Abschnitt 2

V.
Cincinnati.


Die ganze Ohioseite ist bis tief ins Land hinein bereits sorgfältig angebaut, und wohin man blickt, stehen zwischen Waldgrün zierliche Farmen. Vom Urwald sind indessen nur noch Bruchstücke da, und auch diese können sich an Anmuth mit unsern Wäldern nicht messen, es fehlen die blumigen Matten, die plätschernden Wasser und die lauschigen Plätzchen. Andern Charakter hat dagegen jenseits des Flusses die Kentuckyseite. Dort ist man gleich tief in den „finstern und blutigen Waldgründen“, wo einst so blutig mit den Indianern gefochten wurde. Noch jetzt hat das Land von Kentucky ein dunkles Ansehen, noch jetzt bewahren seine Bewohner, obgleich auch sie schon vom Yankeethume durchsäuert sind, einen guten Rest der alten Herzenswärme und Ritterlichkeit, aber auch der wilden und rohen Sinnesart. Man opfert bei ihnen zwar nicht mehr im Indianerkriege Blut und Leben mit heißem Ungestüm für Freunde und Genossen, man nimmt auch nicht mehr Unterricht in der feinen Kunst, dem Gegner im Faustkampf ein Auge auszudrehen; aber auch jetzt noch fällt auf das beleidigende Wort sogleich der rächende Schlag, auch jetzt noch ist Geradheit und natürlicher Rechtssinn dort vorzugsweise zu Hause. Gleich bei der ersten Begegnung merkt man dem Kentuckier ein anderes warmherzigeres Leben an, als dem dürren Yankee und dem sinnlich trägen Kreolen. Ohne Zweifel sind die Kentuckier und die ihnen verwandten Tennesseer, Caroliner und Virginier entstanden aus einer Mischung vom alten virginischen Raubvolk mit den harten Schotten und den ehrlichen Deutschen.


Kentuckier und Pennsylvanier-Deutsche, Yankees und Neudeutsche haben Cincinnati gegründet, eine reiche lebensvolle Stadt; der Gegensatz des amerikanischen Ostens und Westens verbindet sich in ihr mit europäischen Zuflüssen zu einem neuamerikanischen Wesen. Auch Engländer scheinen mit Vorliebe Cincinnati für ihre Niederlassung zu wählen. Die Yankees, welche aus den Neuenglandstaaten abstammen, geben in Geschäft, Kirche und Politik vorzugsweise den Ton an, ihre strenge und rastlose Thätigkeit beherrscht und treibt zugleich die übrigen. Mitten unter diesen haben sie noch eine Art heimathlicher Verbindung mit einander. In der zweiten Woche meiner Ankunft in Cincinnati feierten sie den Jahrestag der Landung der Pilgrime. Die Predigten und Gesänge des Morgens in der Kirche haspelten dieselbe Idee ab, wie die Toaste des Abends auf dem Balle, nämlich das Land der Freiheit, wo Milch und Honig fließe, der Wohnsitz der Kinder der heiligen Pilgrime, sei wenn auch noch nicht der Himmel selbst, aber doch der ganz nahe Vorhof zum Himmel. Die Toaste wurden stehend bei den Tischen ausgebracht, diese waren absichtlich mit den halbrohen Wald- und Feldfrüchten besetzt, an denen sich die ersten Ansiedler etwas zu Gute thaten, und das Getränk zu den Toasten war bloß dünner Kaffee. Die Einladungskarte zu dem Feste, welche ich durch die Aufmerksamkeit eines Festordners bekommen hatte, lautete auf mich und meine Dame. Als ich daher auf den Ball kam und unter lauter Paaren mich etwas verlassen sah, dachte ich an die Landesfreiheit und ging nach dem Hause einer jungen Neuengländerin, in deren Familie ich eingeführt war. Meine Bitte wurde freundlich gewährt, der Ballanzug war rasch fertig, und der Ehemann, der uns noch in der Thür begegnete, wünschte uns einen fröhlichen Abend, erst lange nach Mitternacht brachte ich die liebliche Begleiterin zurück. Dem europäischen Ankömmling fällt solche Freiheit im Umgangstone eigen auf, der Amerikaner sagt dagegen, in Europa behandle man die Frauen, als wenn sie niemals mündig würden.

Die Deutschen mögen in und um Cincinnati jetzt beinahe die Hälfte der Bevölkerung bilden, sie rücken jährlich mehr in die vornehmern Stadttheile und größern Geschäfte ein, die Masse wohnt jenseits des Kanals, der die Stadt durchschneidet. Das ganze Ansehen Cincinnati’s und das Leben und Treiben darin ist und bleibt aber vorzugsweise englisch-amerikanisch. Es geht den Deutschen hier wie überall im Auslande, als Einzelne achtet man sie nicht selten sehr hoch, als Volk nur gering. Ich kam einmal übel an bei einer Amerikanerin, als ich meinte, ich hätte sie im deutschen Stadttheile gesehen. „Nein, Herr,“ sagte sie mit scharfer Betonung, „ich gehe niemals jenseits des Kanals.“ Der Abstich des deutschen ärmlichern Stadttheils gegen den englischen macht sich besonders Sonntags bemerklich, dann ist hier alles still, dort strömen die Leute zu den Bier- und Kaffeehäusern, mit denen die Anhöhen rings besetzt sind. Das ist nun der alten Amerikaner endloser Aerger, ein „Sabbathschänder“ ist für sie ein halbes Satanskind; wenn sie es könnten, würden sie dem Niagara und der Meerfluth verbieten, am Sonntag zu rauschen, damit rings umher nur die stumme feierliche Ruhe sei, in welcher ganz ungestört die Geschäftsplänchen für die nächste Woche gedeihen. Es kam wohl vor, daß uns, wenn wir in mehrern Wagen Sonntags Ausflüge machten, die Buben Steine nachwerfen. Der Amerikaner denkt vom Deutschen nur gar zu gern: er hat nichts und er glaubt nichts. Unter einander aber sind Unsre Landsleute, besonders in Cincinnati, in heftige Parteiung zerfallen, kirchlich und politisch, sie marschiren und kämpfen fortwährend gegen einander in geschlossenen Gliedern.

Cincinnati ist jetzt noch wie fast alle amerikanischen Städte nichts als Handels- und Fabrikort; beides wird die Stadt immer bleiben, denn der Ohio kann ihr nie genommen werden, und die Lande an seinen beiden Ufern sind reich besiedelt und bringen Lasten von Roherzeugnissen hervor. Ein Gang am Vormittag über den Marktplatz zeigt eine außerordentliche Fülle und Mannichfaltigkeit der Bodenerzeugnisse. Zu Weihnachten will jede angesehene Fleischerbude auch ihre Bären aushängen haben. Das bunte Gewühl auf solchem Markte, die Auszierung der Buden, der helle Lichtglanz dazwischen, erinnern lebhaft an Italien. Schon des Abends vorher reihen sich die kleinen Farmerwagen an den beiden Langseiten des Platzes, die Deichsel, bei der die Pferde fressen, nach innen, die hintere offene Seite des Wagens den Häusern zugekehrt. Morgens früh kaufen die Amerikaner englischer Abkunft ein, da sieht man wenige Damenhüte, aber Richter, Prediger und Aerzte mit ihren Marktkörben. Gegen neun Uhr kommen die deutschen Frauen, diese wollen die Einkäufe für die Küche doch lieber selbst besorgen, als sich von ihren Männern ranzige Butter und abgängige Eier ins Haus bringen zu lassen.

Neuyork, San Francisco, Cincinnati, St. Louis sind ohne Zweifel die vier Städte in der Union, welche die nächste größte Zukunft vor sich haben. Cincinnati aber scheint mir danach angethan, nicht bloß ein großer Mittelpunkt des Handels, sondern auch ein Sitz der geistigen Interessen, eine Art Boston des Westens zu werden. Die Stadt hat eine für Amerika ziemlich gesunde Lust, ihre Umgebung ist lieblich und unter ihren Bewohnern herrscht mehr als anderswo Neigung, sich geistig zu beschäftigen. Bis jetzt ist freilich noch wenig Wissenschaft da, ich glaube, wenn man die große Menge der gebildeten Deutschen abrechnet, giebt es in der ganzen Stadt nicht drei Amerikaner, welche ohne Hülfe ein lateinisches oder griechisches Buch lesen. Was wir etwa auf den Mittelklassen unserer Gymnasien wußten, das giebt auch hier in der höhern Gesellschaft zum großen Theile Stoff und Richtung für das Denken. Aber es besteht darin ein großer Unterschied von europäischer Bildung, daß in Amerika an jenem geistigen Gute alle Volksklassen, keine ausgenommen, gleichmäßig Theil nehmen, und daß jede Idee auch sofort auf den Probirstein des Praktischen kommt. An Kenntniß und Erfahrung, wie ein Land groß und reich zu machen, wie die Naturkräfte zu fassen und auszubeuten, die Haufen der Menschen zu bewegen sind, ist vielleicht eine einzige amerikanische Großstadt reicher als manches europäische Land. Das ganze Volk denkt und sinnt Tag und Nacht auf neue Maschinen und neue Gewerbe, und nirgends auf der Welt unterhält man sich so viel von Riesendampfern, von Städten, in welchen jedes Haus durch unterirdische Heizröhren eine beständige und wohlfeile Wärme empfangen soll, von Tunnels unter dem Meere her, Luftschiffen und allen Erd- und Himmelsgeistern. Es ist nichts so Verwegenes, nichts so Tolles unter der Sonne da gewesen, was in Amerika nicht wieder gedacht würde und nicht seinen Markt fände. Die Natur hat für die Amerikaner keine poetischen Schrecken und keine Erhabenheit, welche sie befangen machen könnte. Sie berechnen ganz trocken, wie viel Kraft die Natur anwendet und wie viel man ihr entgegensetzen müsse, um sich ihrer zu bemeistern. Wenn bei alledem die Amerikaner so wenig, was neu und groß wäre, selbst ausdenken und eigentlich immer nur das handlicher machen oder stattlicher ausführen, was in Europa schon erfunden war, so kann ich den Grund nur in einer eigenthümlichen Unfruchtbarkeit der Denkkraft finden, mag nun der Geschäftswirbel oder mag das Klima die geistigen Fruchtkeime austrocknen. Wir Deutsche dagegen erfinden sehr viel, aber wir bleiben geistig vornehm auf dem Sopha liegen und müssen hernach betteln gehen bei denen, welche unsere Ideen nutzbar machen; es fehlt uns der lebendige Volksgeist, welcher anfeuert, ausführt und belohnt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und Leute in der alten und neuen Welt, Band II