Die Knaben der Umgegend untersuchen noch täglich alle Buchten und verfallenen Festungswerke, ...

X.
Champlain- und Georgs-See.


Die Knaben der Umgegend untersuchen noch täglich alle Buchten und verfallenen Festungswerke, und wenn man sie über die alten Kriegsgeschichten reden hört, sollte man meinen, sie hätten jeden Schuß treffen sehn, so genau unterrichten sie sich über das Verdienst ihrer Vorfahren. Es ist ein rauhes, kräftiges Geschlecht, welches zwischen Vermonts Bergen und Hügeln wohnt; Viehzucht, Feldbau und Holzhandel sind fast das einzige Gewerbe der Männer, und ganz besonders sind sie der Jagd zugetan. An ihren Bergen steht treffliches Wild, jeder kann jagen, und wer sich die sauern Gänge bergauf bergab durch Dickicht und Sumpf nicht verdrießen läßt, kann immer noch einen guten Schuß thun. Denn, eine Merkwürdigkeit in Amerika, das Gesetz gewährt im Staate Vermont dem Rothwild eine Hegezeit. Den Farmern in andern Staaten kommt ein solches Gesetz vor wie ein unerträglicher Eingriff ins Eigenthum; was ich auf meinem Grundstücke finde, denken sie, das gehört mir, und das kann keiner mir wieder nehmen. Dafür wird es auch nicht mehr lange dauern, daß sie keinen Hirschkopf mehr zu sehen bekommen; die grünen einsamen Höhen von Vermont aber werden vielleicht noch hundert Jahre und darüber einen hübschen Stand von Rothwild hegen. Das junge Volk, selbst alte Leute ziehen von hier in Menge nach dem Westen, dort das beste Land einzunehmen, Einwanderer aber versteigen sich selten bis hierher. Deshalb nimmt die Volksmenge in Vermont wenig zu und läßt dem Wilde seine Waldschluchten und versteckten Thalbäche. Vermont wird noch lange seinen Stichnamen, daß es erst ein „zukünftiger Staat sei“, behalten. Man lebt in dieser Gegend noch mit Wald und Natur zusammen, jeder Bube denkt an Jagd, Fischfang, Waldhonigsuchen, Nüsseklopfen und Ahornzucker kochen. So großartig wie in Canada sind hier freilich die Jagden nicht, dort ist dieses Vergnügen etwas Wildes und Gefahrvolles und die Jagdzüge gehen vor sich im großen europäischen Stile. Diese Yankees aber betreiben die Sache viel einfacher bloß von der praktischen Seite.


Gar herrlich sind hier die Wälder. Man gewöhnt sich in Amerika bald an Einförmigkeit der Menschen, Sitten und Landschaften: der amerikanische Wald macht davon eine Ausnahme, er ist höchst mannigfaltig an prächtiger Gruppirung und Mischung, wie an Arten der Bäume. Es giebt dreißig oder vierzig verschiedene Eichenarten; Nadelhölzer, Wallnuß- und Ahornbäume zeigen ebenfalls einen Reichthum von verschiedenen Laub- und Astformen. Zwischen dem mancherlei Grün dieser stolzen hochgeschwungenen Bäume sind eingemischt dunkles Nadelgehölz, bleiche Silberpappeln, glührother Sumach, schlanke weiße Birkenschäfte, sanftgrüne Platanen, zitterndes Eschenlaub und hundert andere Baumarten. Die beste Freude vom amerikanischen Walde hat man freilich, so lange man am Rande oder auf lichten Stellen bleibt, wo sich das vielfarbige Waldgewoge dem Auge darbietet, die reine durchsichtige Luft läßt weithin die Wipfel und Laubschattirungen unterscheiden. Das Innere des Waldes ist gar nicht so freundlich. Selten weht uns duftige Frische entgegen, buntfarbige Spechte und andere Waldvögel in schillernden Farben flattern in Menge, aber es fehlt der fröhliche Vögelschlag, nur hier und da zeigt sich liebliches Untergebüsch und ein Moos- und Blumenteppich, besäet mit funkelnden Sonnenstrahlen. Bei dem Eintritt in das Walddunkel umfängt uns vielmehr eine düstere Erhabenheit. Der Boden ist bedeckt mit schwarzem Moder, und in furchtbarem Wirrwar liegen über einander Baumstämme, Aeste und Wurzelscheiben, überwuchert von Sumpfe und Kletterpflanzen. Das alles kann nicht so schnell vermodern, als der junge Ausschlag schon wieder durchbricht und das Alte zur Seite schiebt. Hier sieht es aus, als hätte eine grimme Schlacht unter den Waldriesen gewüthet, so furchtbar sind die Bäume durcheinander geworfen, greise Stämme liegen mit verdorrten Aesten zwischen dem grünen Gezweige der noch stehenden, und lassen bleiche Trauerflechten niederhangen. Dort neigen sich die Bäume über einen gelbschäumenden Waldbach mit ihren Wipfeln gegeneinander, wilde Reben schlingen sich hinüber und herüber, und weit hinauf eröffnet sich eine Folgenreihe von grünen hochräumigen Grotten. Das ist überall ein so eignes Leben und Wirthschaften der Bäume und Gewächse, so ganz eine Welt für sich, daß der Mensch sich darin fremd und klein fühlt. Diese ungeheuren Wälder blühten und vergingen und wuchsen wieder Jahrtausende lang, die Natur that sich in ihnen allein genug, sie dachte nicht an die paar streifenden Indianer, deren Lager auf Tagreisestrecken einmal ein Baum beschattete. Nur höchst mühevoll dringt man weiter in die Waldestiefe, die Natur scheint den Weg verbauen zu wollen durch dichte Geflechte von Zweigen, Wurzeln und Reben und Verhack von Baumstämmen, welche fast bis oben zwischen die Aeste reichen. Man kann sie nicht umgehen, weil ihre Verkettung zu ausgedehnt und mit Zweigen und Gebüsch zu sehr verflochten ist: will man sie aber übersteigen, so bricht auf einmal, wenn man eben auf einem riesigen Stamme steht, die Rinde ein, welche die innere Verwesung des Baumes noch verbarg, man versinkt bis an die Brust in Wust und Moder, in ein Gewimmel von Käfern und Würmern. Man gelangt namentlich in den Cederforsten auf Stellen, wo die Dunkelheit so zunimmt, daß man nur wenige Schritte weit sehen kann, der bleiche Tagesschimmer verlischt schon oben zwischen dem dichten Gezweige, ehe er in die naßkalte Tiefe herunterfällt.

Gern weicht man aus diesen unheimlichen Orten an lichtere Stellen zurück, wo sich hoch oben über dem laub- und ästebedeckten Boden das dichtgrüne Zweigdach verbreitet und sich weite Säulengänge aufthun, in denen die Reben so frei in der Luft schwebend bis an die höchsten Aeste reichen, daß man sich nur denken kann, sie sind gleichzeitig mit den wachsenden Bäumen in die Höhe gestiegen. Aber auch hier fehlt noch viel bis zu der Anmuth und blühenden Herrlichkeit der deutschen Haine. Die amerikanische Landschaft ist gar selten von dem heitern Leben, dem Klang und Duft erfüllt, wie die europäische, viel eher trägt sie das Gepräge des Ernstes und der Kraft. Rasch und unbarmherzig werden Leben und Gestalten verzehrt, um der andrängenden Fülle neuen Wachsthums Platz zu machen. In der europäischen, namentlich mitteleuropäischen Landschaft herrschen die sanften Töne vor, es liegt, möchte man wohl sagen, etwas Duldsames und Mildes darin, was Geist und Gemüth wohlthuend anregt. Die amerikanische Landschaft hat viel hellere Lichter und dunklere Schatten, es treten Farben und Formen energischer, massenhafter auf, aber auch greller und eintöniger. Ganz eigen ist ihr aber das Schweigsame. Je mehr Ortschaften und Städte sich ansiedeln, je länger sie das Land anbauen, desto freundlicher und lieblicher wird es werden, desto belebter auch von Singvögeln, Blumen und Schmetterlingen. Aber ich zweifle, ob die amerikanische Landschaft jemals den Adel und die milde Schönheit der europäischen erreichen und ob sie jemals den Charakter des Schweigsamen und Eintönigen ganz verlieren wird.

Das herrlichste Landschaftsbild in den Vereinigten Staaten, wundervoll wie es die Erde nur selten darbietet, ist der Georgssee. Er hängt bei Ticonderoga durch einen tiefen Durchlaß mit dem Champlainsee zusammen, das Wasser stürzt sich schäumend hinab, die Felsen ringsum prangen in allerlei Farben und Waldgrün. Keiner der an den Georgssee kommt, kann sich des machtvollen Eindrucks erwehren, den die eigenthümlich wilde Größe und Schönheit des Ortes auf ihn macht. Das Wasser ist so wundervoll klar, daß man die Fische und Muscheln tief auf seinem Grunde sieht, und die kleinste Blüthe und rothe Beere, welche an den Felsen hängt, mit jedem Blättchen sich abspiegelt. Die Gebirge aber erheben sich ringsum hoch und ernst, eine Felswand ist auf die andere, ein Pik über den andern gethürmt, durchbrochen von finstern Schluchten, weithin bedeckt von wallenden Wäldern. Wer auf der Reise von München nach Innsbruck die stille Majestät des Achensees geschaut hat, der wird am Georgssee im Staate Newyork etwas ähnliches wieder finden. In diesem spiegeln sich zwar nicht die Hochalpen des ewigen Schnees, aber tausend Fuß hohe Gebirge in seltsamen Spitzen und Zacken, und glatte ungeheure Felshänge und wahllose Waldbüsche auf felsigen Eilanden. Eine erhabene Trauer liegt über den See ausgegossen. Ueberaus prachtvoll war das Farbenprangen der Wälder, als die Sonne sich neigte, um mit ihren Strahlen hinter die Bergkuppen zu versinken. Kräftige Schatten fielen über die Berge, es flimmerte dazwischen bläulich oder dunkelröthlich, so weit die Schatten reichten, unmittelbar neben der Schattenlinie aber glänzte und funkelte der weite Waldmantel des Gebirges vom tiefsten Dunkelroth bis zum brennenden Gold. Als die Sonne unterging, schwebte noch einen Augenblick ein herrliches Tiefblau über der Landschaft, dann aber wogten die dunkeln Schatten plötzlich aus allen Waldschluchten hervor und See und Gebirg lagen auf einmal in Nacht verborgen.

Caldwell am Ende des Sees wimmelte von Gästen aus dem nahen Bade Saratoga; denn wer dürfte dort es wagen, sich der Mode, einen Ausflug an den Georgssee zu machen, zu entziehen? In Saratoga sieht man nicht allein die Langeweile handgreiflich, sondern es scheint auch zum guten Ton zu gehören, Langeweile zur Schau zu tragen. Ein paar Sommerwochen hier zuzubringen, galt früher als höchst fashionable. Jetzt aber strömt alles da zusammen, was Geld und Zeit hat, und vor solchem Zuströmen der großen Masse ist die ausgewählte Gesellschaft in Amerika beständig auf der Flucht. Von dem einen Orte vertrieben giebt sie sich im nächsten Jahre ihr Stelldichein an einem andern, aber kaum verlautet nach einiger Zeit, wo die feinsten Leute sich treffen, so richtet sich dorthin die allgemeine Jagd nach Vornehmheit. Saratoga indessen behält die Anziehungskraft seiner Heilquellen und seiner herrlichen Umgebung, und daher sammelt sich dort mit jedem Jahre wieder etwas von der „besten Gesellschaft.“ Ihr Ton hat allerdings etwas Vornehmkühles, aber darin besteht auch hauptsächlich das Aristokratische, alles übrige scheint weder sehr fein noch besonders glanzvoll zu sein. Gewiß haben auch die Gäste von Saratoga den frühern wilden Namen „Huricansee“ in den fashionabeln „Georgssee“ verwandelt. In der Umgegend sind noch mehrere klare Seen wie Diamanten ausgestreut in die grünen Wälder, und man kann darauf rechnen, sie jeden Sommer belebt zu sehen von niedlichen Amerikanerinnen. Diese kleiden sich zu einer solchen Landpartie allerliebst, das Hütchen kann gar nicht reizender stehen, und ihr Wiegen und Nicken des Kopfes von keinem Künstler hübscher gedacht werden.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und Leute in der alten und neuen Welt, Band I