Gegen halb vier Uhr landeten wir auf der Insel vor Montreal. Es zieht sich hier ein Wasserfall, la Chine genannt, ...

IX.
Ontariosee und St. Lorenzstrom.


Gegen halb vier Uhr landeten wir auf der Insel vor Montreal. Es zieht sich hier ein Wasserfall, la Chine genannt, durch die ganze Breite des Stromes und zwingt die Dampfschiffe anzulegen. Eine Anzahl höchst altmodischer Kutschen stand am Ufer, und es dauerte lange, bis darin die ganze Gesellschaft untergebracht war. Gegenüber lag ein indianisches Dorf, ringsum waren nur Wasser und niedrige Insel- und Uferspitzen zu sehen. Der Wind wehte kalt und schneidend, auch die Kutscher hatten ihre Kapuze über den Kopf, und ich begriff, daß diese Landestracht, welche ich später an Röcken und Mänteln vielfach angebracht fand, recht angemessen ist. Endlich ging es die zwei Stunden weit zur Stadt. Lange steinerne Bauernhäuser, Obstgärten mit Mauern, das Glockengeläute, welches die Stille durchtönte, das alterthümliche Aussehen der Stadt und die finstern Straßen versetzten mich nach Europa und ins vorige Jahrhundert zurück. Im großen Ottawahotel fand ich jedoch amerikanische Unruhe bei europäischem Comfort, und das Durcheinander von englischen und französischen Worten, von amerikanischen und canadischen Gebräuchen im Gasthof spiegelte deutlich den Uebergangszustand ab, in welchem sich hier Land und Leute befinden.


Glücklicher Weise war der nächste Tag ein Sonntag. Ich freute mich wie ein Kind, einmal wieder recht volles Glockengeläute zu hören, und als ich am Morgen aus dem Fenster sah, meinte ich, Amerika läge weit hinter mir; so heimathlich zog die Sonntagsfeier durch die Straßen, nirgends das Frostige des amerikanischen Sonntags. Die Kirchengänger nickten Bekannten in die Fenster und begrüßten lachend und scherzend die ihnen begegnenden, europäische Kutschen mit geputzten Damen rollten vorüber, und die altmodischen rauchenden Schornsteine erinnerten gar zu lebhaft an die Sonntagsschmäuse mit lieben Freunden und Verwandten.

Mein erster Gang war zum Dome. Es ist ein prachtvolles Gebäude, zu welchem die Baumeister die Pläne der Kathedralen von York, Canterbury und Rouen benutzt haben. Keine andere Kirche in Nordamerika kann sich mit ihm messen, es soll zehntausend Menschen fassen können. Seine grandiosen Massen erscheinen aber in zu einfachen Formen, etwas gothischer Schmuck würde sie viel herrlicher ins Auge fallen lassen. Das Innere war dunkel wie eine ungeheure Grabeskirche, und angefüllt von Menschen. Es erschienen da alle möglichen Trachten vereinigt, vom irländischen Lump und canadischen Bauer bis zum bepelzten Bürger, englischen Officier und zur französischen Modedame. Die Landleute standen und saßen zusammen in malerischen Gruppen, über welche sich durch die farbigen Hochfenster ein mattes, rosiges Licht ergoß. Die musikalische Messe hätte ein besseres Orchester nöthig gehabt, auch der Gesang kam mir ein wenig bäurisch vor, und der Prediger auf der Kanzel geberdete sich so heftig und herausfordernd, daß man sich kaum überzeugte, er predige über die Liebe. „Was ist die Liebe?“ rief er. „Besteht sie im Beten? Nein, im Kirchenbauen, in Hospital bauen. Was ist die Liebe? Besteht sie in Seufzen und Händeringen? Nein, im Brodbacken und den Armen geben. Ein Christ ohne Liebe ist ein Geschöpf ohne Herz, dieses kann nicht leben für die Erde, jener nicht für den Himmel. Wollt ihr nicht lieben, so seid ihr für die Hölle reif.“ Die canadischen Damen, als sie sich zu den Ausgangspforten drängten, traten auf wie geputzte Pariserinnen, sie sind etwas zu tief gefärbt, mit vollem sprechendem Munde, aber die Augen sind feurig, und jede Bewegung und Geberde verräth eine südliche Gluth. Aus einer andern Kirche marschierten Soldaten hervor mit überaus schlechter Musik. Der Platz in der Nähe hieß ganz europäisch Paradeplatz. Aus dem budenbesetzten Marktplatze erhob sich eine Nelsonssäule, angeblich ein Geschenk der canadischen Bewunderinnen des Seehelden. Wer aus den Vereinigten Staaten kommt, kann sich nicht sogleich gewöhnen an Häuser aus grauen Bruchsteinen ausgeführt, an gewundene und winkliche Straßen, Trottoirs, alte Burghöfe, mit eisernen Fenstergittern, und an die auffallend vielen Bedachungen von bleichem Zink. Am Quai wie überall in der Stadt wurde viel gebaut, um ihr ein modernes Ansehen zu geben; Montreal ist ganz in demselben Uebergange begriffen, wie die alten europäischen Städte, jedoch wird noch eine lange Zeit darüber hingehen, ehe Montreal sein hartes und finsteres Aussehen verliert.

Am Quai lagen Seeschiffe in Menge; fünfhundert Meilen von der See können Schiffe mit fünfzehn Fuß Tiefgang hier dicht am Ufer anlegen, löschen und einladen. Die kleinen Flußboote, welche die Erzeugnisse der ganzen Umgegend hierher bringen und Fabrikwaaren mitnehmen, waren unzählig. Montreal hat den Haupthandel für beide Canadas und eine höchst betriebsame Bevölkerung, aber auch einen Pöbel, so roh, ruchlos und leidenschaftlich, wie man ihn nicht schlimmer findet in Marseille oder Rouen. Vorzüglich der Holzhandel beschäftigt eine große Anzahl dieser Leute auf den weiten Holzhöfen mit Fahren und Zurichten des Holzes. Nachmittags sah ich sie haufenweise vor den Schenken lärmen und zechen. Es giebt viele Tausende von Holzfällern, welche Monate lang tief in den Wäldern ein rauhes, aber lustiges Leben führen. Flinte, Messer und Brandyflasche sind ihnen ebenso ständig zur Hand als die Axt. Bei Streitigkeiten liefern sie sich Schlachten, von denen die Wälder wiederhallen, und bei Gelagen sind sie so wild und verschwenderisch, daß sie an einem Sonntag den Verdienst eines Vierteljahres verjubeln. Es sind die Matrosen der Urwälder. Sie durchziehen ganz brittisch Nordamerika und beleben die Wälder bereits bis zu den Gewässern des Obern Mississippi. Mich interessirte besonders auch der Pelzhandel, der in Montreal einen Hauptsitz hat, und ich besuchte zwei Pelzläden, in welchen die kostbarsten Waaren in Fülle aufgehäuft lagen. Es war auch manches Pelzwerk dazwischen, welches vom Leipziger Markt herüber gekommen. Eine der hier ansässigen Pelzhändlergesellschaften hat an dreitausend Waldläufer (Coureurs de bois) im Solde, französische Canadier, welche, um Pelzthiere zu erlegen und Häute von den Indianern einzuhandeln, unglaubliche Reisen und Gefahren bestehen.

Montreal liegt am Abhange eines Berges, der mit seinen stattlichen Massen in die Straßen hinabschaut. Ich dachte ihn geraden Weges zu ersteigen, kam aber übel an. Es traten mir so viel Felsbänke, Sümpfe, Schlingkraut und dichtverworrenes Gebüsch in den Weg, daß ich erst nach mehrstündiger Arbeit zerrissen und blutend an Händen und Gesicht, auf seinem Gipfel anlangte. Hier oben war es eisig kalt, aber eine unendliche Aussicht. Man sieht in die Straßen von Montreal hinein, auf seine bleichen Zinkdächer, Plätze, Spaziergänger, Kutschen, auf die Schiffe am Ufer, die Boote auf dem Strome, und auf das Arsenal auf der Insel mitten im Wasser. Jenseits des Stromes erstreckt sich eine schimmernde Ebene, „der Garten von Canada,“ bis an die blauen Bergmassen, welche den Horizont umsäumen. Wendet man sich nach der entgegengesetzten Seite, so verschwinden die kleinen Häuser am Flusse in den endlosen Waldungen und Sandsteppen. Was aber diese unermeßliche Aussicht vor allem herrlich macht, das sind die Ströme und Seen des St. Lorenz, welche von allen Seiten hell aufglänzen. Ich hätte mein Reiseglück gesegnet, wenn es mir hier oben einen halben Tag milden Sonnenschein gegönnt hätte; so aber mußte ich mich freuen, daß ich dort ein Haus fand, in welchem ich mich wieder erwärmen und erquicken konnte.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und Leute in der alten und neuen Welt, Band I