Außerordentlich reich aber sind die englischen Städte an Bibliotheken und an Sammlungen von ...

I.
Ein Tag in einer englischen Seestadt.


Außerordentlich reich aber sind die englischen Städte an Bibliotheken und an Sammlungen von Naturalien, künstlichen Maschinen und allerlei Kuriositäten. Das brittische Museum in London ist eine Halle, in der man durch alle Naturreiche wandeln, aus allen Völkerjahrhunderten die merkwürdigsten Zeugnisse überschauen kann. Da ist Alles so großartig, so gedrängt voll, daß acht Tage kaum hinreichen, unter diesen unermeßlichen Naturschätzen sich nur obenhin zurecht zu finden; ein Naturkundiger, ein Freund der Kulturgeschichte hat dort Jahre lang den reichsten Genuß. Auch die alten Kirchen sind nach der Weise des Mittelalters nicht bloß dem Gottesdienste, sondern auch nationalen Erinnerungen geweiht. Und darin zeigen die Engländer Achtung vor sich selbst und Achtung vor den großen Männern ihres Volkes. In welch anderm Lande steht solch ein Westmünsterdom, in dessen erhabener Stille unter hohen Gewölben die Dichter und Helden des Landes ruhn? Mit warmer Theilnahme sieht man dort zwischen den Säulen und Denkmalen die Mütter mit ihren Knaben umherwandeln.


Geschichte, nicht Kunst, sieht man auch auf den englischen Straßen. Den Denkmalen, welche zur geschichtlichen Erinnerung errichtet wurden, ist zwar insgemein irgend etwas Geschmackloses angehängt, aber sie erfüllen hier, wo das Volk sich fühlt. vollständig ihren Zweck. Besonders häufig werden solche Denkmale, seit die Engländer nach der Besiegung Napoleons sich auf dem Gipfel der Macht wissen. Den eisernen Herzog haben sie schon bei Lebzeiten vergöttert in Denkmalen, die sie ihm halbdutzendweise gleichsam vor der Nase aufstellten, und mit unvergleichlicher Unverschämtheit nehmen sie den ganzen Ruhm der Niederwerfung des gewaltigen Korsen für sich allein in Beschlag. Wie leicht wiegt ihnen gegen ihren Wellington das Verdienst von Blücher, York, Bülow und den Andern! Daß bei Waterloo, wie in Spanien, das englische Heer zu einem guten Theile auch aus deutschen Regimentern bestand, wird kaum irgendwo erwähnt. Gegenwärtig stellt eine Stadt nach der andern Statuen der Königin Victoria auf, Name und Person treffen gerade jetzt glücklich zusammen, um in der Bildsäule der Königin das stolze Bild Englands aufzurichten. Der Engländer thut darin seinem Volks-, wie seinem Unterthanengefühle recht etwas zu Gute. Aber wenn sich die Straßen seiner Städte auch nicht mit solchen Denkmalen schmückten, es bliebe ihnen dennoch ein geschichtlicher Charakter aufgeprägt, der stätig Erinnerungen und Ideen erweckt. Englands Gegenwart steht noch mit tausend lebendigen Wurzeln in und auf seiner Vergangenheit. Bei uns Deutschen ist die Herrlichkeit früherer Jahrhunderte in den Wüsteneien versunken, die uns der dreißigjährige Krieg hinterließ, und manches schon verklungene Sage, was früher leibhaft lebte. Auf der englischen vom Meer umhegten Inselfeste aber hat sich das Mittelalter mit seinen tüchtigen Gestaltungen wie mit seinen Gebrechen erhalten, und die neue Zeit hat das ihrige nicht minder solide daran und dazwischen gebaut. Die Engländer sind auch viel zu gescheidt, als daß sie den Rost des Alterthums wegkratzen sollten, sie entziehen vielmehr die Ruinen und alten Denkmale der zerstörenden Hand der Zeit und den noch frechern Händen der Gewinnsucht. Sie denken nicht daran, ihren Städten das kasernenmäßige Aussehen zu geben, welches das Zeitalter der Cäsaren und Beamten bezeichnet. Lieber lassen sie ihre alten Häuser klein und groß durch einander hängen und stehen, wenn auch der geschickteste Polizeimann verzweifeln muß, dies Gewirre durchzustöbern.

Mit derselben Sorgfalt für die Werke der Geschichte haben die englischen Schriftsteller jedes Blättchen darin durchgeforscht, jeden tüchtigen Mann vortheilhaft in’s Licht gestellt. Unsere deutschen Geschichtsforscher sind vielleicht noch fleißiger und gewissenhafter bei der Arbeit, aber wie viel fehlt daran, daß das Volk auch bei uns jedes Kapitel seiner Geschichte mit Fleiß und Verehrung liest, wie der Engländer die seinige. Der Grund liegt nicht bloß darin, daß unsere Geschichtskenner viel zu gelehrt und gedankenvoll, und viel zu wenig fließend, naiv und geschmackvoll schreiben. Der Grund liegt tiefer. Die Engländer und Franzosen haben im selben Grade und zur selben Zeit, als Deutschland in verschiedene Staaten aus einander ging, ihre Volkskräfte zu einem Staatsganzen geeinigt. Deshalb stand ihnen die Weltbühne weit offen, als die Deutschen nach dem dreißigjährigen Kriege sich mit zerschlagenen Gliedern zurückzogen. Seit jener Zeit ist auch die englische und französische Literatur, insoweit sie Geschichte und Gesellschaft betrifft, in den Vordergrund getreten. Die meisten Gebildeten in Deutschland sind selbst mit dem Familienleben eines Mannes, der in der französischen oder englischen Gesellschaft einmal eine Rolle spielte, vertraut, aber so mancher seiner deutschen Zeitgenossen, dem er vielleicht nicht das Wasser reichte, ist kaum oberflächlich gekannt. Meinte doch jüngst einer unserer wirklichen Dichter wunderswelche spitze Wahrheit entdeckt zu haben, als er den Ausspruch that: „die deutsche Geschichte ist eine ewige Krankheitsgeschichte.“ Man sollte meinen, er hätte es sich in den Kopf gesetzt, einmal etwas recht Albernes zu sagen. Es ist doch zu wunderlich, daß das arme seit achtzehn Jahrhunderten immerfort kranke Volk noch kein einzigesmal gestorben ist. Englische und französische Geschichtschreiber haben aber für ihre Helden zur Zeit nicht nur den Ruhm und das Interesse des Erfolges voraus, sondern es begünstigt sie noch ein anderer Vortheil. Ihre Hauptgeschichte hat sich Jahrhunderte lang auf kleinem Raume und auch später immer nur von einem einzigen Mittelpunkte aus bewegt. Sie läßt sich daher in allen ihren Gliederungen rund und klar überschauen und dramatisch behandeln. Uns Deutschen leuchtet dieser Vortheil bei der Geschichtschreibung zunächst nur für die Einzelgeschichten unserer Länder und Fürstenhäuser ein, aber auch diesen Einzelgeschichten klebt etwas Unfertiges an, weil sie sich von der allgemeinen deutschen Volksgeschichte nicht loslösen lassen. Letztere hat wohl noch größere dramatische Kraft, als die englische und französische Geschichte, ihre Darstellung erfordert aber auch bedeutende Kräfte. So lange indessen scheint es, dürfen wir eine ächte deutsche Volksgeschichte noch nicht erwarten, so lange unsere Juristen und Staatsmänner sich noch mit der Verarbeitung der Landes- und Verfassungsgeschichten begnügen und die deutsche Volksgeschichte Männern philologischer Bildung überlassen.

Doch verlassen wir die Straßen und Plätze in den englischen Städten, wo die Geschichte uns aus allen Ecken anblickt, und erfrischen wir uns in der ewig jungen Natur. Aber wo sollen wir hin? Wir müßten ja stundenweit fahren, um zu grünen Hügeln und freier Aussicht zu kommen. Rings um die Stadt ist immer noch halbe Stadt, Fabriken, Häuser, Gärten, jedes lockende Plätzchen umgittertes Eigenthum. Wir wenden uns daher zum Hafen oder Flusse. Dort in dem belebenden Hauch der Strömung hoffen wir auf Kühlung. Aber auch da ist alles besetzt von Zoll- und Werkhäusern, Zimmerplätzen, Waarenschoppen und Trinkbuden. Für bloße prachtvolle Einfassung der Ufer hat man kein Geld, jede Stelle wird einfach praktisch verwandt. deshalb hat der Strand ein bloß geschäftsmäßiges Aussehen, und die kühlenden Lüfte sind geschwängert mit Theer- und Kohlengeruch und den Ausdünstungen der Waaren aller Welttheile. Aber in dem Volke, das sich hier umhertreibt, in den Matrosen, steckt Naturfrisches. Das sind noch die Leute in England, die nicht alles erst klug und trocken berechnen, sondern gleich aus der wilden lustigen Natur heraus, nach Launen und Einfällen, nach plötzlichem Gefühl und Antrieb handeln, singen und springen. In andern Ländern umhegen Wald und Gebirge und Haideland den Volksschlag, der hart und einfach in Ansichten und Bedürfnissen, aber frisch und naturkräftig in Gefühl und That ist, aus dessen Schooße sich daher unmerklich die Stoffe ersetzen, welche im übrigen Volke die feinere Bildung abnutzt. Für England erzieht einen solchen Volksstamm das Meer mit seiner Oede und Erhabenheit, mit seinem lustigen Wellenspiel und seinen finstern Stürmen. Vom Meere her weht unaufhörlich über England hin eine Luft, welche auch die Geister kräftigt, sie verjagt den Staub und Dunst der Geschäftsstuben, welcher die Lebenssäfte eintrocknen will. Der Engländer ahnt und weiß es, daß auf den weiten Fluthen, welche seine Insel umgeben, ihm eine unversiegliche frische Kraft zuströmt. Die Matrosen, diese wilden „Eichenherzen,“ sind im ganzen Lande die Volkslieblinge, und man freut sich über ihre Wildheit wie über ihre närrischen Streiche.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und Leute in der alten und neuen Welt, Band I