Wenn man von den Fällen am Canadaufer eine gute Viertelstunde hinaufgeht, so kommt man an eine Stelle ...

VII.
Am Niagara.


Wenn man von den Fällen am Canadaufer eine gute Viertelstunde hinaufgeht, so kommt man an eine Stelle, wo dicht am Wasser brennbares Gas aus der Erde steigt. Es ist ein geschlossenes Häuschen darüber gebaut, in dessen Umkreis man noch auf zwanzig Schritte das Gas riecht. Hier ist die beste Stelle, um die Stromschnellen zu überschauen. Wäre am Niagara nichts als diese Stromschnellen, der Ort würde gleichwohl weit und breit berühmt sein. Man kann sie nur dem stürmenden Meer vergleichen. Die Täuschung wird um so vollkommener, weil man bei jenem Gashäuschen etwas niedrig steht, der Strom hier am breitesten und das gegenüberliegende Ufer größtentheils öde ist. Wenn man die ungeheure Wassermasse und ein so starkes Gefälle auf eine so kurze Strecke sich denkt, so kann man sich vorstellen, welche Sätze die Wogen machen. Im tollsten Jubel kommen sie hergeschossen wie unbändige Riesenrosse mit fliegenden weißen Mähnen, schäumend, brüllend, hochaufsprühend. Auf einigen Stellen im Flusse beharren die Wirbel und brechenden Wogenkämme mit dumpfen Gurgeln; wahrscheinlich sind dort im felsigen Bette Klüfte und Spalten. Mir war diese Stelle am Gashäuschen überaus lieb geworden; es war so einsam, ja schaurig da; niemals kam ein Besucher hier heraus; man sieht dort auch nichts von Häusern, nur Sturmmeer und Waldufer. Die weite, ruhelos wogende Fläche, das einförmige Klingen und Rauschen der Fluthen erweckte mir immer die Ahnung des Unendlichen, des uferlosen, ewig wellenden Weltalls. Wenn der Mond gerade über diesen unabsehlichen Feldern von sprühenden Wellen aufstieg, konnte kein Bild mehr düstere Erhabenheit darstellen.


Auf dem Rückwege trat ich wohl in die Tuchfabrik ein, welche nahe vor den Fällen liegt. Diese eine Fabrik kann dem gewaltigen Eindruck des Ganzen noch keinen Eintrag thun; unangenehm aber wird es sein, wenn, wie wahrscheinlich, mehrere Fabriken und Werkhäuser hier errichtet werden, um die Wasserkraft zu benützen. In jener Tuchfabrik, deren Besitzer mir befreundet geworden, arbeitete auch eine Schwarzwälderin, ein schönes blasses Mädchen; sie mochte, obwohl bereits städtisch gekleidet, ihre langen Haarflechten noch nicht verbergen und mußte manch spöttisches Wort darüber hören. Als ich vom Schwarzwald sprach, den ich so gut kannte, flossen ihr langsam die Thränen über die Wangen. Wo ist in Amerika ein deutsches nicht ganz rohes Mädchen zu finden, welches bei all dem guten Essen und Trinken, den schönen Kleidern und der größeren Achtung, deren es sich hier erfreut, doch nicht wehmüthig dächte an das fröhliche und gemüthvolle Leben in Deutschland? –

Je näher dem Falle, desto mehr senkt sich das Felsenbett, und das Wasser schießt mit unglaublicher Gewalt vorwärts. Dem Sturze nahe, sammelt es sich zu einem einzigen festen Strom, es läßt gleichsam alle Capriolen, um sich zu seinem Meisterstück zu rüsten. Auf der Kante des Halbrunds scheint es noch einmal zu stocken, als säumte es den Sprung zu wagen, und senkt sich dann in ruhiger Majestät und doch in einer unendlich anmuthigen Bewegung steil hinunter. Die Natur hat ja überall über ihre gewaltigsten Gebilde, über die Gletscher am Alpenjoch, über die Bergriesen der Jungfrau und des Montblanc, noch ein Lächeln feiner Anmuth gegossen. Je länger man an den Niagarafällen verweilt, desto gewisser zieht ein heiterer Frieden durch das Gemüth. Es giebt einige finstere Partien da, aber das Ganze ist je großartiger desto lieblicher.

Kein anderer großer Katarakt bietet auch so bequeme Gelegenheit, mitten in das Getümmel der Gewässer hinein zu sehen. Der Tafelfelsen neigt sich weit über, ganz dicht vor dem Falle, oben glatt wie eine Tafel, der größte Theil ragt frei in die Luft hinein. Bei den meisten Felsabstürzen hier kehrt die Erscheinung wieder, daß sie durch das Treiben der Wogen in einer Krümmung von oben nach unten ausgebrochen sind; der hohe Rand des Stehengebliebenen ragt weit über dessen Fuß hinaus. Man kann sich dieses Ueberhangen der oberen Platten leicht erklären, wenn man sich erinnert, daß das ursprüngliche Bette des Stromes vor Zeiten auch hier, wie noch jetzt oberhalb der Fälle, zunächst eine Lage Kalkstein war, welche ihrerseits wieder auf weicherem Mergelschiefer ruhte. Das von oben zwischen den Kalksteinschichten eindringende Wasser sucht seinen Weg nach unten durch den Schiefer, welcher der fressenden und wegspülenden Kraft des Wassers nicht so vielen Widerstand als der Kalkstein entgegenstellt. Die herabstürzenden Wogen aber greifen unten am Felsen bei ihrem Rückprall ebenfalls wieder den Schiefer an und waschen ihn von unten nach oben immer tiefer aus. Die festere Kalksteinmasse bleibt nun so lange über der ausgewaschenen Höhlung überhängend liegen, als noch so viel Schiefermasse da ist, um den Schwerpunkt jeder einzelnen noch nicht gespaltenen Kalksteinplatte zu tragen. Verliert letztere diese Stütze, so bricht sie ab, neigt sich oder stürzt ganz hinunter, und das alte Spiel des Wassers beginnt dann von neuem zunächst gegen den Mergelschiefer. Wo das Meer Felsgestade hat, hat man dieselbe Erscheinung. Die unaufhörlich sich an den Felsen brechenden Wogen bröckeln und waschen unten Höhlungen aus, das obere Gestein verliert dadurch seinen Halt und stürzt nach, und die immer wieder darüber rollenden Wogen zermalmen nach und nach die hineingestürzten Blöcke. So erinnert man sich noch aus diesem Jahrhundert, aus den Jahren 1818 und 1828, großer Felsenstürze im Niagarabette.

Ein Theil des Tafelfelsens ist einige Zeit nach meinem Besuche eingestürzt, und es kommt das ganze Ufer entlang häufig vor, daß Felsblöcke sich loslösen und mit Bäumen und Gesträuch in den Abgrund stürzen. Das Gehen und Verweilen zu nahe am Rande ist deshalb nicht ohne Gefahr, namentlich bei dem Wirbelpfuhl und zwischen dem Cliftonhouse und dem Falle. Die deutsche Polizei, wenn sie am Niagara wäre, hätte hier natürlich längst schon ein schützendes Geländer gebogen und damit auch die belohnendsten Blicke in die Tiefe des Wassersturzes abgeschnitten. Sieht man vom Tafelfelsen auf die niederschießenden Wogen, so ist das Wasser oben herrlich grün und die lichte Sonne spiegelt sich in dem steilen Wasserwall; etwas tiefer ziehen hin und her weiße Schaumstreifen, unten ist alles schimmernd weiß, zersplittert in Millionen von Güssen, Tropfen und Bläschen; den Fuß des Wogensturzes umhüllen ewig die weißen Schaumwolken, welche sich über einander wälzen. Man sieht deutlich, daß die Felsenkante, über welche das Wasser hinabeilt, nicht rund ausgeschweift, sondern etwa wie in drei Viereckseiten ausgebrochen ist. Blickt man über den Fall weg nach seinem andern Ende, wo der Thurm steht, so scheinen die Leute auf diesem merkwürdig klein, und daran erkennt man erst recht, welche ungeheure Wassermasse herabstürzt.

Ein genaues Maß giebt einem das Auge hier niemals; es ist wie in den Alpen oder auch in der Peterskirche, alle Höhen und Entfernungen erscheinen viel kleiner als sie wirklich sind. Die Natur hat schon dafür gesorgt, daß der Mensch durch keine Größe zu sehr überwältigt wird: sie verkleinert ihm dafür sein Augenmaß. Ich kann auch nicht sagen, daß es mir wie so vielen Reisebeschreibern erging, denen vor der donnernden Größe des Niagara der Athem stockte, als hätten sie keine eigenen Gedanken mehr und könnten in einem fort bloß staunen und anbeten. Ich meine immer, daß die Phantasie des Menschen sich noch viel stolzere und schönere Gebilde erschafft, als dieser Wasserfall darbietet; die Natur hat auch noch gar keine Dame so schön gemacht, wie die mediceische Venus und manche gemalte Madonna.

Bei dem Cliftonhouse geht es einen steilen Weg hinunter zum Strome unterhalb der Fälle. Hier unten bekommt man am ersten einen Begriff von der ungeheuern Breite und Höhe des Abgrundes, in welchen das Wasser stürzt. Ein beschwerlicher Weg führt an der Canadaseite unter den Felsen her über Blöcke und scharfes Gestein bis zum großen Falle. Der Wasserdunst, welcher überallhin weht und sprüht, läßt hier unten nichts mehr trocken. Je näher am Falle, desto wüthender schlägt und prasselt die Brandung zwischen die Felsblöcke; kaum sieht man einen Augenblick in den Wogenaufruhr hinein, so stiegt einem schon der gierige weiße Gischt um die Fuße. Wer irgend kann, muß aber jedenfalls diesen Weg machen, wenigstens so weit, um dem amerikanischen Falle gerade gegenüber zu stehen und die Verschlingungen der fallenden Ströme und Güsse zu betrachten.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und Leute in der alten und neuen Welt, Band I