In Deutschland treffen wir auf dieselben Charakterzüge, wie im germanischen Norden, es ist aber bei uns ...

XIII.
Loses Volk in Amerika und anderswo.


In Deutschland treffen wir auf dieselben Charakterzüge, wie im germanischen Norden, es ist aber bei uns mehr Leben darin. Der Korporationstrieb, welcher sich im deutschen Mittelalter zu so herrlichen Blüthen entfaltete, ist noch immer in unserm Volke regsam; hätte er freien Raum sich zu entwickeln, so würde er zwar erst noch ein paar Flegeljahre durchmachen, dann aber sich entschieden zum Landesbesten hervorthun. Bezeichnend für die Deutschen, welche die Dinge des wirklichen Lebens gern in Maaß und Ordnung bringen, ist es, daß sie ihrer gebildetern Jugend Ort und Zeit bestimmt angewiesen haben, wo sie sich austoben soll; das sind die drei Jahre auf den Universitäten, wo der jugendliche Uebermuth eine Art Zunftrecht hat. Schriebe man alles zusammen, was in einem Jahre auf deutschen Universitäten an schelmischen, oft derben, oft genialen Streichen ausgeführt wird, so möchte noch jetzt eine hübsche Sammlung herauskommen. Kein anderes Volk hat sich einer solchen Einrichtung zu erfreuen. Insbesondere sind es die Verbindungen der Studenten, in welchen der genossenschaftliche Geist auch in fröhlicher, manchmal humoristischer Weise sich ausläßt, und mag einer auch manches gegen diese Vereinigungen, wie sie jetzt bestehen, einzuwenden haben, so kann man doch nicht ableugnen, daß sie eine Schule sind für den Charakter und eine Quelle von heiterem Leben und dauernden Freundschaften. Was außerhalb der Universitäten von den jungen Leuten, wo eine Schaar von Referendarien, Offizieren, Architekten, Forst- und Bergleuten, jungen Kaufleuten und vorzüglich von Künstlern und Handwerksburschen beisammen ist, an lustigen Streichen, an lärmenden Gesellschaften und Aufzügen aufgeführt wird, mag für die Jahreschronik jeder Stadt noch immer einen Beitrag liefern. Im Ganzen aber sind wir Deutsche eben ein bürgerliches Volk, jene Geschichten bleiben bei uns in den Gränzen bestimmter Kreise und greifen nicht in das ganze Volk hinein, man betheiligt sich nur eine Zeitlang daran und nimmt Abschied davon, sobald man ins Amt oder Geschäft kommt. Die unruhige Menge von begüterten Müßiggängern, welche sich in den Städten der romanischen Länder anhäuft, sich unter das Volk mischt und täglich nach Neuem begierig ist, findet sich in Deutschland nicht, es sei denn ein Häuflein Literaten. Auch haben wir nicht jene dicht gedrängten Volksmassen, welche sich am liebsten auf den Straßen umtreiben und bloß von dem kleinen Verdienst leben, den ihnen die Stunde abwirft. Zwar stellt auch in Deutschland jede größere Stadt davon ihre Haufen auf, besonders Hamburg, Köln, Wien, Berlin, Breslau, München, Danzig, aber es herrscht selbst bei diesen nicht ein solches unruhiges, müßiggängerisches Treiben, wie bei ihren Genossen im Westen und Süden von uns. Der Deutsche, auch wenn er arm ist, strebt doch vor allem erst nach einem Stückchen Grund und Boden und nach einem festen bürgerlichen Geschäfte, und hat er das, dann ist er auch ein Mann, der Straßenstreiche, wenigstens für gewöhnlich, unter seiner Würde hält. Im Mittelalter, wo in den deutschen Städten eine so mächtige, wohllebige und freie Bürgerschaft und die Tage ohne Vergleich viel bewegter waren, als in jetziger Zeit, gab es auch junge und ältere Leute aus den gebildetern Ständen genug, welche mitten in den beweglichen Volksmassen verkehrten. In den Jahren 1848 und 1849 zeigten sich ähnliche Erscheinungen, sie traten aber bald wieder aus der Oeffentlichkeit zurück.


Die Holländer haben noch einen Rest des regen und rüstigen Lebens, wie sie es vor zwei Jahrhunderten kannten, in ihren Städten und Dörfern bewahrt; die unteren Volksmassen haben den Humor und das Selbstgefühl aus jener Zeit noch nicht ganz verloren. Man muß nur einmal ein Volksfest in Holland, wie den Rotterdamer Jahrmarkt, mitmachen, um zu erfahren wie viel Witz und Lust noch in diesem Volke steckt. Die Matrosen sind dort, wie in allen Handelsstädten, zu Raufereien und Streichen aller Art jede Stunde bereit, und der junge holländische Kaufmann, was man auch sonst über seine Neigungen und Genüsse von nicht sehr geistiger Natur sagen mag, hat wenigstens noch nicht ganz den engbürgerlichen Zuschnitt, wie in vielen deutschen Städten. Unter den deutschen jungen Kaufleuten bilden die von israelitischer Herkunft in der Regel einen ansehnlichen Theil und diese sind von Natur zaghaft, was freilich nicht zu verwundern.

England besitzt eine wahrhafte Aristokratie, und diese hat ihre regelmäßigen monatelangen Zusammenkünfte in London. Hier stellt sich daher auch eine bedeutende Anzahl junger reicher Müßiggänger ein, welche Zeit und Geld zu allerlei Dingen haben, und bei den Vorzügen ihrer gesellschaftlichen Stellung geneigt sind, alles Mögliche sich zu erlauben. Dem Sport ist ein guter Riot verwandt, Boxen eine Lieblingsbeschäftigung, und der periodisch sich erneuernde Wahlkampf eine Aufforderung, Kraft und Uebermuth auch auf der Straße zu zeigen. Als des Nachts noch die Degen auf den Gassen klirrten, setzte es unter den jungen Mitgliedern der aristokratischen Parteien nicht selten Gefechte mit allerlei Kriegslisten; diese Zeit ist nun vorbei und eine Schaar junger Gentlemen vergnügt sich jetzt wohl, wenn sie Nachts aus Clubs und Gesellschaften kommen, mit Lärmen und Schreien, Laterneneinwerfen, Thürklopferabdrehen und schließlichem Nachtwächterklopfen, es gilt davon das bekannte Goethe’sche Wort: wenig Witz und viel Behagen. Die jungen Kaufleute und Schreiber ahmen ihnen darin gern nach, so steif sie auch bei Tage den Kopf zwischen den steifen Hemdkragen halten. Die Menge der abhängigen Leute, welche von der Sporting-Liebhaberei der jungen Adeligen leben, sind für diese ein stets gefügiges Mittel, sich mit der Volksmasse in Berührung zu setzen. Bei Aufzügen und Demonstrationen, wie z. B. für Kossuth und gegen den Pabst, befinden sich die Anstifter nicht selten in den Reihen der jüngeren Aristokratie. Das englische Volk in Masse hat keine Neigung für Lärm und Leben auf den Straßen, aber die außerordentliche Menge, welche auf der Insel vom kleinen und ungewissen Verdienst lebt, stellt täglich Heere von solchen Leuten, welche nur eines Antriebs bedürfen, um auf und ab zu rennen und Unfug zu treiben; die in England merkwürdig zahlreichen Gilden der kleinen Straßenbuben sind dabei immer am ersten zur Hand. Am bewegtesten ist dieses Volk des Abends mit dem Dunkelwerden, namentlich des Sonnabends, wo die Fabrikarbeiter die Wochenlöhnung empfangen, bei den Wahlschlachten, und in der Nähe der Standlager der Matrosen. Man kennt das Volk in England immer nur theilweise, wenn man es nicht auch einmal einen ganzen Abend bis in die Nacht hinein auf den Straßen gesehen hat.

Immer stärker schwillt die Bevölkerung, welche in solcher Weise Verdienst und rohe Aufregung sucht, in England an durch das wälsche und gälische Element, welches noch in Großbritannien herbergt. Da ist zuerst. der Irländer, jedes Jahr kommt er zahlreicher über den Kanal herüber. Er gehört durch und durch zu dem leichten Volke, mit dem wir uns hier beschäftigen: trinken, raufen, lieben, das sind alle seine Gedanken, für Nahrung, Kleidung und Wohnung thut er nur das Allerdürftigste, er hat stets Laune stets Zeit zu unnützen Streichen. In seiner Heimath giebt es kaum irgend eine Zusammenkunft auf Straßen und Plätzen, wo nicht die Menge ein paarmal wild hin und herwogt und die Schilelas, die Schlagstöcke, auf den Köpfen tanzen. „Junge, ich hab dich so lieb, ich möchte dich gleich niederschlagen,“ ist sein brüderlicher Zuruf, wenn ein Irländer recht fröhlich ist. Der Schotte hat zwar auch einen starken Zug dieser Art in seinem Charakter, früher liebte er sehr die Clansraufereien, aber in der neuern Zeit ist er zu industriös, zu geizig und kleinlich geworden, als daß er sich so leicht die Zügel schießen ließe. Der Walliser ist ein ähnlicher Mensch, jedoch wird sein Naturell immer stiller, der Angelsachse hat ihn zu hart bearbeitet. Sieht man ihn aber in seinem Heimathlande auf Jahrmärkten und den andern mancherlei Volksfesten, welche sich in den Bergen von Nordwales noch erhalten haben, so merkt man leicht die Neigung, Rudel zu bilden Und im Rudel blind mitzulaufen. Es ist hier, wie bei dem Irländer und Schotten, nicht die Genossenschaft, welche nach Art der germanischen Völker ein Abenteuer erst gehörig überlegt und dabei jeden zu Worte kommen läßt, sondern es ist vorzugsweise immer der Einzelne, dem auf einmal einfällt, den übrigen etwas vorzutanzen oder ihnen sonst einen Antrieb zu geben, und dem dann die übrigen jubelnd und schreiend, einer den andern überlaufend, nachfolgen. Aehnliche Züge findet man bei den Gascognern in Frankreich und den Basken in Spanien. Doch alle diese Völkerschaftsreste haben für sich allein keine politische Geltung mehr, sie bedeuten nur dadurch noch etwas, daß ihre Art zu wirthschaften in den Völkern fortlebt, welche aus der Vermischung mit ihnen hervorgegangen sind.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und Leute in der alten und neuen Welt, Band I