Ein Dampfschiff fährt über die vielbewegten Wogen zum andern Ufer. Viel interessanter ist es, auf einem ...

VII.
Am Niagara.


Ein Dampfschiff fährt über die vielbewegten Wogen zum andern Ufer. Viel interessanter ist es, auf einem kleinen Boote überzusetzen. Die kleine Nußschale wird in dem brodelnden Kessel hin und hergeschleudert, jeden Augenblick scheint es, als müsse sie verschlungen oder an den Uferfelsen zerbrochen werden, indessen man hält das Steuerruder steif, schießt von einer Wirbelkante zur andern, und die Sache ist ohne besondere Gefahr. Auf einem kleinen niedrigen Boote, welches tief zu den Füßen der Fälle auf Stromesmitte schaukelt, hat man gerade die beste Gelegenheit, möglichst das ganze Landschaftsbild in sich aufzunehmen. Der Rheinfall bei Schaffhausen ist unvergleichlich graziöser, aber von weitem angesehen giebt auch der Niagara ein volles schönes Landschaftsbild. Oben auf der Höhe des Falles ist freilich alles eben; erhüben sich zu beiden Seiten der Fälle ein paar stolze Berge, so würde das Ganze viel bedeutender erscheinen, so aber kann man die Höhe der Fälle nur gegen die Aetherhöhe darüber abmessen. Hierin liegt ein Grund, weshalb die Abbildungen des Niagara immer entweder einen geringen oder einen falschen Eindruck machen. Ein gemalter Wasserfall hat außerdem der Natur der Sache nach immer etwas Todtes. Will man aber die Niagarafälle malen, so muß es von unten, möglichst vom Strome aus geschehen. Man ist dann wie in einem tiefen Felsenthale, die Wasserfluthen scheinen von der Hochebene eines Gebirges herabzukommen, die Gasthöfe, Mühlen und andere Häuser auf beiden Ufern heben sich wie weiße Thürme auf Berges Höhe aus dem Waldgrün hervor. Recht faßlich sind jedoch immer nur Theile des großen Ganzen, vergebens sucht man nach einem Standpunkt in der Nähe, um beide Fälle zugleich in’s Auge zu nehmen, und betrachtet man nur den einen, während der andere daneben donnert, so bleibt immer ein Gefühl, als faßte man das Ungeheure nur von einer Seite auf.


Es fährt auch ein niedliches Dampfschiff, „die Nebelmaid,“ mitten auf dem Strom bis nahe an die Fälle heran. Man muß nur den Regen, der von allen Seiten stiebt, nicht scheuen und auf dem Verdeck Stand halten. Dann ist es ein wunderbarer Anblick, wenn man so nahe vor den Fällen hinstreicht, vor sich die Wolken und das Glänzen des großen Falles, vor dem freilich bald darauf das Schiff umwendet. Das Unglück ist nur, daß in der Nähe der Fälle der feine Wasserstaub die Augen blendet und man zuletzt in Nebel gehüllt gar nichts mehr sieht.

Vielleicht die fabelhafteste Fahrt, die einer auf dieser Erde machen kann, ist die hinter den großen Fall. Ich habe vorher bemerkt, daß die oberen Ränder des Felsens etwas über dessen Fuß hervorragen, und da nun die ganze Wassermasse in einem festen dichten Strom steil herabstürzt, so bleibt unten zwischen diesem und dem innern Felsen ein Zwischenraum, in welchen man mit einiger Vorsicht wohl eindringen kann. Gefährlich ist es gerade nicht, nur wer schwache Nerven oder keine guten Augen hat, darf den Gang nicht wagen. Die Ausrüstung dazu geschieht in einem Hause oben auf der Canadaseite, indem man alle Kleidung sammt Hemd und Schuhzeug ablegt und Jacken und Beinkleider von wasserdichter Leinewand bekommt. Auf einer Wendeltreppe steigt man aus dem Hause zum Strome hinunter und klettert dann mühsam über und durch die Felsbrocken, zwischen Gestein und kochendem Wasser, dem Führer nach. Es kommen aber bald so viele Sturzbäder von oben herab, daß man am ganzen Leibe trieft, und ich fand es bequemer, mich des widerwärtigen Matrosenanzugs ganz zu entledigen; nur die groben Filzpantoffeln zog ich wieder an, weil das Gestein unter den Füßen zu scharf war.

Die Wasserstürze kamen immer stärker und bald waren wir ganz hinter dem Wasserschleier. Dieser läßt nur ein falbes Licht durch und man fühlt anfangs einen eigenen Schauer, als schreckte die Natur des Menschen zurück, sich so mitten in ein Element zu wagen, in welchem sie nicht leben kann. Wir gingen eine ziemliche Strecke hinter dem Wasser weg; ein falscher Tritt würde einen freilich in den gähnenden Abgrund reißen, aber, wie bei allen solchen Gelegenheiten, man nimmt sich eben in Acht und bleibt heil und gesund. Endlich ließ das stürzende Wasser keinen Durchpaß mehr. Da standen wir nun, mit den Händen uns am Gestein haltend, das Gesicht zugekehrt der ungeheuern wirbelnden Wasserwand dicht vor der Nase. Der Athem wurde mir beklemmt und wir gingen etwas rückwärts und suchten einen breiteren Platz zum Stehen. Streckt man die Hand oder den Stock hinein in den stürzenden Wasserschwall, so werden sie sofort von ihm niedergeschlagen. Man steht offenbar auf einem vorspringenden Felsrande, vor und unter welchem sich noch ein weiter tiefer Kessel aushöhlt, in den das Wasser fällt, sonst müßten die Wogen, da wo sie niederprasseln, stärker zurückprallen. Das Gestein an der Felswand hinter dem Wasser ist ziemlich locker und ich schlug mir mit leichter Mühe Stücke zum Andenken ab. Als wir wieder an die freie Luft kamen, fühlte sich die Brust erleichtert und holte tief Athem. Das Sturzbad bekam übrigens vortrefflich und es war mir, als sei ich jetzt mit dem alten Niagara viel vertrauter geworden.

Manche ziehen die amerikanische Seite der canadischen vor. Erstere hat auch wirklich mehr Abwechselung und Mannigfaltigkeit, die andere aber bietet einen obgleich immer gleichmäßigen, doch auch immer gleich erhabenen Anblick. Man sieht auf der amerikanischen Seite die Fälle immer nur von der Seite, sei es oben oder unten, niemals bieten sie dem Auge die volle Breitseite dar wie auf dem Canadaufer. Wer von diesem herüber kommt und an der amerikanischen Seite anlandet, tritt aus dem Boote gleich nahe an das eine Ende des amerikanischen Falls, der breit längs dem Ufer hinabströmt. Man kann auch hier unten ganz nahe zu ihm heran, selbst dahinter; er prasselt aber zum Theil erst auf Felsblöcke und nicht gleich in das tiefe Wasser; deshalb ist Jeder, der sich ihm nähert, gleich durch und durch naß und überflogen von Luft- und Wasserblasen. Die Höhe des Ufers besteigt man nun auf Treppen, kann sich aber auch hinauf ziehen lassen. Die amerikanische Industrie hat eine bedeckte, ziemlich steile Rutschbahn angelegt; an der einen Seite gehen darin die Karren an Seilen herunter, an der anderen hinauf.

Oben wird man überrascht durch das geschäftige Treiben im Städtchen, eine Menge von Gasthöfen, Verkaufsläden, Werkstätten und Mühlen tritt uns von allen Seiten entgegen. Die Entfernung vom englischen Gebiete ist so klein und der amerikanische Geist ist auch auf der andern Flußseite heimisch; dennoch merkt man sofort den grellen Abstich des erregten amerikanischen Lebens gegen das ernstere und gesetztere Wesen der canadischen Bevölkerung unter Englands Oberherrschaft. Das amerikanische Städtchen an den Fällen heißt eigentlich Manchester, wird aber gewöhnlich Niagara genannt. Diesen indianischen Namen, in welchem das ruhig Majestätische der Wasserfälle klangvoll wiedertönt, haben aber die Amerikaner in ein schnarrendes „Neiägärä“ verwandelt, in welchem der Ton die zweite Silbe trifft und die beiden letzten ganz kurz nachfallen. Es verhält sich die amerikanische Aussprache des Worts gegen die indianische wie Mühlradrasseln gegen das stolze Rauschen des Wasserfalls. Die Amerikaner haben überhaupt eine ganz vorzügliche Geschicklichkeit darin, für alle Worte die möglichst häßliche Betonung zu finden. So verwandeln sie das römische „Capitol“ in „Cäppittel,“ den hallenden Feldruf „General“ in „Dschöneräl,“ den Ton natürlich immer auf der ersten Sylbe und die beiden letzten halb verschluckt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und Leute in der alten und neuen Welt, Band I