Kommt nun der Wahltag, so ist alles auf seinem Platze. In den Hauptorten jedes Bezirks sitzen die Führer und ...

XV.
Amerikanische Staatsmänner.


Kommt nun der Wahltag, so ist alles auf seinem Platze. In den Hauptorten jedes Bezirks sitzen die Führer und Vertrauensmänner der Parteien, folgen gespannten Blickes den Bewegungen und Zufällen der Wahlschlacht, schicken hierhin und dorthin ihre Offiziere, um die Säumigen anzufeuern und ins Treffen zu führen und die Künste der Gegner auszuwittern. Im rechten Augenblick wird ein kühner Handstreich gemacht, der die Gegner verblüfft und ihre Anschläge vereitelt, oder es wird mit ihnen noch während der Wahl ein Kompromiß abgeschlossen. Auf den Straßen sind die Freibeuter der Parteien im Gange, alles zur Wahl heranzuholen; vor dem Wahlhause unter den wehenden Fahnen stehen andere, ihre Listen den eingehenden Wählern in die Hand zu drücken; bei den Wahlurnen aber sitzen Vertraute, welche der Gegenpartei auf die Finger passen. Wir haben in Deutschland in der jüngsten Zeit ähnliche Wahlaufregungen gehabt, und ein Fremder mußte sich unwillkürlich darüber wundern, wie schnell und praktisch sich auch bei uns die verschiedenen Parteien in das Wahlgetriebe hinein fanden: bei den Amerikanern ist dasselbe schon seit langer Zeit wohl durchgeübt und fest organisirt, und die Wahlagitation ist bei ihnen um so heftiger und zugleich um so verschmitzter, als von dem Parteisiege nicht bloß der Sieg der Grundsätze, sondern unmittelbar auch Geld gewinnen und eine Menge von Aemtern für die Generale und Offiziere der Partei, sowie andere materielle Fragen für die übrigen Parteigenossen abhängen. Die siegende Partei gewinnt auf Zeit den Staat. Man denke sich in Deutschland etwa die Freihandels- und die Schutzzollpartei in einen Wahlkampf gegen einander treten, von dessen Ausgange wirklich das Siegen oder Unterliegen ihrer Forderungen abhinge, und man kann sich lebhaft das brennende Interesse bei einer amerikanischen Wahl vorstellen. Des Abends am Wahltage werden die Stimmen gezählt, dann ist alles in Hast und Erwartung. Vor dem Hauptquartier der Parteien und vor den Zeitungshäusern werden die Zahlen der abgegebenen Stimmen groß und glänzend ausgehängt, alle paar Minuten kommt hier eine Siegesnachricht, dort eine Niederlage hinzu. Aber noch wartet man, ob nicht andere Ortschaften und Staaten den Ausschlag geben, man macht Wetten auf den Ausgang der Wahl, und ist endlich das unzweifelhafte Ergebniß da, dann jubeln die Sieger und erfüllen die Straßen vor ihren Versammlungshäusern mit schrecklichem Gedränge und Geschrei und feiern eine tolle freie Nacht. Die Besiegten aber gehen still und ärgerlich nach Hause und denken schon daran, welche Lehren sie aus dem Hergange bei dieser Wahl zu ziehen haben, um bei der nächsten bessere Kräfte ins Feld zu stellen. Am andern Morgen ist alles wieder so still, wie ein ruhiges Meer nach dem Sturme, von der ganzen ungeheuren Bewegung ist keine Spur mehr zu erblicken, die Geschäfte gehen wieder ihren gewöhnlichen Gang, und Zeitungen und Gedanken richten sich nach und nach darauf, wie die Gewählten ihr Wahlmanifest ausführen werden.


In Washington steht nun der Kongreßmann auf der Hochebene der Politik. Er überblickt das ganze lebendige Getriebe der politischen und industriellen Fragen im großen Unionsgebiete, in welchem sich so viele Vorläufer künftiger Völker und Staaten umhertummeln, so viele Keime religiöser und sozialer Neubildungen dicht neben einander aufschießen. Er überschaut den weiten Kontinent von Amerika, welchen das Volk der Vereinigten Staaten im Stillen als sein alleiniges Erbtheil betrachtet. In allen Staaten Amerikas sind seine Agenten beflissen, den politischen Einfluß der Vereinigten Staaten auf mehr realen Grundlagen zu vergrößern, als die Agenten der europäischen Staaten es vermögen. Fort und fort werden in Nord- Mittel- und Süd-Amerika neue Märkte und Plätze für die unternehmende Thätigkeit der Leute aus den Vereinigten Staaten erobert, und nach diesen die mächtigen Ströme des Reichthums hingeleitet, welche in den verschiedenen amerikanischen Ländern entspringen. Die Gesandten der letztern haben von Jahr zu Jahr bedeutendere Interessen in Washington zu vertreten und finden hier den Mittelpunkt aller amerikanischen Politik. Denn das ist der „amerikanische Gedanke,“ den Jefferson und nach ihm der große Clay in seiner Schärfe ausbildeten, daß jegliche europäische Herrschaft aus Amerika herauszukehren sei. Der Kongreßmann zu Washington blickt aber weiter über den ungeheuren indischen Ozean hinweg nach dessen zahlreichen Inselgruppen, nach China und nach Japan; überall ergeben sich dort neue reiche Gebiete für die Beutelust seiner Landsleute, ungeheure Tummelplätze für ihre Marine. Kühler schweift sein Auge über den andern Ozean nach Europa: dort ist für ihn schon alles besetzt, dort knüpft er die werdende Geschichte seines Landes nicht mehr an. Er ehrt in Europa den alten Sitz hoher und feiner Bildung, aber er lächelt über die Kämpfe in diesem Bienenstock, der noch nicht so groß ist wie das jetzige Gebiet der Union, weil er sie eben nicht versteht, weil er in den Fürsten bloß für ihre Familien besorgte Männer, in den Völkern Schaaren ohne festen Charakter sieht. In Washington, wo die gebildetsten und gewandtesten Amerikaner zusammenströmen, kann man es aus der Unterhaltung leicht heraushören, wie stolz und hoch sie sich dünken über den Europäer, und wie selten bei ihnen das tiefere Verständniß unserer geistigen Kämpfe und der Geschichte derselben zu finden. Achtung haben sie nur für die Engländer, eine kleine mitleidige Zuneigung für die Deutschen, Neugier für die Franzosen, aber großes Interesse nehmen sie an dem gewaltigen Anschwellen Rußlands.

Wer unter den Repräsentanten zu Washington seinen Platz ausfüllt, wer seine Stimme dort vernehmlich und eindringlich macht, der ist sicher ein ganzer Mann. All die vielfachen Interessen und Parteien in der Union branden und wühlen dort um ihn her, es sind entschlossene kampfgestählte Männer, welche sie vertreten. Ein Mensch mit bloß oberflächlichem Schimmer, ohne innere unversiegliche Hülfsmittel, ein hohler Kopf, dem bloß kleine Intriguen und angenehme Manieren zu Gebote stehen, kommt dort gar nicht auf. Gewiß spielt auch dort die Intrigue ihre Rolle, aber sie schleicht nicht immer wie die Katze im Dunkeln, sondern springt aus dem Verstecke wie ein Tiger auf seine Beute. Da siegt man nicht durch das Aneinanderketten endloser kleiner Pläne, sondern wenn intriguirt wird, dann geschieht es auch mit einem Ungestüm und nach großem Maaßstabe; wenn bestochen wird, dann handelt es sich auch gleich um Hunderttausende. Leidenschaft und Seelengröße, Verschmitztheit und Bürgertugend stehen dort gegen einander mit blankem Schilde und offenem Visir. Der einzelne Mann ragt für sich allein um so höher, weil ihm nicht ein Fürstenhof, der über ihm steht, den Halt gibt, sondern weil er auf eine Partei sich stützt, die unter ihm steht. Aber er gründet sich auch nicht in der Weise bloß auf seine Partei, daß diese ihn nach wechselnder Laune bei den Füßen fassen und sogleich aus seiner Höhe wieder herunter ziehen könnte. Die Partei ist zwar die nächste Unterlage für seine Stellung, aber das ganze Volk bleibt immer der Grund, in welchem seine Bedeutung wurzelt. Deshalb ist es nicht so selten, daß berühmte Abgeordnete auch ihrer eigenen Partei gegenüber unbeugsame Energie beweisen, weil sie nicht bloß ihr, sondern der Sache dienen wollen. Weil sie selbst sich so sicher fühlen, deshalb suchen sie einander auch nicht neidisch zu verkleinern. Man mag den amerikanischen Staatsmännern alle punischen Listen und alle Geldgedanken der Lombarden vorwerfen, es giebt vielleicht sittliche Ungeheuer darunter, aber kleinlich sind sie niemals. Sie suchen einander durch kühne Schachzüge aus dem Felde zu schlagen, aber sie erkennen offen das Verdienst und Talent ihres Gegners an und geben ihm nicht selten eine schöne Gelegenheit, sich neu zu bewähren.

Hat einer eine Anzahl Jahre hindurch im Repräsentantenhause mit Ansehen und Erfolg die Interessen der ganzen Union verfochten, so steigt er durch das Vertrauen der angesehensten Männer des Staates, dem er angehört, gewöhnlich in den Senat der Union hinauf. Hier hat er insbesondere die Rechte und den Vortheil seines Staates im großen Bundesganzen wahrzunehmen, dessen Handel zu schützen, Eisenbahnen dahin zu lenken und dessen besondere Interessen und Einrichtungen zu vertreten.

Auf dieser Höhe angelangt, können sich die amerikanischen Staatsmänner mit Recht als die Vornehmsten in der Union und insbesondere als die Häupter der Einzelstaaten betrachten, deren Erwählte sie sind. Ihr Einfluß in den letztern ist außerordentlich, ein einziger solcher Mann hält vielleicht die ganze Partei aufrecht; nach seinem Rath und Willen werden die Aemter vergeben, er entscheidet in den Vorberathungen nicht selten über die Wahl des Gouverneurs. An seinen Namen knüpfen sich die bedeutendsten Unternehmungen in seinem Staate, die Gesellschaften, die zu solchem Zwecke zusammentreten, ersuchen ihn zuerst, sie mit dem Ansehen seiner Persönlichkeit zu unterstützen. Solche Männer sind in der That die Berather ihres Volks, noch auf ihrem Sterbebette drängt man sich ehrerbietig herbei, ihre letzten Rathschläge zu vernehmen und dem ganzen Volkes bekannt zu machen, das sie tief ins Herz gräbt. Wo sie erscheinen, zollt man ihnen öffentlich Hochachtung; jedes Dampfschiff mit dem sie reisen, fühlt sich dadurch geehrt und macht es in den Zeitungen bekannt, und diese Achtung ist um so ehrenvoller und aufrichtiger, weil sie der freie Dank freier Mitbürger ist, weil sie bloß aus der Anerkennung der tüchtigen Persönlichkeit und Verdienste hervorgeht.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und Leute in der alten und neuen Welt, Band I