Unser Postwagen hält in einer der zahlreichen Städte Neuenglands. Wo in der Welt kann es zierlichere ...

XI.
Neuengland.


Unser Postwagen hält in einer der zahlreichen Städte Neuenglands. Wo in der Welt kann es zierlichere hübschere Oertchen geben? Es wird dem Fremden fast ängstlich in dieser außerordentlichen Sauberkeit, er fürchtet, unwillkürlich die strenge Ordnung der Leute zu verletzen. In diesen Städten hört er zu seiner Verwunderung auch von den umliegenden Dörfern reden, denn nirgends zeigte sich ihm etwas wie ein Dorf, höchstens Anfänge zu kleinen Städten. Dorf (Village) heißt aber jede Gemeinde, deren Mitglieder ihre niedlichen Wohnungen in einem weiteren Umkreise stehen haben. Den Mittelpunkt des Dorfes bildet der Platz, wo mehrere breitwändige Gebäude mit hohen Fenstern, die Kirchen der verschiedenen Sekten, die Kaufläden und Gasthäuser, das Gefängniß und die Bank beisammen stehen. Auch durch Niedersachsen sind solche weit ausgedehnte Dorfschaften verbreitet, in denen jeder Bauer einzeln auf seinem Gehöfte wohnt. Aber wo ist hier in Neuengland etwas bäuerisches in Kleidung und Benehmen der Leute zu finden? Es sind städtische Dörfler, ihre Häuschen städtisch eingerichtet, ihre Bildung die merkwürdigste Vereinigung der Ansichten und des Benehmens der wohlhabenderen Klassen in unseren Städten mit der naiven Unwissenheit unseres Landvolks. Diese Neuengländer Dörfler lesen eifrig in Zeitungen, sitzen in ihren Versammlungen ernstlich zu Gericht über die Landespolitik, verfolgen mit scharfen Blicken den Gang des Großhandels, und beweisen ihre Religionssätze frei aus der Bibel so leicht und gewandt wie ein Prediger oder Advokat. Aber sie mähen und pflügen auch wie Bauern und meinen, Europa sei besetzt von biblischen Königen und Knechten, und die Indianer halten sie für natürliche Kinder Satans, die Yankees aber an Wissenschaft wie an Heiligkeit für das Mustervolk der Erde. Sie würden nicht glauben, daß der Mond nichts als eine freundliche Nachtlaterne sei, aber über die Kunst, sich mit Mondbewohnern in direkte Verbindung zu setzen, würden sie gläubig eine Vorlesung anhören. Mehr noch als im übrigen Amerika sind in Neuengland diejenigen Familien geehrt, deren Vorfahren einst in der Geschichte Amerikas glänzten, und den Ortschaften den Namen gaben, aber das Innere auch dieser Familien unterliegt einer öffentlichen Neugier und Klatscherei, welche für den europäischen Geschmack unerträglich wäre.


Treten wir nun eines Abends in eine solche Landwohnung ein. Der Neuengländer spricht zwar gern in biblischer Weise vom Schatten des Feigenbaumes, unter welchem der Frieden wohne, aber sein Haus läßt er gleichwohl schattenlos. Schon seine Vorfahren haben in den bestbesiedelten Gegenden eine solche Verwüstung im Urwalde angerichtet, daß das Holz theuer und starke lange Bäume selten geworden. Der Yankee braucht zu seinem Geschäfte kein Plätzchen im kühlen Baumschatten. Auch das Gärtchen bei dem Hause scheint mit Blumen und Rasenplätzen mehr zum Beschauen da, als um sich darin zu ergehen. Vor und im Hause ist alles geräuschlose Stille, kein Flattern und Schreien des Hühnerhofes, kein Hundegebell und Pferdegewieher; selbst die kleinen Buben, wenn sie sich einmal balgen, geben sich die Püffe ohne viel Worte, das Geschrei gehört ja nicht zur Sache, und daß Schimpfen unanständig und Selbstbeherrschung rühmlich sei, weiß schon der Knabe. Der Hausherr tritt dem Ankömmling mit ruhigem Anstande entgegen, nimmt ihn scharf auf’s Korn und fragt nach seinem Begehr. Es bedarf nur einer geringen Empfehlung, um einer wohlwollenden Aufnahme für ein paar Tage sicher zu sein, jedes neuenglische Haus hat sein Gastzimmer in bester Ordnung. Gleich das erste Gespräch, das unser Wirth langsam und vorsichtig anknüpft, lehrt uns, welch ein spitzer erfinderischer Verstand den Mann regiert. Er bleibt immer ruhig und heiter und steckt voll von witzigen Einfällen, in welchen sich in der Regel Lust an Verschlagenheit und kühnen Sprüngen des Verstandes äußert. Es ist das der eigenthümlich trockne Yankeespaß, begleitet mit einem kurzen Lachen, der die feinen lustigen Betrügereien im Handel, die Yankeetricks, ausheckt, welche über Neuenglands Gränzen hinaus als derber Humbug auftreten. Ein Blick ins Innere des Hauses läßt gleich erkennen, wie einfach und ordentlich, nüchtern und reinlich es darin zugeht. Die Neuengländer verlieren keine müßige Minute, sie sind streng arbeitende Leute. Ein Volk aber das arbeitet wird groß; ein Volk das vorzugsweise, sei es geistig oder sinnlich, genießen will, kommt früher oder später auf die Lotterbahn und wird von seinem arbeitsamen, inzwischen reich gewordenen Nachbar ausgekauft, es muß ihm zuletzt seine Söhne und Töchter wie seine Güter und Habe einverleiben. Die wenigsten Familien in Neuengland sind reich, aber sie arbeiten und sparen jedenfalls soviel zusammen, daß sie anständige Wohnung und Kleidung haben und daß sie die Erziehungskosten für die Kinder bestreiten können. Der höchste Ehrgeiz der Eltern ist, daß die Söhne Prediger und Advokaten werden, und daß die Töchter französisch und deutsch lernen und in den Damenakademien und im Umgange mit vornehmen Familien eine feinere Bildung erhalten. Von erwachsenen Kindern finden wir daher höchstens eine oder die andere feingeputzte Tochter zu Hause, und diese hat sicher ein Buch in der Hand, die andern Töchter sind auf Besuch oder wirken in Schulen oder in Vereinen, welche sich mit Missionen, Volksbildung und öffentlicher Wohlthätigkeit beschäftigen. Die Söhne stehen im Geschäft bei Kaufleuten oder lernen die ersten Fachregeln bei Advokaten, Predigern und Aerzten, um ihre Bildung später durch ein Jahr auf einer Hochschule vollständig zu machen. Es giebt in Neuengland manches schlichte Haus, aus dem vier oder fünf Söhne als Prediger oder Juristen hervorgingen, welche im Osten, Süden und Westen der Union thätig sind.

Gegen Abend versammelt sich das junge Volk, welches noch nicht ausgeflogen ist, im elterlichen Hause. Die Dämchen, nett gekleidet, erscheinen in niedlichen Wägelchen, die sie selbst fahren, oder auch zu Roß mit anmuthiger und sicherer Haltung, lauter schlanke zierliche Figuren mit sanfter weißrother Gesichtsfarbe, denen zur Schönheit nur Fülle und Rundung der Glieder fehlt. Die jungen Männer kommen zwischen den Hecken hervor ernsten und gesetzten Wesens, sie rechnen im Stillen ein Geschäft aus oder studiren auf eine passende Anrede. Vor dem Abendtische spricht der Vater ein Gebet. Das sehr reichliche ländliche Essen wird mit vielen Tassen warmen Getränks begleitet, an dessen Farbe und Geschmack kein Europäer unterscheiden kann, ob es Thee oder Kaffee sein soll. Obgleich an vielen freundlichen Rücksichten und Artigkeiten man wohl merkt, daß die Hausgenossen einander herzlich gut sind, sitzen sie dennoch still um den Tisch, ohne Scherzen und ohne Neckerei. Was heute für Wetter gewesen, und morgen höchst wahrscheinlich sein wird, daß des Nachbars Sohn aus Californien geschrieben, oder daß eine Verwandte in Boston eine gute Stelle gefunden, dergleichen wird mit fast verhaltener Stimme mitgetheilt. Nach dem Abendtische folgt wieder ein kurzes Gebet, dann wird das Kapitel aus der Bibel laut gelesen, welches gerade an der Reihe ist, das heilige Buch geht im Kreise um, jeder liest ein paar Verse und giebt es dem Nachbar. Keine verfängliche Stelle wird ausgelassen, jedes Wort der Bibel wird aus frommen Herzen verehrt.

Nach dem Abendgebet kommen die jungen Männer der Nachbarschaft, den Töchtern Bücher oder Neuigkeiten zu bringen, die Meinungen über die letzte Predigt auszutauschen, oder eine kleine Fahrt zu Wagen oder zu Pferd zu besprechen. Das Völkchen hat volle Freiheit und braucht nicht erst lange die Eltern zu befragen. Noch weniger fiele es ihm ein, zu seinen Ausflügen eine ältere Dame als Ehrenwache zu bitten. Dennoch wird in diesem unbeschränkten Verkehr der jungen Leute nicht einen Augenblick der Anstand oder das strengste Sittlichkeitsgefühl beleidigt. Wenigstens kann man in Neuengland überall und entschieden darauf rechnen, während anderswo diese amerikanische Freiheit auch wohl der Deckmantel sein soll für mancherlei Unrühmliches.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und Leute in der alten und neuen Welt, Band I