Vorzüglich auf dem Lande entfaltet sich der englische Volkscharakter in seiner schönen Gediegenheit. ...

II.
Im Innern von England.


Vorzüglich auf dem Lande entfaltet sich der englische Volkscharakter in seiner schönen Gediegenheit. Die Stadt ist dem Engländer der Tummelplatz der Geschäftsleute, der Gastwirthe und Schauspieler, aber auf dem Lande genießt er Freiheit und Behagen. Auch der Kaufmann und Beamte, der kein Gütchen draußen hat, sucht wenigstens sein Wohnhaus in den Gärten, welche meilenweit jede größere Stadt umgeben und Land und Stadt gefällig in einander überführen. Da ist sein „Daheim“ das wonnigste Plätzchen, welches für ihn die Erde hegt, ein umfriedeter heiliger Ort, wo er Athem schöpfen und in der Liebe und Pflege seiner Familie ruhen kann. Wer in England auf kein Daheim mehr hofft, der denkt daran, sich eins bei dem Todtengräber zu bestellen. Gewiß das Schönste und Beste, was die Engländer haben, ist ihr Familienleben auf dem Lande, da geben sie sich einfach, warm und offen und von Grund aus wahrhaft. Die Wahrhaftigkeit ist eine Tugend, welche für sich allein schon ein Volk adelt. Sie würde den Engländern noch viel schönere Früchte bringen, wenn sie auch so weit ginge, daß nicht jede Familie Jahraus Jahrein an der unglücklichen Sucht litte, vornehmer, reicher und glücklicher zu scheinen, als sie es wirklich ist. Im Innern des englischen Hauses ist es für den Fremden auffallend still und ruhig, man hört keinen Laut. Viele Eltern lassen die Kinder im Hinterhause allein speisen, auch dann noch, wenn die Mädchen schon im blühendsten Backfischalter stehen, jedoch in die Welt noch nicht eingeführt sind. Das Benehmen der Familienmitglieder unter einander ist schlicht und natürlich, wird aber auch durch althergebrachte Regeln geleitet. Die Kinder bezeugen wahre Ehrerbietung nicht nur den Eltern, sondern auch dem älteren Bruder und der älteren Schwester. Mancher Deutsche möchte etwas mehr Zärtlichkeit und leichten Frohsinn im englischen Familienleben vermissen, dagegen erhält es durch seine strenge Ordnung eine gewisse Würde, welche wohlthätig auf die Festigung und Harmonie des Charakters einwirkt, und die Innigkeit ist dadurch nicht ausgeschlossen. Eine sehr wesentliche Färbung empfängt die häusliche Sitte bei den Engländern durch die Religion. Außerhalb der Familie sieht man bei ihnen


vom Christenthum wenig mehr als steifen Kirchenprunk und Sektenwesen, die Religion wohnt in den Häusern, dort gießt sie ihre himmlischen Schätze aus und kräftigt und regelt das Leben. Aus diesem religiösen Sinne fließt auch aufrichtiges Mitgefühl für fremde Leiden. In England herbergt viel menschliches Elend, aber dort ist auch ächter Wohlthätigkeitssinn zu Hause, der wahrhaft zu helfen, nicht aber die Noth lügnerisch, zu verhüllen sucht.

Die Krone der englischen Familie ist die Hausfrau. Mit vollstem Recht wird die Schönheit und Häuslichkeit der Engländerinnen gepriesen. Es sind edle stolze Gestalten, gedankenvoll blickt das schöne Haupt uns an, mit den dunkeln Locken über der hohen, schneeig reinen Stirn; ein leichter Franzose wird bange vor diesen großen treuen Blicken und rächt sich durch die Bemerkung, daß man unter den Engländerinnen hochmüthige Nasen in Menge, niemals aber feine Anmuth und Grazie sehe. Ein wenig steif ist die englische Schönheit, das ist wahr, und etwas von dieser Steifheit scheint sich auch dem Geiste mitzutheilen. Die Frauen gehen sonst viel leichter auf fremde Eigenthümlichkeiten ein als Männer, aber den Engländerinnen scheint geradezu die Gabe zu fehlen, etwas gut oder schön zu finden, was ihren starren nationalen Sitten und Ansichten widerspricht. Indessen ist man ihnen schon dafür dankbar, daß sie mit so aufrichtigem Wunsche, sich belehren zu lassen, zuhören. Denn eine Engländerin will nicht blos unterhalten sein, sie will auch lernen und wissen. Die Frauen in England lesen sehr viel und denken gründlich über das Gelesene nach. Schon dadurch üben sie einen bedeutenden Einfluß auf die Literatur, denn wer für Frauen schreibt, befleißigt sich eines klaren und geschmackvollen Stils. Nicht weniger Engländerinnen sind selbst Meister des Stils, ein ansehnlicher Theil des Inhalts der Wochenschriften fließt aus ihrer Feder. Weil die Frauen in England sich so viel geistig beschäftigen, so nähen, sticken und wirthschaften sie auch weniger zu Hause. Es ist dem Deutschen schon das etwas werth, nicht ewig in zarten Händen jenes Geist und Gedanken einspinnende Werkzeug zu sehen, welches für das nächstniedrigste Kleidungsstück arbeitet. Die Häuslichkeit der Engländerin ist nicht so leicht und lieblich, wie die einer Deutschen, es mischt sich zu viel schweres Pflichtgefühl hinein, aber wohl kommt auch die häusliche Sorgfalt der Engländerin aus dem Herzen. Diese ist stark und ehrlich in der Treue, mit welcher sie das Beste ihrer Familie wirkt, sie liebt ihren Mann gerade nicht mit unendlicher Zärtlichkeit, aber Beide würden es unter ihrer Würde halten, falsch oder heftig gegen einander zu sein. Eine englische Ehe hat einen dauerhaften Grund, auf welchem Ruhe und Glück, Ehre und Wohlstand gedeihen; jedoch sieht der Deutsche sie leicht etwas zu rosig an, denn er selbst hat leider zu wenig Form und Halt in seinem Thun, und deshalb imponirt ihm ein Verhältniß, sobald es sich in festen würdigen Formen darstellt, so sehr, daß er jedenfalls auch den köstlichsten Gehalt darin erwartet.

Die wandellose Stille und Ruhe in seiner Familie sichert sich der Engländer auch dadurch, daß er all sein Besitzthum eisern umgittert. Das Prinzip des Sondereigenthums ist auf seiner Insel auf die Spitze getrieben. Nicht bloß in den Städten, wo jedes Fleckchen Boden so kostbar ist, sondern auch im Innern des Landes stößt man sich an den Marken und Mauern des Eigenthums auf Schritt und Tritt. Jedes Stückchen Feld oder Anger oder Wald ist eingehegt und abgepfält. Wer kein Eigen hat oder nicht zur Miethe wohnt. kann seinen Fuß nirgends hinsetzen, als auf die Landstraße. Die Völker zeigen ihren Charakter vorzugsweise in der Art und Weise, wie sie das Grundeigenthum auffassen. Der Slave zäunt sich nur ein kleines Stück ab, der Romane nimmt die besten Plätze und umgiebt sie mit Mauern als sein Alleineigenthum, Beide bekümmern sich nicht viel um das, was frei liegen bleibt: der Germane aber theilt sämmtlichen Grund und Boden in Sonder-, Gemeinde- oder Staatseigenthum. Während jedoch der Deutsche von seinem Felde wie von seinem Walde für sich selbst nur den Hauptertrag verlangt und beides sonst in Jedermanns Nutzen und Vergnügen offen läßt, kann man in England keinen Schmetterling fangen, der von der Landstraße wegfliegt, und keine Waldeskühlung genießen ohne Erlaubniß des Besitzers. In Deutschland haften in der humanen Gesittung des Volkes noch Rechte und Reste von Gesammteigenthum, in England ist bereits jedes Plätzchen fußweise abgemessen und vertheilt. Offenbar hängt mit dieser scharfen Eigenthumsabgrenzung auch zusammen, daß hier jede Lebensäußerung geordnet und gemessen, das ganze Volk strenge eingeschult. Und der Charakter des Einzelnen fest, hart, ja in mancher Beziehung unbarmherzig ist. Man läßt Jedermann sein Maß von Recht und Ansehen, fordert aber auch von Jedermann das Gleiche für sich, gleichsam bis an die Zähne verschanzt.

Im nothwendigen Gegensatz zu den Gittern und Schranken des Eigenthums, welche in England auf Weg und Steg dem Wanderer entgegenstarren, hat sich auch ein Proletariat entwickelt, das in so scharfen Umrissen und zugleich so massenhaft sich nirgendwo wieder findet. Der Arme ist dort zehnfach ärmer als bei uns, und das englische Sprüchwort „Armuth ist Knechtschaft“ hat eine furchtbare Wahrheit, weil dem Besitzlosen gar kein Recht bleibt, als das nackte Leben. Zahllose arme Leute wandern in England von Ort zu Ort, deren Nachtlager hinter der Hecke ist. Sie haben nirgends einen Heerd, welcher sie an die Erde und an Verwandte und Nachbaren knüpft. Aus Noth und aus Grimm gegen die Rechte der Besitzenden werden sie zu Verbrechern, und haben sie dazu den ersten verhängnißvollen Schritt gethan, so verharren sie in der Regel auf der Verbrecherbahn, weil die Schande in ihrer Brust alles bessere Selbstgefühl auslöscht. Der englische Arbeiter wird von seinem Dienstherrn und dessen Aufsehern nicht viel anders als wie ein Stück Maschine behandelt, das schweigen und arbeiten muß. Dafür greift aber unter den Arbeitern in den Städten ein trotziger Sinn immer mehr um sich, zugleich mit dem klaren Bewußtsein ihrer unsichern Lage. Wenn sie der Herr entläßt, so sind sie völlig brodlos und wissen sich gar nicht mehr zu helfen. Denn meist sind die englischen Fabrikarbeiter nur auf eine einzige Sache eingeschult, die sie höchst vortrefflich herzustellen wissen, in allen übrigen Dingen bleiben sie unglaublich unwissend. Ueberhaupt lebt das arme Volk in England in einer geistigen Dumpfheit, wie man sie kaum unter Wasserpolaken und Slovaken antrifft.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und Leute in der alten und neuen Welt, Band I