Bei unserer Rückkehr scheint das Innere der Stadt festlich aufgeschmückt. Es ist Spätnachmittag, ...

I.
Ein Tag in einer englischen Seestadt.


Bei unserer Rückkehr scheint das Innere der Stadt festlich aufgeschmückt. Es ist Spätnachmittag, bald erscheinen Englands Herren in Pracht und Schimmer mit ihren Damen. Um dem Rasseln der gold- und silberbedeckten Wagen zu entgehen, biegen wir aus einer Straße, wo das Volksgedränge zwischen weithin glänzenden Läden und stolzen Palästen daherbraust, ab in eine Nebengasse. Ein paar enge Durchgänge – und wir glauben uns plötzlich in ein ganz anderes Land versetzt. Aus den kleinen dachlückigen Häusern hängt oben und unten an vorgestreckten Stangen zerrissene Wäsche: das sind die ausgehängten Fahnen des Elends, es lungert und schlendert hier vor jeder Thüre. Vielleicht ist in der ganzen Straße kein Einziger, der mehr als ein halbes Hemde trägt. Der arme Deutsche arbeitet lieber bis auf's Blut, ehe er ohne Hemde ginge; der arme Franzose bürstet seinen Rock und knöpft ihn fest zu, um seine Dürftigkeit darunter zu verdecken; der Engländer, wenn er einmal liederlich ist, versäuft auch den letzten Heller und kümmert sich nicht, was für Lumpen er trägt. Jedoch sind es nicht bloß Engländer, welche in die armen Stadtviertel zurückgestoßen sind, auch Irland hauset da. Arm Paddy findet ja hier noch ein Paradies im Vergleiche zu den dumpfen Erdhöhlen auf seinen heimischen Mooren. Irland übervölkert die englischen Proletarierstädte, das ist seine Rache an England, dieses hat noch viel zu schaffen, ehe es aus dem irländischen Teige Brod backt. Doch arm Paddy behält auch im hartarbeitenden Herrenlande seine Windigkeit und seine lustigen Einfälle. Er ist ein geschwätziges schelmisches Kerlchen, das aus lauter närrischen, gutherzigen, tobsüchtigen Launen zu bestehen scheint, und das unter den Püffen und Tritten der Armuth noch einen Witz macht, weil das Lachen einmal in seiner Natur sitzt. Vielleicht ruft uns ein alter Bettler ein Witzwort nach, das die ganze Straße hinab an Thüren und Fenstern von abgehärmten, aber lachenden Gesichtern wiederholt wird, uns aber desto schneller flüchten macht. Doch nun kommen wir erst recht in die Höhlen und Schlupfwinkel des Elends und des Lasters hinein. Es stiert uns an, wohin wir blicken, so roh und gräßlich, daß uns das Herz fröstelt. In Koth und Gassendunst balgen sich nackte Kinder, gelbbraune Weiber, die ihre Blöße nicht mehr verhüllen können, grinsen uns an, und an den finstern Fensterlöchern erscheinen bleiche Männer, deren Blicke nichts weniger als Vertrauen erwecken. Hier regnet es nicht mehr Witze, aber Flüche und Scheltworte. Wir eilen weg ohne aufzusehen, aber wir verlieren uns nur immer tiefer in das Durcheinander von dunkeln Gäßchen und verfallenen Wohnungen, bis ein höflicher Polizeimann uns die Oeffnung zeigt, durch welche wir wieder auf eine Hauptstraße gelangen.


Wir athmen auf und bemerken bald, wie nun die Straße noch viel gefüllter ist. Denn sobald die Dämmerung ihre ersten Schatten zwischen die Häuser wirft, schließen sich die Geschäftszimmer. Ihre Bewohner erscheinen in sauberer Kleidung zum Lustwandeln, andere eilen in die Vorstädte zu ihren Familien und netten Gartenhäusern. Reichgeschmückte Frauen grüßen einander und treten hier und da ein zum kaufen. Alles auf der Straße hat das Aussehen des Wohlanständigen, ja Würdigen. Aber schon mischt sich zerstreut ein Streifen anderen Volks darunter, nach und nach wird dasselbe dichter: andere Kleider, andere Manieren und Gesichter, andere Sprache, man sollte meinen, es wäre ein ganz anderer Volksstamm. Das sind die Arbeiter aus den Docks, aus den Fabriken, aus den Kellern und Dachstuben, wo sie die langen Stunden des Tages sich abgemüht haben. Es wird dunkler, die Gaslampen entzünden sich, die Schaufenster strahlen im hellsten Glanze. Nun ist die lebhafteste Zeit auf der Straße. Da zeigt sich Pracht, Anmuth, Heiterkeit. vermischt mit schreiendem Elend. Prunkende Karrossen, stattliche Reiter, rufende Jungen, fröhliche Matrosen, ehrenfeste Bürger und Frauen ziehen vorüber. Große Wagen, von oben bis unten bedeckt mit ellenlanger Schrift, fahren langsam einher, um Anzeigen von Vergnügungsgärten, Bärenhetzen oder auch politischen Versammlungen gleichsam mit Gewalt unter die Leute zu bringen. Die völlig affenmäßig herausgeputzten Kutscher und Bedienten auf den herrschaftlichen Wagen scheinen fast einen ähnlichen Zweck zu haben, als sollten sie auf ihre Gebieter aufmerksam machen. Wieviel breite, trotzige Gesichter und wieviel männliche Züge, wie aus Eisen geschmiedet, treten uns nun entgegen. Hier und da stiehlt sich auch ein unvergleichliches Spitzbubengesicht dazwischen, England hatte von jeher seine ganz gründlichen Spitzbuben. Aber auch welch reichen Zauber von wundervollen Frauengestalten sehen wir hier auf wenigen Schritten, und wie manches edle schöne Antlitz, in dessen großen stillen Augen sich Herzensgüte wie Klugheit ausdrückt. Manche Frau, die überreich gekleidet durch die Straßen fährt, sucht nur die Stätten auf, wo man der Armuth Hülfe schafft.

Aber sehr bald ändert sich die Scene auf der Straße. Die Vornehmen sind auf einmal verschwunden, sie sind fort zu Theater, Gesellschaft und Familie, nur hin und wieder eilt noch Einer schnellen und leisen Schrittes vorbei, mit zugeknöpftem Rocke, als fürchte er einen Griff in die Brusttasche. Die großen Luxusläden schließen sich nach und nach, nur die kleinen bleiben offen, um die minder Reichen anzuziehen. Denn die Straße wimmelt jetzt von jener ärmeren Bevölkerung.

Doch wir gehen zunächst mit Denen, welche die Straße verlassen. Es winken uns die erleuchteten Theater und andere Vergnügungshallen. Wenige große Bühnen ausgenommen, auf denen die ausgezeichnetsten europäischen Künstler im herrlichen Einklang wirken, kommt man in den übrigen Theatern nur zusammen, um recht zu lachen. In Deutschland wird vielleicht auf der ganzen Erde am meisten gelacht: will man aber hören, was ein hauserschütterndes Gelächter ist, muß man zu den Engländern kommen, sie lachen dafür auch um so seltener. Es ist gar nicht möglich, tollere Spässe im raschesten Durcheinander zu sehen, als in den englischen Possen und Pantomimen. Andere Stücke werden in einer gewissen grundderben Art gegeben, der Deutsche möchte sie manchmal gemein nennen. Die Helden schreien wie Kapitäns im Sturme und die Heldinnen schreiten aus wie verkleidete Wachtmeister, und wenn es zu zärtlichen Scenen kommt, geben sie sich auf der Bühne einen Kuß, der durch's ganze Haus schallt. Auch die englischen Schauspieler können den Naturfehler ihrer Landsleute, den Mangel an natürlicher Anmuth, nicht überwinden. So lange der Engländer seinen Geschmack noch nicht auf Reisen gebildet hat, könnte man von ihm beinah sagen, daß er immer am weitesten von dem entfernt ist, was ihm als das heißeste Ziel seiner Wünsche vorschwebt, nämlich auch in liebenswürdiger Leichtigkeit des Benehmens den Gentleman darzustellen. Seine tägliche Morgenarbeit besteht in langstündigen Studien auf dem Ankleidezimmer, um die feine Glätte des Gentleman herauszubringen, aber wenn er draußen erscheint. stolpert er wieder über der eigenen Würde Schwergewicht. – Außer den Theatern bieten vorzüglich die öffentlichen Gärten einen Reichthum von Genüssen. Herrliche Landschaften sind darin mit einer Kunst und Täuschung nachgebildet, welche an Zauberei gränzt. So tritt man nur ein paar Schritte von der Straße in einen Garten und befindet sich auf einmal zwischen kühlen Gebirgsschluchten, auf dem See schwanken die Wasserlilien, ein Sturzbach plätschert hinein, dahinter erhebt der Montblanc seine Schneegipfel; ein paar Schritte weiter führt ein grünbelaubter Gang, der mit Glanz und Duft aus dem Harem eines Pascha hierher versetzt scheint, eine Höhe hinauf; da trauert ein Marmortempel in Ruinen zwischen Lorbeergebüsch und wilden Reben, man glaubt sich auf halbödem Hügel unter griechischem Himmel; auf der andern Seite führt der Weg wieder hinab und bei einer Wendung plötzlich in die Adelsberger Höhle mit ihren seltsamen Tropfsteingestalten. Das Alles ist mit höchst künstlerischem Geschick naturgetreu dargestellt und der Eindruck wundervoll. Nun zurück zum Hause, dort winken schöne Speisesäle, erfüllt von Musik, und ein Säulenrundgang, in welchem die berühmtesten Bildsäulen der alten und neuen Kunst in vorzüglicher Nachbildung aufgestellt sind. In der Mitte tönt eine Orgel voll herrlichen Wohllauts, leider wird sie schlecht gespielt. Einige Stufen führen von hier scheinbar auf einen Thurm, von welchem man London in Mondbeleuchtung sieht, die Gas- und Ladenlichter in den Straßen, die Themse mit den Schiffen, auch Regen und ziehende Wolken sind auf das täuschendste nachgeahmt. In einem andern Garten der Art hat man dicht neben einander die prächtigsten wilden Thiere, eine feenhafte Kalypsogrotte, mehrere Musikbanden, Theater im Grünen, Feuerwerk und zum Schluß in riesenhaften Umrissen den Vesuv und den Ausbruch seiner Gluthen. Jeden Abend wandeln Tausende von geputzten und heitern Menschen durch diese Gärten. Andere Anziehungspunke des Abends sind politische Versammlungen, wo die Redegewalt zur Bewunderung hinreißt oder Abendschulen, wo man sich entsetzt über die Verwilderung der Armenkinder, oder polytechnische Anstalten, nicht minder großartig, wie in den Gärten, für Vergnügungen, ist in diesen für öffentliche Belehrung in jeder Kunst und Lehre der Naturwissenschaft gesorgt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und Leute in der alten und neuen Welt, Band I