Die Sonne steigt in ruhiger Majestät empor über den finstern Häuserwällen, eben will sie ihr goldnes Strahlennetz ...

I.
Ein Tag in einer englischen Seestadt.


Die Sonne steigt in ruhiger Majestät empor über den finstern Häuserwällen, eben will sie ihr goldnes Strahlennetz darüber werfen, da bräunt und trübt sich ihr helles Licht in der unabsehlichen Reihe von Rauchwolken, welche dieser ungeheure Dunstheerd ausstößt. Jetzt setzen sich vor jeder Hausthüre wahllose Bürsten und Wedel in Bewegung. Was nur zu waschen und zu putzen ist, Fenster, Treppen, Thürklopfer, alles wird mit Wasserfluthen übergossen; denn es muß rein und glänzend sein, wenn die Herren der Stadt erscheinen. Wir flüchten uns aus dieser wässerigen Stunde in die Häuser. Da sitzt das reiche und wohlhäbige England und frühstückt. Und welches Frühstück! Massen von Speisen und Getränken, alle solide und wohlschmeckend, dampfen und glänzen auf schneeweißen Tischtüchern. Es macht schon Appetit, die Leute so tapfer essen zu sehen, und noch angenehmer ist der Gedanke, daß doch eine große Anzahl Familien, verhältnißmäßig mehr als in andern Ländern, sich an so nahrhafter Kost in Hülle und Fülle etwas zu Gute thut. Wenn die Leute nur fröhlicher dabei aussähen! Sie scheinen auch die Gaben Gottes ernst und förmlich, kaum mit ein paar halblauten Worten, zu genießen. Aber wie nett und behaglich haben sie es um sich her in ihren Häusern und Stuben, wie paßt und schließt da alles in einander. Da ist auch nicht das geringste Geräth, das nicht in seiner Art vollendet wäre. Des Engländers Hauswesen geht am Schnürchen wie ein Uhrwerk; es wird ihm unbehaglich, wenn irgendwo ein Rädchen nicht glänzt oder eingreift. Seine Vorliebe für das Regelrechte allein würde ihm den gewohnten Comfort in seinen Wohnungen noch nicht schaffen, aber das Wetter draußen ist jede Woche sechs Tage widerwärtig. Weil sein Klima so naßkalt, so launig und verdrießlich ist, muß er sich im nothwendigen Gegensatze wenigstens das Innere seiner Wohnung recht behaglich einrichten.


Wir treten wieder auf die Straße. Welches Gewühl treibe sich darin auf und nieder. Man meint, die ganze Stadt sei auf der Straße. Alles bewegt sich hastig, aber anständig und wohlgekleidet und in bester Ordnung durcheinander. Fuhrwerke jeder Gestalt ziehen daher in endlosen Reihen; durch das Landvolk und durch Schaaren von Leuten, welche ihre Waare ausrufen, drängen sich jetzt junge Männer und Frauen im geschmackvollsten Anzuge; vor den Läden breiten Handlungsdiener Waaren aus, erst die Lebensmittel, dann Kleidungsstoffe, endlich die Luxussachen. Das Rollen der Wagen, das Rennen und Rufen der Leute vermehrt sich zusehends und bald geht durch die Straßen jenes eigenthümliche Brausen, jener dumpfe Donner, die in großen englischen Städten das Riesenartige des rasch sich fortwälzenden Verkehrs bezeichnen. Wer zum erstenmal in eine solche Hauptstraße kommt, erschrickt fast vor diesem glänzenden Getümmel; sein erster Gedanke ist, der Menschenschwall mit all den prachtvollen goldglänzenden Wagen und prächtigen Rossen komme gerade von einem festlichen Aufzuge zurück, und er will warten, bis die Fluth vorüber. Aber so rollt sie unaufhörlich jeden Tag hin und her, vom Morgen bis zum Abend und wer keine starken Nerven hat. kann darin ohnmächtig werden.

Das sind jetzt die Herren Englands, welche am späten Vormittage auf ihre Geschäftsstuben fahren, wo die zahlreichen Diener und Schreiber sie schon erwarten. Alle diese Gesichter tragen den nationalen englischen Zug. Dieser liegt zunächst in dem Geschäftsmäßigen, das auch dem Lord anhängt, in jener Mischung von Rechnungsgeist, Stolz und Klugheit, verbunden mit einer gewissen beständigen Furcht, daß man in Verlegenheit gerathe und seine Würde nicht genug wahre. Aber nicht dadurch allein erhalten die englischen Gesichter das nationale Gepräge, darin drückt sich noch mehr das Bewußtsein aus, daß Jeder das hat, was man in England Charakter nennt. Um eines Engländers Charakter, sowie andere Eigenheiten und Vorzüge dieses Volkes zu erklären, muß man an die beiden Hauptfaktoren des englischen Volksganzen denken. Der eine ist der Associationsgeist, der in jeder Arbeitshütte, so gut wie im Parlament die Köpfe regiert. Offenbar hat er seine Rüstigkeit eben so aus einer Beimischung von schottischem und irländischem Clansgeiste gezogen, als aus altsächsischem Corporations- und normännischem Lehnswesen. Der andere Faktor ist der hohe Adel, der an sich zwar Jedem erreichbar ist, gleichwohl aber dem ganzen Volke seine förmlich anerkannten und erlauchten Häupter giebt, um welche es sich in althergebrachter Weise in verschiedenen Gliederungen abstuft. Den Charakter des Engländers formt und bildet nun zuerst seine Heimath mit ihren insularischen Sitten und Gebräuchen; er kann aus diesen Ansichten und Gewohnheiten so wenig wieder heraus, als er aus seiner Haut heraus kann. Die Frage, ob er Spanier, Franzose oder Russe werden wolle, lautet für ihn gerade so, als ob er Indianer werden solle. Die deutsche Sitte und Denkweise würde er noch am ersten annehmen, wenn wir als Volk nicht so schwächlich aufträten. Die zweite Färbung erhält sein Charakter durch die politische oder kirchliche Partei, der er angehört. Auch die Kirche ist hier vorab nur Parteisache, sie ist bloß deshalb eine Macht, weil ein Verein von Menschen gewisse Sätze und Formen durchführen will. Bei den ersten Worten spürt man die harten Kanten und Spitzen, welche dem Engländer seine Partei angeschliffen hat. Dann ist es ferner die Mode, welche ihn preßt und streckt, bügelt und zügelt, eine Macht, deren eiserne Tyrannei unerklärlich wäre, wenn sie ihre Kraft nicht aus dem in England allgegenwärtigen Associationsgeiste, sowie daraus zöge, daß der Adel selbst die Trachten, sowie im Stillen die Sitten und Meinungen beherrscht. Endlich den Hauptstempel erhält des Engländers Charakter durch das, wofür ihn die Gesellschaft hält, in welcher er verkehrt. Mag sich sein innerer Mensch noch so sehr dagegen sträuben, er muß es dulden, daß ihm die Meinung der Andern die Schellen anhängt, an deren Ton man schon von weitem hört, wofür und wie viel er gilt. Zuletzt verwechselt er sein Ich mit seinem öffentlichen Charakter, denkt nicht mehr daran, daß er noch ein anderer Mensch sein könne, und zieht als eingespanntes Roß geduldig mit am Wagen der öffentlichen Meinung. Will er das nicht, so bleibt ihm Nichts übrig, als den Sonderling zu machen, und dann wird er gleich ein arger Sonderling, weil er mit dem Kappzaum der Gesellschaft auch sofort jedes befahrene Geleise darin verliert. Gerade dies Gefühl, daß er sich im offenen Gegensatz zu den Anderen befindet, bringt den Sonderling zu immer seltsameren Einfällen. So wandeln die Leute in England gleichsam als fertig gemachte Charakterbilder umher. Nur in den unteren Klassen ist die Noth verflachend darüber gefahren, noch weiter unten bei den Irländern sind die Charakterzüge des Einzelnen ganz verwüstet, als Volk haben sie ein Naturell, als Einzelne laufen sie nur so mit in der großen Heerde. Die meisten Engländer sind nun zwar innerlich unfrei, zu rein humanem Denken und Leben erheben sich nur wenige Auserwählte, aber eben so gewiß ist es, daß in England das Volksganze an Tüchtigkeit eben so viel gewinnt, als der Einzelne an innerer Freiheit verliert. Jedenfalls sind die Engländer sicher davor, ein breit fließender Volksbrei zu werden, in welchem der Einzelne nach schwächlichen Launen lebt und das Ganze sich nach dem Willen der Polizei richtet. Der Engländer will sogar lieber ein guter Ehemann, ein guter Matrose, ein guter Rechtsanwalt sein, als ein guter Mensch.

Doch folgen wir nun den Herren Englands, den Lords, den Prälaten, Richtern, Aerzten und Kaufherren zu ihren Tagesgeschäften.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und Leute in der alten und neuen Welt, Band I