Der Fremde findet sich aber in der Regel schon nach wenigen Wochen vereinsamt in den englischen ...

I.
Ein Tag in einer englischen Seestadt.


Der Fremde findet sich aber in der Regel schon nach wenigen Wochen vereinsamt in den englischen Großstädten, er rechnet seine Genüsse zusammen und findet sie ebenso einförmig als massenhaft. Auch in den Clubs, deren Häuser auf das behaglichste eingerichtet sind, kann er oft lange suchen, ehe eine Gesellschaft ihm recht zusagt. Derselbe Kaufmannston, welcher bei uns nur die eigentlichen Handelsstädte beherrscht, dringt in England in jeden Kreis hinein, selbst die Gedanken scheinen dort im selben Augenblick als sie entstehen gleich ihren Marktpreis anzunehmen. Hat der Gast aber unter Engländern das Glück, daß sie ihn als guten Bekannten schätzen, so kann er auch sicher in ihrer Freundschaft herbergen. Werden sie dann einmal fröhlich, so ist ihre Unterhaltung so offen, geradeaus und kernhaft, daß man selbst von Grund des Herzens mitlacht. Man ist unter Männern, die sicher sind, daß keiner dem andern weder durch Streiten, noch durch übergroße Zärtlichkeit eine unangenehme Minute macht, die einander aber recht herzlich achten und vergnügen wollen. Und wie wohl wird es erst dem Fremden des Abends, wenn er das Glück hat, in eine Familie eingeführt zu sein, in welcher sich altenglische Gediegenheit mit moderner Bildung vereinigt. Da muß er sich wohl aufgehoben fühlen und insbesondere verehren das feste ruhige Walten, den kräftigen Geist und die herzgewinnende Freundlichkeit der englischen Frauen.


Doch wir eilen zu den Schlußscenen auf der Straße. Sie wimmelt jetzt am späten Abend von jenem dunkleren Volke, unter welches uns am Nachmittag der Zufall führte. Aus all seinen Häuserhöhlen ist es jetzt auf die Straße gestiegen und herrscht dort ohne Mitbewerber. Zahllose hübsche Mädchen treiben sich lachend umher, denen die freche Begehrlichkeit aus jeder Miene sieht. Mit ihnen stehen und gehen alte und junge Weiber, zerfressen von Schmutz und Noth. Andere Frauen winden sich schüchtern und bekümmert, mit bleichen Gesichtern, an den Häusern hin, in ärmlicher, aber anständiger Kleidung. Diese sind die Arbeiterfrauen, welche am Abend von den Männern etwas Geld erhielten und jetzt zum Bazar eilen, um Lebensmittel zu kaufen. Wir folgen ihnen zur glasbedeckten Kaufhalle. Wie glänzt da Alles, wie sind die Waaren ausgeputzt und lachen den Käufer an, und die armen Frauen stehen davor mit verlangenden Blicken und wenden die Pennies in der Hand hin und her, bis sie endlich ein schlechtes Stück Fleisch gefunden haben, um welches sie nun zu feilschen wagen. Doch vielleicht dürfen sie sich einmal einen guten Tag machen und verweilen vor den besseren Kaufläden. Durch niedliche Anordnung der mannichfaltigen Farben und Formen der Waaren, durch geschickte Mischung von Lichtern und Aufsätzen, von Grün und Blumen, wird ein solcher Laden zu einer Art Kunstwerk. Doch wer auch hier einen Blick hinter die Bühne warf, sah vielleicht wie die Kokosnüsse glänzend gebürstet, die Ananas und Aepfel bemalt, die Kelche in den prangenden Blumensträußen durch künstliche Mittel steif gemacht wurden. Es sieht Alles so lockend und saftig aus, aber das Obst schmeckt wie aufgedunsen, der hellrothe Schinken ist halb verrottet, das Mehl hat einen Zusatz von Kreide. Die Armen können nur billige Waaren kaufen, sie bekommen auch halb vergiftete.

Wir verlassen den Bazar wieder. Welches Menschengewoge, welches Schreien und Lärmen nun überall. Wer sich nicht vorsieht. wird aus dem Wege gestoßen. Es dauert eine Weile, ehe man sich in dieses Treiben hineinfindet und die einzelnen Gruppen unterscheidet. An den hellstrahlenden Schnapspalästen, welche die Straßenecken einnehmen, lärmen fröhliche Irländer in Lumpen, man kennt sie gleich an ihrem zutraulichen neckischen Wesen. Durch sie hindurch bahnt sich ein Zug jauchzender hüteschwingender Matrosen den Weg. Hier steht ein Straßenprediger und betet und singt und ruft vor einer Schaar, die ihn mit finstern oder ungläubigen Mienen umgiebt. Dort singt ein Weib zur Drehorgel und bietet in den allerderbsten Ausdrücken ihre Balladen an, die Geschichten von jungen verfolgten Liebenden und gehängten Räubern. Ein Maler in seiner Bude verheißt jedes Portrait in fünf Minuten, ein Guckkastenmann ruft seine Wunder aus, ein Taschenspieler läßt durch seine Gläser in die Zukunft blicken. Ein anderer Mann lockt zu seinem Schießstande hin. Hier ist alle Abend Jahrmarkt. Das Volk drängt sich vor den schimmernden Läden voll Eßwaaren, Gingerbeer, Bisquits und Büchern mit großen Holzschnitten; hungernde Kinder umlagern einen Kessel, in welchem Speisen gesotten werden; an den Ecken im Dunkeln lauert ein Haufe alter Weiber mit schmutzigen Körben, hier und da lehnt an einem Hause ein einzelner Mann in zerrissener Kleidung und starrt wie blödsinnig zum Himmel. Die Gruppen ziehen, wechseln und drängen sich weiter. Durch all das Treiben schlüpfen fortwährend die Mädchen, welche auf die zudringlichste Weise Verdienst suchen, die Knaben, welche ihren kleinen Kram von Apfelsinen, Nüssen, Backwerk, Feuerzeug vor sich her tragen und ausrufen, die Bettelweiber, welche ungestaltete Kinder zeigen, die Polizeidiener, welche leise und behende überall gegenwärtig sind. Das Ganze macht niemals den Eindruck eines Volkes, das sich harmlos vergnügt und einen guten Abend macht, es ist eine wilde freche Lust, als wollten die armen Menschen mit Gewalt ihr Elend vergessen. Es ist, als wenn etwas Beängstigendes in der Luft läge.

Die Nacht rückt heran, die Männerrotten werden dichter, die Schnapshäuser zahlreicher umlagert, die Frauen und Mädchen schlagen und stoßen sich dazwischen umher. Man biegt in eine Nebenstraße ein, dort zeigen sich nur ein paar trübe Laternen, der ungesunde Qualm schlägt einem entgegen, aus den Tanzstuben schallt Musik, Gekreisch und Gelächter. Der Schnaps wirkt. Halbtrunkene ziehen umher, es entsteht Schlägerei, die flinken Polizeidiener sind bei der Hand und schleppen einen Gefesselten zur Wache. Sträubt er sich noch, so wird er gleich kreuzweis auf eine Leiter gebunden, daß Arm und Bein ihm brechen wollen, in Deutschland würde er fortgezerrt, in England ist man auch in solchen Dingen praktischer und brutaler. An der Straßenecke in der Nähe liegt eine alte Frau am Boden, sie wird aufgerichtet und erzählt, seit wie vielen Tagen sie hungere, und die Mädchen treiben sich lachend und schreiend vorbei, sie denken nicht daran, daß sie ihr einstiges Loos vor sich sehen.

Nach und nach verliert sich das Volk in die finstern Gassen und Winkel hinein, die Hauptstraßen werden stiller, die Nacht und der Schlaf lassen all den Wirrwarr und Jammer verstummen. Nur die Schnapspaläste und Apotheken strahlen noch ihre Lichter durch die Straßen, nur alte verlumpte Frauen suchen noch von einzelnen Schaaren junger Leute, welche lärmend von Gelagen heimkehren, etwas Bettelbrod zu gewinnen, und weichen mit den spärlichen Nachtwanderern den Karrossen aus, welche dann und wann über die Straßen donnern, um Englands Stolz und Schönheit von Fest zu Fest zu bringen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und Leute in der alten und neuen Welt, Band I