Was in einem Lande einmal Mode gewesen, das spukt noch lange nach unter allerlei Gestalten. ...

XII.
Baltimore.


Was in einem Lande einmal Mode gewesen, das spukt noch lange nach unter allerlei Gestalten. Man sollte dabei manchmal auf den Gedanken kommen, es gingen die Geister der lange Gestorbenen noch umher und setzten sich fest in der anwachsenden Jugend. Giebt es in Deutschland nicht jetzt noch Charaktere, wie unsere alten Reitergenerale und fahrenden Landsknechte, wie die grimmen Untervögte und die Vielgelehrten, welche statt der Folianten nunmehr endlose Bandreihen schreiben? Stolziren nicht in England noch die rauflustigen Lords und die närrischen alten Damen umher aus der Zeit insularischer Beschränktheit, in Rußland die furchtbaren Iwans und die Diplomaten byzantinischer Färbung, in Frankreich und Südeuropa die Condottieris und Hidalgos, die eisernen Mönchsgenerale und Ketzerrichter? In Amerika laufen ganz offenbar die Geister der Indianer und Indianerjäger, der starrköpfigen Puritaner und abenteuernden Handelsleute aus der ersten Ansiedlungszeit noch jetzt umher, wenn sie auch Fracks und schwarzseidene Westen tragen. Woher will man sonst diese seltsamen Sektengeschichten, diese tolle Wagelust in Handel und Gewerbe, diese unzerstörliche Neigung der jungen Burschen zu gewaltthätigen Streichen und Straßengefechten erklären? Das indianisch schweigsame Wesen der Amerikaner könnte freilich auch davon herrühren, daß sie beständig mit Unterleibsleiden geplagt sind, weil sie so hastig und soviel schlechtgekochte Sachen essen. Aber auch ihr merkwürdiger Wandertrieb erinnert an die Indianer. Gleichwie diese frei und unstät durch ihr unermeßliches Gebiet zogen und hier und dort rasteten, wo die Wälder voll Wild und die Flüsse voll Fische waren, so reist der Amerikaner immer wanderlustig, immer mit leichtem Gepäck hierhin und dorthin, wo ihm gute Dollars-Jagdgründe winken. Wohin dies Reisevolk nur kommt, da sind gleich rasch und zahlreich Reisepferde und Reisewagen da, Dampfschiffe und Eisenbahnen. Von Philadelphia nach Baltimore gingen täglich mehrere Dampfschiffe und mehrere Züge auf der Eisenbahn, und jedesmal war alles dicht besetzt.


Dies nie ablassende Zuströmen von Reisenden läßt die Schiffseigner es wagen, solche Trümpfe gegen einander auszuspielen, daß der eine Wochenlang für ein Viertel des Fahrpreises oder für gar nichts fährt, um den andern matt zu legen. So fuhr ich den ganzen Tag auf dem Champlainsee für einen halben Dollar und hatte noch zwei Mahlzeiten obenein. Dabei war der Kapitain nichts weniger als grimmig auf seinen Mitbewerber, sondern beide riefen sich die lustigsten Sachen zu, als die Schiffe einander vorüber fuhren. Der Amerikaner freut sich, wenn er Mitbewerber sieht, weil dann erst die rechte Lust in ihm erwacht, seine Kraft und seinen erfinderischen Geist anzustrengen, um dem Gegner einen Streich über den andern zu spielen. Nie zerfrißt ihm der Neid das Herz, jene häßliche Untugend, die leider auch manchem hiesigen Deutschen seine besten Stunden verbittert. Neu ist dem Europäer aber das Vertrauen, welches jedermann auf den Dampfschiffen genießt. Dort wie in den Gasthöfen mischt man sich unter die Hunderte von Gästen, bezahlt vielleicht erst im Weggehen und giebt selbst an, wie lange man verweilt und was man verzehrt hat. Wie oft haben mir Leute, denen ich ganz unbekannt war, ohne weiteres Reitpferde und Bücher geliehen. Wie mancher unserer Landsleute, der hier zaghaft ein Geschäft anfing, hat sich schon gewundert, so leicht großen Kredit zu finden. Dies Vertrauen zieht sich durch tausend große und kleine Dinge des täglichen Lebens und weil es darauf beruht, daß man jedermann Selbstachtung zutraut, so wird es verhältnißmäßig selten mißbraucht. Wenn anvertrautes Geld so häufig durch Bankerotte verloren geht, so ist hundertmal eher leichtsinniges Spekuliren daran Schuld, als betrügerische Absicht.

Auch in Europa findet jeder anständige Mensch Vertrauen, aber daß es sich in Amerika für jedermann so natürlich von selbst versteht, wie Selbstachtung und Selbstständigkeit, daß man durch keine andere Polizei im täglichen Verkehre behindert ist als dadurch, daß einer den andern ebenso als freien Bürger respektirt wie sich selbst, daß Oeffentlichkeit und allgemeine Theilnahme für unzählige Dinge herrscht, welche in Europa gewissen Berufsklassen vorbehalten sind, daß Gasthöfe und Dampfschiffe, öffentliche Aufzüge und Versammlungen so riesenhafte Umrisse haben, und daß der Amerikaner dies alles in Europa nicht so wiederfindet, das sind Gründe, warum er es in Europa nicht aushalten kann. In seinem Lande stößt man sich noch nicht an die steinerne Gegenwart der Geschichte, dort ist alles noch im flüssigen Werden und Wachsen, und wo die Wirklichkeit noch nüchtern, malt die Phantasie dicht dahinter die großartigste Zukunft. Ein Amerikaner, der nicht ganz grobe Nerven hat, fühlt sich durch das politische Treiben seines Landes täglich angewidert, aber stündlich fühlt er auch, daß er mitherrscht, während er in europäischen Ländern sich von politischen Mächten umgeben glaubt, die heimlich wirken und dem Einfluß der Bürger sich entziehen. Das amerikanische Leben erwächst aus dem ungeheuren Drängen des Verkehrs, der in kürzester Frist unübersehliche Länderstrecken mit Städten und Ansiedelungen bedeckt. Dieser rastlose Verkehr aber beruht recht eigentlich auf der schrankenlosen Freiheit aller, diese ist sein Nerv und den wollen sich die Amerikaner nicht unterbinden lassen, wenn auch noch so viele berstende Dampfschiffe in die Luft gehen. In solches Treiben ist der Amerikaner mit Herz und Leben hineingewachsen, anderes versteht und genießt er nur halb. Ich erinnere mich allein von Wheaton, der lange Zeit in Berlin Gesandter war, und hin und wieder von einem einsamen Gelehrten in Amerika, gehört zu haben, daß sie wohl für immer in Deutschland leben möchten. Andere gebildete Amerikaner, welche ebenfalls Europa besucht hatten, räumten gern ein, wie viele Vorzüge das europäische Leben vor dem ihrigen habe, aber sie kamen zuletzt wieder darauf zurück, sie könnten es dort auf die Länge nicht aushalten. Es sei bei uns alles so hübsch und fein und würdig, aber nicht weit und groß, nicht offen und frei genug. Bei ihnen fühle sich jedermann innerlich gehoben, weil man auf seinen Rechtssinn und auf seine eigene Kraft vertraue, in Europa werde der Mensch leicht schwach und kleinlich, weil er ringsumher so viel Schranken und Bahnwärter und ängstliche Fürsorge sehe. Wenn dennoch in Amerika die Spitzbuben zahlreich gedeihen, so muß die Schuld wohl daran liegen, daß die Menschennatur überhaupt schadhaft ist.

Von Philadelphia nach Baltimore zog ich das Dampfboot vor, welches den breitwelligen Delaware hinabfuhr die Stadt entlang, man sah in ihre winkelrechten Straßen hinein, welche durch die vorliegenden Schiffe halb verdeckt waren. Auch diese machtvolle Stadt theilt mit den meisten amerikanischen Großstädten den Mangel einer prächtigen Lage. Auf niedrigem und ebnem Ufer tauchen sie langsam auf wenn man sich nähert, und verschwinden ebenso gemach am Horizonte, wenn man die Bai oder den Fluß wieder hinabfährt. Aber die Seestädte sämmtlich sind herrlich bedacht mit Baien und Flüssen, in deren Ufergewinden sich höchst liebliche Landschaftsbilder abzeichnen. Die nettesten Landhäuser zwischen allerlei Grün belebten die Ufer des Delaware. Obwohl es mitten im November war, strahlte die Sonne doch zu Zeiten glühend heiß; sobald jedoch Wolken sie verdeckten, wehte es winterkalt. Gegen Abend wurde das Wetter überaus milde. Der breitfluthende Strom rauschte und rauschte, und über die schimmernde Wasserfläche spannte die Sonne im Sinken einen Bogen vom reinsten Golde. Bald glänzten vom Ufer her durch das Dunkel verstreute Lichter, und die Sterne wurden so klar, daß sie den Fluß mit blitzenden Streifen überlegen. Vor die Lichter am Ufer trat dann und wann der Schatten eines still vorüberziehenden Segels.

Unser Dampfboot war sehr winzig, aber hübsch eingerichtet. Obwohl viele Südländer darauf waren, die sich freier gehen lassen als die Leute aus den nördlichen und mittleren Staaten, war doch wenig von den nationalen Unarten des Tabakkauens, Speiens und Füße in die Luft Streckens wahrzunehmen. Die Engländer haben davon ein entsetzliches Geschrei gemacht, aber das Uebel hundertfach übertrieben. Nie habe ich in gebildeter Gesellschaft arg Widerwärtiges der Art gesehen. Die Herren lieben zwar ihr Tabakröllchen zwischen den Zähnen zu pressen, aber es wäre unmerklich, wenn sie nicht so oft in das Kaminfeuer spuckten. Wenn aber in Gaststuben, auf Dampfschiffen und öffentlichen Wagen einige rohe Sitten auffällig werden, so muß man nicht vergessen, daß an solchen Orten in Amerika die niedern Volksklassen überall unter die höhern gemischt sind. Mit mehr Recht, als über ihre unziemlichen Gewohnheiten, könnte man sich darüber wundern, daß alle diese Leute sich im Uebrigen so anständig kleiden und benehmen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und Leute in der alten und neuen Welt, Band I