Das Familienleben in Neuengland hat so viel schöne Seiten, daß die Neuengländer, welche in den andern Staaten ...

XI.
Neuengland.


Das Familienleben in Neuengland hat so viel schöne Seiten, daß die Neuengländer, welche in den andern Staaten angesiedelt sind, mit kindlicher Rührung daran zurück denken. Im Schooße der Familie herrscht eine leichte angenehme Harmonie, welche aus geregelter Thätigkeit und gegenseitigem Sichgewährenlassen beruht. Die Blutsverwandten haben wirklich herzliche Zuneigung für einander, jedoch bleiben sie auch darin ruhig und ernst. Rohheiten oder Wuthausbrüche wären ganz unmöglich, aber man vernimmt auch selten solche Worte, welche warm und lebendig aus dem Herzen kommen, noch seltener sieht man eine Liebkosung. Selbst wenn sie wärmer werden, beobachten sie noch die den Amerikanern zur andern Natur gewordene Zurückhaltung, als könnten sie ihr Gefühl nicht äußern oder als schämten sie sich desselben. Der Grund ist eine scheue Rücksicht auf das Wohlanständige, und eine zarte gegenseitige Achtung, welche sich gleichsam fürchtet, durch zu lebhafte Aeußerung der Empfindung in die des Andern einzugreifen und dessen durchaus selbstständiges Denken und Fühlen an sich zu fesseln. Das Menschenherz verlangt aber danach, sein Lieben und sein Sehnen und sein Trauern auszuströmen, und wo ihm das fortwährend versagt wird, da zieht es sich auf seine selbstsüchtigen Gefühle zurück. Nirgend nimmt wohl ein Vater zartere Rücksicht auf die Empfindungen seiner Tochter und beschafft mit mehr Sorgfalt die Mittel für ihren Luxus, als in Neuengland, aber nirgendwo haben Söhne und Töchter so wenig tieferes Pflichtgefühl für ihre Eltern, als dort. Die Familienbande sind daher auch leicht zerreißbar. Sowie Jemand in seinem unabhängigen Gefühl sich verletzt glaubt, denkt er gleich daran auszuscheiden, und Eltern und Geschwister lassen ihn ohne daß es zur Erklärung kommt ruhig ziehen, wenn auch mit gekränktem Herzen. Daß aber die Amerikaner wohl fühlen, was ihrem Familienleben abgeht, zeigt sich auch in den Briefen, welche mehrere von ihnen aus Deutschland schickten. Hier scheint ihnen ein Himmel voll häuslicher Seligkeit auszugehen. Sie können nicht genug beschreiben, wie es darin so lieblich und sonnig sei, und sehen ein, daß dies köstliche und dauernde Glück nicht bloß aus gegenseitiger Achtung und Fürsorge, sondern auch aus inniger Zuneigung und Pietät hervorgehe.


Daß aber durch das amerikanische Familienleben ein kühler Hauch weht, hat noch einen besonderen Grund. Die kirchliche und bürgerliche Gemeinde sieht gar zu gern von der Straße bis ins Innerste des Hauses hinein, und seine Bewohner wagen nicht recht, die Fenster vor neugierigen Blicken zu verhangen. Der Neuengländer denkt bei seinen täglichen Geschäften wie bei besondern Vorfällen ebenso schnell an die Gemeinde, als an seine Familie, und hat ein empfindliches Gefühl für alles, was im Umkreise der Gemeinde vorgeht. „Wir die Gemeinde,“ sagt er mit nicht geringerem Selbstgefühl als vormals die deutschen Reichsstädter. Denn die Gemeinde ist eine Macht so frei und unabhängig und so nachdrücklich wirksam, daß er ebenso stolz auf sie ist, als er sich ihr gern unterwirft. Auch der Staat kann ihm in seine Gemeinde nicht eingreifen, sie muß vielmehr erst dem Staate ihre Hülfe leihen. Daher wirkt der Gemeingeist Wunder. Ein Nachbar will den andern in kühnen Unternehmungen, eine Gemeinde die andere in gemeinnützigen Anstalten überbieten, und für letztere giebt derselbe Kaufmann ohne Bedenken Tausende her, der am Feierabend selbst seinen Zaun flickt, um ein paar Cents zu sparen. Nur durch den lebendigen Gemeingeist sind die kleinen Banken möglich, welche in Menge ebenso wie eigene Zeitungen für Ortschaften bestehen, welche noch nicht zweitausend Einwohner haben. Diese Ortsbanken leben durch den persönlichen Credit, den die Gemeindeglieder einander gewähren, weil sie wohl einsehen, daß die Bank, welche die Ersparnisse aufnimmt und zu vernünftigen Unternehmungen die Gelder hergiebt, das Kapital der Gemeindeglieder zehnfach größer und zehnfach arbeitsamer macht.

Gemeinde aber ist für den Neuengländer nicht bloß der bürgerliche, sondern auch der kirchliche Verband. Nicht jeder ist Kirchenmitglied, der in einer bestimmten Konfession geboren und erzogen worden, sondern nur derjenige Erwachsene, der nach reiflicher Ueberlegung unter Bekenntniß seiner Sünden und mit dem Gelöbnisse, streng kirchlich zu leben, öffentlich und feierlich in eine kirchliche Gemeinde aufgenommen wird. Er tritt dadurch gleichsam in ein förmliches und ständiges Vertragsverhältniß, das seine wohlverbrieften Rechte und Pflichten hat und seine Mitglieder genau von denen abscheidet, welche nicht in diesem Bunde stehen. In keinem andern Lande ist die kirchliche Gemeinde der bürgerlichen so vollständig gleichgebildet, und nirgends stehen beide mit einander in so lebendiger Wechselwirkung. Kirchenältester oder Diakon ist ein ebenso gäng und gäber Titel als Squire oder Oberst, und giebt noch mehr Ansehen in der Gemeinde. Freiwillig zwar, aber darum nicht minder kraftvoll unterstützen sich Kirche und Staat gegenseitig. Am Tage des öffentlichen Dankfestes, den die politische Behörde bezeichnet, sind die Kirchen aller Bekenntnisse gefüllt. Man wird auch kaum einen Prediger finden, der politisch nicht ächt konservativ wäre und nicht einen tiefgehenden politischen Einfluß übte, wenn er selbst auch niemals zum Abgeordneten gewählt wird. Für die Neuengländer ist die Bibel das Gesetzbuch für das bürgerliche wie für das religiöse Leben, aber darin sind sie einzig, daß sie sowohl mit den Ansichten des alten Testamentes als mit den Lehren des neuen Bundes sich geistig genährt und erfüllt haben, althebräische und christliche Denkungsart verschmelzen sie zu einer neuen, welche eben nur die Denkungsart der Yankees ist. Diese müßten, wenn sie aufrichtig sein wollten, gestehen, daß die Mormonen, abgesehen von deren sonstigen Einrichtungen, das Ideal der Verschmelzung bürgerlichen und kirchlichen Lebens darstellen, welches den Vorfahren der Neuengländer vorschwebte.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und Leute in der alten und neuen Welt, Band I