Die Vereinigten Staaten sind das Land, in welchem die öffentliche Meinung die Gedanken der Menschen ...

XV.
Amerikanische Staatsmänner.


Die Vereinigten Staaten sind das Land, in welchem die öffentliche Meinung die Gedanken der Menschen regiert und keinen Herrscher neben sich leidet. Wo jeder Landwirth und Geschäftsmann täglich seine Zeitung liest und überdenkt, wo jede Ansicht und jeder irgendwie bekannte Mann unaufhörlich von einem Ende des ungeheuren Gebietes bis zum andern öffentlich und rücksichtslos durchgesprochen wird, wo die Wahlen und Aemter des kleinsten Fleckens von den Schwingungen der Politik im großen Bundesstaate abhängig sind, kurz wo man fortwährend in einer politischen Aufregung lebt, wie sie noch vor ein paar Jahren Deutschland aufregte, in einem solchen Lande und bei so bewegten Zuständen müssen die Männer, welche über den Volksstrom bis an die Brust hervorragen und seinem Wellenschlag zu gebieten und zu widerstehen wissen, wahrlich erprobte sturmfeste Charaktere sein mit scharfem weitsichtigem Auge.


Europäische Staatsmänner erheben sich, wenn sie durch lange Uebung gelernt haben, auf dem glitschigen Estrich der Höfe fest zu stehn. Hat in seltenern Fällen die Volksgunst sie auf einmal emporgetragen, dann gerathen sie leicht ins Schwanken, sobald sie eben auf jener Hofglätte sich halten sollen. Die amerikanischen Staatsmänner haben dagegen ein antikes Gepräge, eine innere Sicherheit und Ruhe bei tiefer Leidenschaft, bei großer Abhängigkeit von der Volksgunst. Jedoch gehen sie nicht, wie die meisten Staatslenker im Alterthum, aus Familien-Aristokratien hervor, an welche sich allerlei Volk anhängt, sie müssen sich vielmehr durch eigene Mittel von der Pike an aufschwingen und haben durch langwierige Proben ihren Platz erst zu verdienen. Nur durch die Fülle und Energie ihres Geistes erheben sie sich, dann aber stehen sie auch fest in ihrer inneren Stärke und in der unzerstörbaren Anerkennung, welche das amerikanische Volk ihnen widmet. Es ist ebenso unmöglich, daß dieses ein Verdienst nicht anerkenne, als daß es den verdienten Mann auf längere Zeit abdanke. In amerikanischen Staatsmännern findet man nicht gerade einen Hang zu den erhabenen Ideen des Perikles, ihre Ansichten und Wünsche haben vielmehr einen großhändlerischen Zuschnitt: es ist genuesische oder venetianische Politik, übersetzt ins Demokratische, und ausgedehnt über weite Länder und Meere.

Darin besteht die Bedeutung und Größe der amerikanischen Staatsmänner, daß sie Führer des ganzen Volkes sind und nicht Führer einer vornehmen Partei. Ihre Aufgabe ist nicht, einige wenige einflußreiche Persönlichkeiten geschickt zu behandeln und feine Künste in den tonangebenden Zirkeln anzuspinnen, sondern sie haben eine wogende Volksmasse zu bewegen. An diese den rechten Hebel anzusetzen und dessen Wucht durch alle Mittel zu verstärken, – den Gedanken herauszuhorchen und auf ihr Banner zu schreiben, der in dieser Masse noch dunkel gährt, – auftauchende neue Ideen, welche eine thatsächliche Macht hinter sich haben, zu ergreifen und mit den Interessen ihrer bisherigen Partei zu vermitteln, – das ist ihre Aufgabe und ihre Kunst.

Verfolgen wir in Kürze die Laufbahn eines solchen Mannes.

Um den Fuß auf die erste Stufe zu setzen, muß er sich durch Dick und Dünn erst bis dahin durchdrängen. An den untersten Stufen klebt am dicksten Unrath, die meisten scheuen davor zurück, andere bleiben darin stecken. Ein zartes Gemüth, welches sich auf die öffentliche Wettbahn der Politik wagt, ist im Nu aufgerieben. Es gehören eiserne Nerven, rastlose Thätigkeit und vor allem ein derbes Selbstgefühl dazu, damit der angehende Staatsmann sich seinen Weg nur erst eröffne.

Das allgemeine Wahlrecht ist es, wodurch er sich emporarbeiten muß. Man mag dasselbe für das eine oder andere Volk unpassend finden, viele mögen es auch im Prinzip verwerfen, – aber jeder, der Amerika kennt, wird zugestehen müssen, daß gerade vermittels des allgemeinen Wahlrechts das Volk der Vereinigten Staaten zu seiner jetzigen Höhe politischer und auch geselliger Bildung, zu seiner täglich großartigeren Bedeutung in Handel und Gewerbe gestiegen ist. Der brennende Wetteifer, der Trieb zum Lernen und Erfinden, zum Erobern von Macht und Gütern ist Frucht des allgemeinen Wahlrechts, welches jeden jungen Amerikaner auf die gleiche Stufe mit allen übrigen stellt und zu jedem sagt: versuche deine Kraft, du kannst alles das erreichen, wodurch andere groß sind. Das entzündet in der Brust des ärmsten Jungen den Ehrgeiz und die Werdelust, und regt eine Menge von Kräften auf, welche sich sonst im Kleinlichen verzehrt hätten. Gerade unter den bedeutenderen Männern in den Vereinigten Staaten giebt es so viele, deren erste Jugend von Armuth und Dunkel bedrückt war. Sie wurden „selbstgemachte Leute“ (selfmade men), Autodidakten, welche das was sie unter Mühen und Nachdenken gelernt haben, auch sofort praktisch zu verwerthen wußten. Das allgemeine Wahlrecht erfüllt gerade für Amerika, dieses Land der Gleichförmigkeit, vollständig seine Bestimmung: es häuft die meisten Stimmen nur auf diejenigen, welche den andern so hoch über die Köpfe hervorragen, daß sie weithin gesehen werden können. Die erste Durchführung dieses Wahlsystems mag auch in Amerika manches seltsame Resultat hervorgebracht haben, auch jetzt kommt wohl noch einer aus den westlichen Staaten in den Kongreß, der ein besserer Bärenjäger als Redner ist; aber nachdem diese Wahlordnung einmal organisirt und hundertfach gelernt und erprobt ist, kann von einem Zufall bei Kopfzahlwahlen dort gar nicht mehr die Rede sein. Stimmen erhält nur der, welcher sich hervorgethan hat, und je höher das Amt ist, zu welchem er vorgeschlagen wird, desto mehr muß er sich in niederen Aemtern als ein gescheidter und praktischer Mann schon bekannt gemacht haben. Es ist möglich, daß zufällige Strömungen und Ereignisse im öffentlichen Leben, plötzlich entstehende Spaltungen in den Parteien, oder ein geschickter Theaterstreich in der eilften Stunde einem Namen die meisten Stimmen zuwenden, welchen keine der Parteien vorher gewollt hat. Aber unmöglich ist es, daß dieser Mann zu dem Amte unfähig sei, denn es kann überhaupt gar keiner daran denken, nur auf die Liste zu kommen, als wer bereits einen bekannten Namen hat, und einen solchen erringt man in Amerika, wo die Abstammung von berühmten Männern kein Recht, sondern bloß die Pflicht giebt, ebenfalls nach Auszeichnung zu streben, allein dadurch, daß man seine persönlichen Fähigkeiten wirklich an den Tag gelegt hat.

Es fällt dem Fremden auf, daß die Amerikaner alle ihre öffentlichen Charaktere so richtig zu beurtheilen wissen und deren häusliches wie öffentliches Leben so genau besprechen: es ist ein gut Theil ächt amerikanischer Neugierde dabei. Die puritanische Gemeindeverfassung, in welcher das Kirchliche mit dem Politischen enge verschmolzen und das Auskundschaften des Innern der Familien eine Pflicht von Kirchenbeamten, das öffentliche Sündenbekenntniß aber an der Tagesordnung war, hatte früher ein gewisses Spionirsystem im Lande einheimisch gemacht; im allgemeinen Wahlrecht findet dasselbe gewissermaßen noch jetzt eine Art von Berechtigung. Der Amerikaner will den Amtsbewerber, dem er seine Stimme geben soll, von innen und von außen kennen, und wer vor dieser frechen Oeffentlichkeit schwach wird, der ist nicht sein Mann.

Zwei Klassen vorzugsweise schicken ihre Mitglieder in die gesetzgebenden Versammlungen: die Advokaten und die größern Grundbesitzer, die übrigen haben mit ihren Geschäften, mit Handel und Gewerbe zu viel zu thun. Der Kaufmann, der Fabrikant, der Arzt muß eine besondere Liebhaberei an der Politik haben, oder es muß sich für ihn um eine Geldfrage handeln, wenn er ebenfalls als Kandidat auftreten soll. Hatte einer aber schon in früher Jugend Neigung für das öffentliche Leben, dann ist er in der Regel auch Advokat geworden; als solcher ist er schon seiner Stellung nach darauf angewiesen, Vertreter und Sprecher der andern zu sein. Auch die öffentlichen Blätter sammeln ihre Hauptkräfte unter den jüngern oder ältern Rechtsverständigen. Außerhalb der Städte ist es der wohlhabendere Grundbesitzer, dem seine Farm schon etwas mehr einbringt, als er für seine Familie braucht, ein Mann, welcher Zeit und Neigung hat, die öffentlichen Interessen zu verfechten. Die reichern Gutsbesitzer entwickeln überhaupt eine stille und unablässige Thätigkeit in den Fragen von allgemeinem Interesse. Sie vorzüglich genießen einer unverrückbaren Selbstständigkeit, überdenken auf ihren ruhigen Höfen das was dem Lande wahrhaft gedeihlich ist, und gehen auch in der Politik am meisten ehrlich zu Werke.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und Leute in der alten und neuen Welt, Band I