Man stellt häufig das brittische Volk unter dem Bilde einer edlen starken Dogge dar, der Engländer aber könnte eher ein ...

I.
Ein Tag in einer englischen Seestadt.


Man stellt häufig das brittische Volk unter dem Bilde einer edlen starken Dogge dar, der Engländer aber könnte eher ein pflugtüchtiges Roß von festen Knochen und Muskelkraft in sein Wappen nehmen. Arbeit oder Langeweile! das wäre in England auch der seligen Götter Loos. Sowie man den Fuß an die englische Küste setzt, weht uns ein ernster männlicher Geist entgegen, der das Schwächliche nicht mag im Denken und Thun; ringsum erhebt sich eine gediegene Pracht, das Volk sieht gescheidt, kräftig, wohlgekleidet aus, das Innere seiner Häuser eröffnet eine Fülle von Wohlleben. Aber nach und nach überkommt den Nichtengländer ein unruhiges und unbehagliches Gefühl, er glaubt sich in einer ungeheuren Fabrik, wo das Sausen und Knarren der riesigen Maschinenräder das Ohr ermüdet. Steht die Maschine einmal still, so umschattet ihn gleich die Langeweile, die langsam mit bleiernen Flügeln über das Land zieht. Will man ihr aus den prunkvollen Sälen entfliehen, so singt sie draußen wieder ihr eintönig Lied zwischen Busch und Wiesengrün. Der einzige geschäftslose Zeitpunkt, wo sie verschwindet, ist die gesegnete Minute, wenn das Tischtuch abgehoben wird und die Flasche umhergeht.


Gewiß haben die Engländer ein Recht darauf, so stolz zu sein und sich und ihre Insel so hochzuachten. Sie sind ein kernhaftes Volk, höchst verständig und ausdauernd im Geschäft, warmherzig und zuverlässig in der Freundschaft. Was sie denken, ist solide, und was sie schaffen, hat alles einen tüchtigen Zuschnitt. Sie haben einen klaren Blick für die Dinge dieser Erde und sind Meister darin, ihren eigenen Hausstand und den ihres Volkes groß und reich zu machen. Aber es fehlt dem englischen Leben ein Hauch vom griechischen Genius, der die tieferen Harmonien im Weltall vernimmt und auch durch die täglichen Gewohnheiten unseres Daseins eine stille Musik durchtönen läßt. Der Engländer thut nichts und denkt nichts als für einen praktischen Zweck, damit ist ein guter Theil von dem weggestrichen, was wir Andern Poesie, Wissenschaft, Gemüth nennen. Auch der gebildete Engländer will bloß kennen, um gleich zu können, die himmlische Lust am Erkennen, das stolze Gefühl, irgendwie etwas ins Wesen der Dinge einzudringen, ist ihm Nebensache. Die Frauenwelt in England liest und studirt eifriger als in Deutschland, aber sie thut es hauptsächlich nur, um das Gelernte im Leben zu verwerthen.

Kurzum das englische Leben im Großen und im Kleinen läuft darauf hinaus, an jedes Ding gewisse Hebel anzusetzen, um eine Frucht für den täglichen Gebrauch herauszudrücken. Da die Engländer alles in der Natur behandeln, als wäre keine Seele darin, so muß man sich billig darüber wundern, daß sie noch nicht ernstlicher in dem Fache arbeiteten, durch bestimmte chemische Mischungen, die sie dem menschlichen Geiste beibringen, bestimmte geistige Kräfte und Neigungen zu erzielen. Wir Deutsche legen in ein Ding auch da gerne Seele hinein, wo wir besser thäten, es gleich dem Engländer frischweg anzubeißen und zu gebrauchen.

Wenn der Deutsche arbeitet, hat er in der Regel noch allerlei Vögel auf dem Dache, der Engländer arbeitet mit jeder Faser seiner Kraft geradesten Weges auf sein Ziel los. Namentlich in neuerer Zeit, wo durch die Eroberungen im Welthandel, sowie durch die geistige Zuströmung vom Continent her, auch in England die Stände zersetzt werden, wo ein unruhiges Streben, reich zu werden und in die Höhe zu steigen, auch dort in die mittlern und untern Klassen gedrungen ist, arbeitet der Engländer doppelt eifrig. Ist aber die Geschäftsstunde aus, dann will er volle und ganze Ruhe; die zwischen Arbeit und Ruhe schwebende angenehme Thätigkeit, das heitere Spiel des Geistes und der Glieder, mag oder kennt er nicht. Sein gerühmter Comfort ist merkwürdig schweigsamer Natur. Wenn dieser des Engländers höchstes Glück ist, so besteht es nur darin, körperlich sich angenehm zu befinden und geistig nicht durch das Mindeste berührt zu werden. Ja man trifft gar nicht selten denselben Mann, der in seiner Werkstatt oder auf seiner Arbeitsstube in Feuer und Thätigkeit war, eine Stunde nachher versunken in eine Art von trübem Halbschlummer. Haben sich darin seine Kräfte wieder gesammelt, so tritt die Langeweile ein, und gegen keinen Feind ist der Engländer wehrloser. Auch wenn er das beste Herz von der Welt hat, versteht er es doch nur selten, sich harmlos und ungefesselt zu vergnügen. Aber nach jedem unglücklichen Versuche, sich zu heiterer Geselligkeit aufzuschwingen, geht er sicher mit neuer Leidenschaft an sein Geschäft.

In den Stunden daher, wo das Leben anderswo nur einen nüchternen Anstrich hat, ist in den englischen Städten voller Aschermittwoch. Auch in unsern Städten sieht es im Hochsommer des Morgens früh, wenn das erste zitternde Licht sich unter das Dunkel mischt, leer und übernächtig aus. Aber kaum ist der letzte Nachtschwärmer singend hinter einer Hausthür verschwunden, so erheben schon die Lerchen und Drosseln in den Vogelbauern und die Finken auf den Bäumen ihr Frühlied, und der Wind, der sich draußen mit dem frischen Duft der Wiesen- und Feldblumen beladen, spielt mit den Rosen auf den Fensterbänken. Zu der Zeit herrscht in den Straßen einer englischen Großstadt nichts, gar nichts als graue Oede. Keines Vogels Stimme klingt durch das unheimliche Schweigen nirgends erhellt sich frisches Grün, auch die Bäume auf den umgitterten Plätzen stehen da wie todtes angemaltes Holz, und die Morgenluft wird in den tiefen langgewundenen Straßen zum Grabeshauche. Die Häuser starren wie breite Gefängnisse in die Höhe, jede Thür, jeder Hof ist eisern verriegelt. Doch dort, in einem Winkel, krümmt und streckt sich etwas, es ist ein zerlumpter Irländer, der auf den Steinen hier sein Nachtlager suchte. An der benachbarten Ecke lehnt ein Polizeimann ernst und ruhig wie eine Bildsäule. Der Mann hat sich in dem wirren Durcheinander von Pracht und Elend, für welches er täglich den Bahnwärter macht, einen philosophischen Gleichmuth angewöhnt.

Der erste Sonnenstrahl zuckt durch die Straßen, und mit ihm kommen Karren auf Karren, welche die Früchte der Umgegend herführen zum Verkehr der landbeherrschenden Stadt. Ihnen begegnen einzelne Schaaren von Arbeitern, welche zur Fabrik eilen; keiner singt oder lacht, sie haben ein hartes Tagewerk vor sich. Allmälig erscheinen an den Hausthüren vierschrötige Hausknechte, Dienstmägde schlüpfen zum Bäcker, Lehrburschen recken noch schläfrig die Arme, alte Kaufmannsdiener mit Glatzköpfen, die große Familie, aber kleinen Verdienst haben, und dünne Schreiber in schäbigen Röcken eilen auf ihren Schemel. Diese Leute sehen aus, als hätten sie zu viel gearbeitet und zu wenig geschlafen. Schweigend gehen sie an einander vorüber, auch die Bekannten grüßen sich nur flüchtig mit den Augen. Nicht gerade Sorge und Gram, aber Gleichmuth oder fester Wille, mit dem Schicksal zu ringen, steht auf den Gesichtern. Lustig ist nur die Menge von Straßenbuben, welche auf einmal, als hätte man sie aus zahllosen Säcken ausgeschüttet, in den Straßen zappeln, schreien und rennen. Man begreift nicht, woher sie plötzlich in solcher Anzahl kommen; sie sind der lebende Beweis, wie weit Armuth und wildes Leben unter dem ärmeren Volke sich verbreitet.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und Leute in der alten und neuen Welt, Band I