Die Volksbildung in dem mächtigsten und reichsten Lande der Erde kann sich noch nicht entfernt vergleichen ...

II.
Im Innern von England.


Die Volksbildung in dem mächtigsten und reichsten Lande der Erde kann sich noch nicht entfernt vergleichen mit den mannigfachen Kenntnissen und Geschicklichkeiten, in welchen auch die unteren Klassen in Sachsen, Thüringen, den Main- und Rheinlanden und fast im ganzen nördlichen Deutschland erzogen sind. Vielleicht kann ein volles Viertel der Erwachsenen in England nicht lesen und nicht schreiben. Auch von sonstigen Anregungen, welche auf Geist und Gemüth heilsam einwirken könnten, fließt ihnen viel weniger zu, als gleich Armen auf dem Festlande; Ausbrüche von Rohheit sind daher häufig. Bei Volksfesten fallen öffentlich Scenen von Gemeinheit vor, welche anderswo unmöglich wären; unter den Franzosen, Spaniern und Italienern bewahrt auch der gemeine Mann den äußern Anstand, der ärmste Deutsche aber hat noch einen Rest von Gemüth und Schamgefühl. Wo anders als in England sieht man auf den Straßen berauschte Dirnen? Zahlreiche Haufen stellen hier zum Proletariat auch die ländlichen Arbeiter, welche keinen Grundbesitz, höchstens ein Häuschen haben. In diesen städtisch und reinlich eingerichteten Hütten sieht man sie sitzen, wenn das Feld sie nicht beschäftigt, unthätig, starkleibig und gutmüthig. Selbst in der Nähe großer Städte giebt es ihrer genug, deren Denken und Wissen nicht viel weiter geht als ihre tägliche Aussicht. In seinem Benehmen ist der englische Landarbeiter langsam und schwerfällig, er scheut die Anstrengung und behütet seinen Leib vor Fährlichkeit; er hat wenig feuriges Blut, wenn er aber zu arg gereizt wird, und nicht mehr anders kann, dann schlägt er los und hält auch aus im Schlagen. Sonst hört man sie selten laut werden. Des Abends kommen sie manchmal im Wirthshause zusammen, schweigend mit gefurchten Stirnen setzen sie sich hin, man sollte meinen, sie dächten etwas ganz Besonderes; ganz allmählig kommt ein flüsterndes Gespräch in den Gang, wie ein schlechtgeöltes Rad. Nur wenn eine Ballade gesungen wird, weiß fast Jeder einige Bruchstücke davon. Diese Liebhaberei für Balladen scheint der letzte Funken poetischen Gefühls in diesen nüchternen phantasielosen Leuten. In Deutschland geben, neben den alten Volksliedern und Kirchenmelodien von einfacher Kraft und Schönheit, die Drehorgeln den untern Klassen Singstoff. In den „fünf neuen Liedern“ des Leierkastenmannes sitzt nicht selten mehr poetische Kraft als unter dem Deckel manches Goldschnittbüchleins voll Gedichte. Die englischen Balladenmacher aber arbeiten gleichsam ins Große, und es kommt ihnen dabei zu Statten, daß ihre Vorbilder, die alten englischen und schottischen Balladen, im Volke bekannt und beliebt sind.


Wo viel Licht ist, muß viel Schatten sein, denkt man in England gern und vergißt die dunkeln Schaaren der Besitzlosen über das helle goldene Licht, welches sich über so weite Räume im Innern des Landes verbreitet, wo um prachtvolle Schloß- und Abteiruinen sich die freundlichsten Landsitze und Farmhäuser drängen. In all den Wohnungen ist es so nett und reinlich, es ist für jedes Lebensbedürfniß so ausreichend gesorgt und die Behaglichkeit so zu sagen in großen Stücken zugeschnitten, daß selbst im Vergleich mit den gesegnetsten Gegenden des Festlandes das englische Volk immer noch etwas vornehmer und reicher erscheint. Eine besonders kräftige Erscheinung ist der englische Pächter und Grundbesitzer, der selbst Arbeiter halten kann. Er wohnt nicht in einem alten ehrwürdigen Bauernhofe, sondern seine Ansiedlung ist wie eine kleine Fabrik, Feld und Hof und Garten sind nach der Schnur angelegt, und alles ist auf das Zweckmäßigste ausgedacht, um recht viel Korn und Vieh und Obst zu machen. Ein solcher Farmer würde in der häuslichen Einrichtung einer Familie, die bei uns schon recht in der Wolle zu sitzen glaubt, noch genug Lücken finden, die ihm unerträglich wären.

Das „lustige Altengland“ nimmt auch im Innern der britischen Insel jetzt reißend schnell Abschied, die Festlandsitten verdrängen das Insularische, gerade so wie im vorigen Jahrhundert und schon früher das lustige Altdeutschland mit so manchem fröhlichen Gebrauche in Familie, Dorf und Stadt verschämt und flüchtig wurde, weil die Leute sich nach französischer Lebensart umthaten. Jene englischen Farmer aber und die zahlreichen gleich wohlhäbigen Handwerker in den Städten, die Gastwirthe auf dem Lande, die reichen Fischer und Lootsen an der See, die Faktoren und Schachtmeister in den Fabriken und Bergwerken, diese Männer mit ihren frischen rothen Gesichtern und ihrem derben Selbstgefühl, mit ihrem guten Humor und ihrer Kraftküche bilden immer noch ein gutes Stück vom lustigen Altenengland, wenn auch die Töchter bereits deutsche Musik klimpern und französische Romane lesen. Diese mittlern Volksklassen sind auch die Hauptabnehmer der Hunderttausende von Nummern, welche die Herausgeber der Wochenschriften für Unterhaltung und Belehrung jeden Sonnabend in’s Land schicken. Darin werden die neuesten Ergebnisse der Naturwissenschaften dein Volke in verständlicher Weise dargelegt. Es sammelt sich dadurch im Mittelstande ein Schatz von allerlei Kenntnissen an. Die Wissenschaft ist in England nur in den Oxforder Collegien vornehm, sonst drückt sie überall auch dem Farmer und Handwerker die Hand. Tägliche politische Blätter werden dagegen in England viel weniger als in Deutschland gelesen. Wollen aber die Zeitschriften einen Leserkreis gewinnen, so müssen sie kräftige Hausmannskost geben, gespickt mit englischem Nationalgefühl, vorkommenden Falls auch mit Lästerungen auf Nichtengländer. Romanhelden, die nur den lustigen Hintergrund der freien Menschlichkeit haben oder lediglich aus ihren Herzensabgründen ganze Welten hervorzaubern, sind nicht im Geschmacke der Engländer. Auf jedem Blatte ihrer Literatur steht das große englische Ich, sie hat realen englischen Boden, die wirkliche Gesellschaft und die wirkliche Geschichte Englands mit all seinen Eigenheiten beschränken und färben den Horizont des Schriftstellers, aber deren Zeichnungen gewinnen dadurch Leib und Leben, ihre Gedanken werden scharf und klar.

Zwischen den letztbezeichneten Klassen und dem Adel befindet sich ein anderer Volkstheil in ewiger Spannung und Unruhe. In Kleidung und Benehmen ist der englische höhere Bürgerstand förmlich, im Gespräch kühl und wortkarg. In der Zeit nicht pünktlich zu sein erscheint den Herren ebenso unanständig, als ein nicht sauber gebürsteter Hut. Ein bischen geniale Nachlässigkeit kann sie todt ärgern, und doch möchten sie sich gern eine gewisse vornehme Einfachheit angewöhnen. Strenge Selbstbeherrschung und Behutsamkeit in Wort und Mienen ist ihnen zur andern Natur geworden, aber in ihrem Gesichte steht auch immer ein Zug von Aengstlichkeit, ob sie all die zahllosen Kleinigkeiten bei Besuchen, im Gespräch und an der Tafel, welche in ihren Augen vornehm und so unendlich wichtig sind, gehörig in Acht nehmen. Nirgendwo auf der Welt giebt es weniger natürliche Heiterkeit, als bei diesen Männern, welche sich im Uebrigen durch männliche Gediegenheit des Charakters, durch Zuverlässigkeit und gründliche Geschäftskenntniß so vorbildlich auszeichnen. Der höhere Bürgerstand zertheilt sich in England in eine Menge von einzelnen Kreisen neben einander, welche durch eine tiefe Kluft getrennt sind. Nur die Mitglieder jeden Kreises verkehren unter sich, und als neuen Genossen nehmen sie nur Den auf, der unzweifelhaft ihr bestimmtes Maß von Reichthum erworben und zugleich seinen Charakter, nämlich eine gewisse Stufe in der öffentlichen Meinung bewahrt hat. Geld und Gut giebt Macht und ist Macht, deshalb ist ein rechter Engländer in seinem Denken so real, den Werth, den ein anderer für ihn hat, nach dessen Reichthum abzumessen, das Haben ist hier auch Sein. Einem verarmten Lord geht er still aus dem Wege; hohe Wissenschaft, ein blendender Geist, ein überströmend edles Gemüth sind ihm aller Achtung werth, im Grunde seines Herzens jedoch gleichgültig; denn zu seinem Comfort bedarf er solcher Dinge nicht, und gegen die Gefahr, welche ihm übersprudelnde Köpfe bringen könnten, schützt er sich durch Gesetze. Dichter und Künstler sind durch die entzückende Macht ihres Genies anderswo die Lieblinge der Götter und Menschen, der Engländer ladet sie erst dann zu Tische, wenn sie sich durch die Gunst des Adels oder durch die goldenen Früchte ihres Geistes legitimirt haben.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und Leute in der alten und neuen Welt, Band I