaten und Kaufleuten. Unter den letztern stehen obenan die Porkmerchants, welche in Schweinefleisch alljährlich Geschäfte und Lieferungen machen so groß wie für Kriegsheere. Sie führen einen Wallfisch im Schilde, weil das Borstenvieh sein Fett durch die grünen Wogen der Prairien trägt, wie der Wallfisch durch das Meer. Zwischen jenen beiden Gesellschaftskreisen herrschte einige Eifersucht, die erstern hielten besonders auf vornehme englische oder virginische Abkunft, die andern rühmten sich einer heitern Bildung und Geselligkeit. Dann und wann hatten die Hauptfamilien große Tage, an welchen die Angesehensten aus dem andern Kreise geladen und Pracht und Vornehmheit besonders stark gezeigt wurden. Man traf aber auch in den meisten Häusern fast jeden Abend Gesellschaft, die ältern spielten Whist, die jüngern unterhielten sich keck und lebhaft; dann kamen spanische Weine und Südfrüchte, kleine Tänze und das unvermeidliche Klavierspiel mit Gesang, und wer nicht gerade vernagelt war, konnte die glücklichsten Augenblicke haben, wenn man spät Abends die Damen nach Hause begleitete. Kein Volk hält strenger auf äußern Anstand, keines leidet weniger an Empfindelei, als die Amerikaner; aber es schien mir auch, daß sie gerade so genußsüchtig seien, wie andere Leute, und viel schneller entschlossen, sich jede Lust zu gewähren.

Das Leben in einer größeren amerikanischen Stadt ist eine Kette von Spannung und Aufregung. Es kribbelt die Leute unaufhörlich nach neuen Dingen. Die öffentliche Meinung bildet und zersetzt sich in raschem Umschwunge. Aufläufe, politische Paraden, Aufzüge von Freimaurern, Schulkindern, Mäßigkeits- und Krankenvereinen und allerlei andern Gesellschaften drängen einander. Was lebt und sich fühlt, will auf die Straße und sich sehen lassen. Was irgendwo in der Union vorgeht, will jeder gleich wissen und besprechen, das giebt täglich neuen Stoff zur Unterhaltung. Daher ist auch die öffentliche Presse so riesenhaft. Die Behörden sind genöthigt, die Zeitungen durch gutbezahlte Inserate und geringe Portosätze zu unterstützen, die Wechselblätter, welche die verschiedenen Redaktionen von einander beziehen, sind ganz portofrei. Ergötzlich nimmt sich da mancher gute Landsmann aus, der widerwillig in dies freche Licht der Oeffentlichkeit gezogen wird. Wie sie ihn ganz von selbst zum Denker macht, drückt sie ihm auch die Feder in die Hand. So zeigte ein Herr in Cilicothe an, man habe ihm das Haus gestürmt, weil es geheißen, er habe „einen beim Stehlen attrapirten Jungen im Backofen verbrannt; nun sei aber dieser wirkliche Junge wieder erschienen, seine Feinde daher mit dem Brandmal der Schande gezüchtigt, und seine Freunde trauernd über den unmenschlichen Hergang seines Schicksals.“ Etwas dieser Art liest man fast in jedem deutschen Zeitungsblatte. In den Zeitungen aber gepriesen, auch nur eines Tages Held zu sein, hat für jeden Amerikaner etwas Hinreißendes, und jedem winkt dieses Glück, der nur irgend etwas für das Land gethan hat. Es war damals der mexikanische Krieg: kam einer daraus zurück, so wurde er jedesmal öffentlich gefeiert, und erschien einer mit dem Arm in der Binde im Theater, so wandten sich sofort ihm aller Blicke zu und Musik und Volk stimmten das Nationallied an. Diese Lebendigkeit des Volksgeistes und die Raschheit der Entschlüsse, welche sie hervorbringt, verbreiten sich dann nothwendig auch auf Geschäft und Verkehr. Wir saßen einmal bei Tische, als in dem Hause gegenüber die Flamme aus dem Dache schlug. Da dergleichen so gewöhnlich, aßen wir ruhig weiter, und als ich drei Stunden später auf die Straße kam, war das obere Stockwerk abgebrannt und saßen die Zimmerleute bereits oben, um Sparren zum neuen Dache herauf zu ziehen. In Deutschland wäre wer weiß wie lange Zeit mit klagen und Plänemachen hingegangen, hier wurde, sobald das Feuer gelöscht war, gleich neues Bauholz aus den Holzlagern geholt. Oft habe ich mich gewundert, wie die einfältigsten Leute aus den untern Volksklassen, welche aus Deutschland herübergekommen, hier so bald sich selbst helfen lernten; in Europa wären sie ihr Lebelang schüchterne, rathsbedürftige Deutsche geblieben. Durch diesen fortwährend drängenden Volksgeist, durch dieses rastlose Selbstschaffen des Einzelnen muß das Volksganze nothwendig Fortschritte machen. Mögen unter den tollen Spekulationen, welche periodisch wie Seuchen um sich greifen, und bei den Eisenbahn- und Kanalbauten von ungeheurer Länge, welche fast mit einem Nichts von wirklichem Kapital angefangen werden, Tausende um das Ihrige kommen, die neuen Verkehrs- und Handelswege bleiben dem Lande zum dauernden Gewinn. Die amerikanische Presse ist ein Abgrund von Schlechtigkeit, sie ist die Sklavin der hergebrachten Unsitten, aber sie ist dennoch großartiger und wirkt mehr für Bildung und Wohlstand des Volkes, als in einem andern Lande.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und Leute in der alten und neuen Welt, Band II