Nun bestehen aber das Bette und die Ufer des Flusses auf der ganzen Strecke, auf welcher das Wasser ...

VII.
Am Niagara.


Nun bestehen aber das Bette und die Ufer des Flusses auf der ganzen Strecke, auf welcher das Wasser von der Höhe des einen Seespiegels zu dem des andern abschüssig niedergeht, aus klüftigem, etwa siebzig Fuß mächtigem Kalkstein, unter welchem Mergelschiefer liegt. Das Wasser drang daher in alle Fugen und Spalten der Kalksteinschichten ein und lockerte und spülte in deren weicheren Unterlage, dem Mergelschiefer; die zurückprallenden Wogen schlugen unten mit ungeheurer unablässiger Gewalt an die Felsen, von welchen sie herabgestürzt waren: durch solche Gewalt wurde erst der unten liegende Mergelschiefer und dann eine Lage Kalkstein nach der andern unterwühlt, losgebrochen, herabgestürzt, zertrümmert und aufgelöst, und so rückten die Fälle immer weiter nach dem Eriesee hinauf. Es entstand daher allmählig das jetzige Tiefthal, welches von jener Senkung des Bodens bis zu dem nunmehrigen Orte der Fälle, in einer Länge von anderthalb Stunden in den felsigen Grund eingerissen ist, auf dessen Boden nun der Strom einherbraust. Bei meinen Wanderungen durch die amerikanischen Waldebnen habe ich später an Flüssen und Bächen ganz ähnliche Erscheinungen und dieselben Formen von Wasserfällen, wie am Niagara, im Kleinen beobachtet. Man denke sich in irgend einer ebenen waldbewachsenen Gegend eine tiefe Schlucht, welche eine halbe Viertelstunde breit und fast zwei Stunden lang ist, an deren obern Ende ein mächtiger Wasserstrom plötzlich anderthalbhundert Fuß hinunter fällt und am anderen Ende ganz ruhig wieder herauskommt, und man kann sich eine Vorstellung von der Oertlichkeit des Niagara machen. Vielleicht hat nach einigen Jahrtausenden der Strom sein Bette immer weiter hinauf ausgebrochen, bis zwischen dem Erie- und Ontariosee nichts mehr übrig ist, als eine lange tiefe Schlucht, in der ein mächtiger Strom schnell vorwärts drängt. Die Menschen, welche in jener fernen Zeit sich hoffentlich der Masse nach in besseren Umständen befinden, als heutzutage, werden dann in Büchern lesen von der Herrlichkeit der Niagarafälle und sich die Stellen zeigen, wo vor Zeiten der Strom hinabstürzte; aber sie werden bedauern, daß sie das herrliche Schauspiel nicht mehr haben, an welchem wir uns erfreuen.


Beim Ausgang aus dem Eriesee fließt das Wasser still und klar etwa fünf Meilen lang, dann trennt es sich vor einer breiten Insel (Grand Island), welche es in zwei Armen umfließt. Am Ende der Insel treffen beide Ströme breit auf einander, ihre seitab getriebenen Wellungen verbreiten sich weit in die beiden Ufer hinein, in der Mitte aber strömt die Wassermasse um so stärker vorwärts. Bald darauf beginnt die schiefe Ebene, auf deren Höhe sich der Strom wieder theilt vor der Ziegeninsel, einem kleinen waldigen Felseilande. Gerade oberhalb vor dieser Insel, wo das Gewässer sich trennt, bleibt ein dreieckiges Stück todtes oder stilles Wasser, dessen Seitenlinien von der Strömung auf beiden Seiten scharf abgeschnitten sind. Der stärkste Strom ist auf der Canadaseite; er schießt tosend und schäumend immer rascher und rascher auf der geneigten Fläche hernieder, bis er am Ende der Insel, 158 Fuß tief, in einen Felsenkessel fällt, dessen weites Halbrund von einem Ende zum andern fast 2000 Fuß mißt. An der amerikanischen Seite hat sich die Strömung in mehrere Arme zertheilt, welche brausend und pfeilschnell um und durch die Insel eilen, um sich zuletzt dicht neben einander von gleicher Höhe herabzustürzen. Da sie aber erst um die Inselspitze herum müssen, so fallen sie nicht in gleicher Linie, sondern fast im rechten Winkel mit dem Hauptstrom, zugekehrt mit ihrer ganzen Breitseite von 800 Fuß dem jenseitigen Ufer. Die Ausdehnung der Insel zwischen beiden Fällen beträgt 1400 Fuß, so daß man vom Ende des Canadafalles bis zum äußersten Gusse des amerikanischen eine weit gekrümmte Linie von mehr als 4000 Fuß mißt.

Kommt man also von unten auf dem Strome herauf, so befindet man sich in einem langen Tiefthale, zu beiden Seiten zerklüftete Felswände von 160 Fuß Höhe; vor sich hat man den großen Fall, welcher Hufeisenfall genannt wird, weil er über die im Halbrund ausgebrochenen Felsen herabstürzt; rechts, an der Canadaseite starrt das nackte finstere Gestein, diesem links gerade gegenüber, an der amerikanischen Seite, ist die Felsenwand wie mit einem breiten weißen Schleier durch den andern Fall verhangen, welcher näher betrachtet sich noch in eine Menge Ströme zertheilt. Zwischen diesem und dem Hufeisenfall sieht man das Stück der grünbewaldeten Ziegeninsel, an deren äußerstem Ende nach dem großen Falle zu mitten im Wasser, jedoch durch eine Brücke mit der Insel verbunden, ein steinerner Thurm steht. Hoch auf beiden Ufern erblickt man nichts als Baumgrün und einige helle Häuser, welche wie Thürme daraus hervorragen. Der amerikanische Fall links prasselt auf gewaltige Felsblöcke herab, der große Hufeisenfall scheint dagegen in eine furchtbare Kluft hineinzustürzen. Zwischen beiden und von einem Ufer zum andern schäumt und brodelt die wildeste Fluth, um so stärker, als der von der amerikanischen Seite herab stürmende Strom den vom großen Falle herwirbelnden Wogen in die Flanke fällt; es ist daher etwas weiter unten ein mächtiger Anprall der Wogen an der Canadaseite zu bemerken, dem sofort der Rückschlag an die amerikanische Seite folgt. Dicht vor beiden Fällen wogt und rollt hin und her ein Wolkenknäuel, welcher oben in der Luft wie durchsichtiger grauer Dunst, unten über dem kochenden, Schaummassen ausschleudernden Wasser wie dichtgeballter schneeweißer Nebel erscheint. Darüber schwebt und tanzt der weite Regenbogen, welchen der Wolkendunst jede Sekunde auszulöschen droht, um ihn nur bunter und flammiger zu machen. Wendet man sich nun auf dem Strome um, so sieht man ein weites Tiefthal entlang, in welchem die ganze Wassermasse eine gute Stunde lang fortschießt, rauschend und schäumend mit starkem Gefälle, bis zum Wirbelpfuhl. Das Felsgestade zu beiden Seiten bilden jähe Abstürze, hier zerklüftet, dort ausgewaschen; häufig ragt und hängt das Gestein in allerlei Platten und Zacken hoch über dem Strombett. Ueber die dunkle Felsschlucht schwingt sich jetzt, ziemlich weit von den Fällen, leicht und zierlich die Drahtbrücke in einer Höhe von 230 Fuß über dem Strome und mit 800 Fuß Spannung. Vor dem Wirbelpfuhle scheint unter dem Wasser das letzte Riff zu sein, über welches die Fluth fällt, um in einem ungeheuren Kessel in tausend Wirbeln umherzukreisen. Aus diesem fließt dann der Strom ruhig und glatt ab, in verhältnißmäßig niedrigen Ufern, bis zum blanken Seespiegel des Ontario. Das Gefälle vom Wirbelpfuhle bis dahin beträgt auf der Strecke von zehn engl. Meilen nur noch ungefähr drei Fuß.

Man sieht, daß im Gebiete der Niagarafälle mehrere einzelne Theile des gewaltigen Ganzen für sich besonders zu betrachten sind. Wollte ich sie alle schildern, so würde ein Buch dazu kaum ausreichen. Das Vornehmste sind die Stromschnellen vor dem großen Falle mit der Feuerquelle, die obere Ansicht von dem Tafelfelsen, die Ansichten von unten im Tiefthale, der Gang hinter dem großen Hufeisenfall, die Strom-schnellen und Fälle der Ziegeninsel auf der amerikanischen Seite, die Regenbogen, die Wolkensäulen, das Farbenspiel, der Schallwechsel und endlich der Wirbelpfuhl mit der Teufelshöhle.

Als der erste weiße Mann vor noch nicht zweihundert Jahren den Niagara erblickte, beschrieb er noch einen dritten Fall, der dem amerikanischen fast gegenüber vom Canadaufer niederdonnerte, so daß man vor sich und rechts und links die Fluthen stürzen und wirbeln sah. Jener Weiße war der Pater Hennepin, einer von den frommen Jesuiten, welche mit den deutschen Herrnhutern allein es verstanden, die Kinder der Wildniß zu lehren und zu erziehen. Die andern Amerikaner haben in den Indianern nie etwas anderes erblickt, als reißende Waldthiere, die zu verfolgen und zu verderben seien. Schon lange sind die Chippewas und die andern streitbaren Indianer verschwunden, welche hier ihre herrlichsten Jagdgründe hatten, das stolzrauschende Dampfschiff jagte ihre Kähnlein vor sich her, fort fort von den großen Seen und Flüssen, und weiter immer weiter die versteckten Waldflüßchen hinauf, an deren Ufern das arme gehetzte Volk noch eine Weile jagt und hungert, bis auch die letzten kampflos klaglos verkümmern und vergehen, wie die Bäume im Urwald, welche der Sturm entwurzelt hat. Ein unabwendbar traurig Loos! aber wer möchte diese lebenvolle Gegenwart, wo hunderte von Städten an den Seen aufblühen, die der Niagarastrom verbindet, wieder vertauschen gegen jene ernste Waldöde, aus deren Dunkel nur dann und wann ein Jagdtrupp schweigsamer Indianer trat, um am Niagara zum großen Geiste zu beten? Jetzt kommen täglich Tausende hierher, Geist und Gemüth zu erheben an den herrlichen Naturspielen dieser Stätte, von denen ich jetzt Einzelnes näher bezeichnen will.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und Leute in der alten und neuen Welt, Band I