Es war zu Anfang Oktobers, als ich in Buffalo ankam, und es begann nach der quälenden Hitze der letzten Wochen ...

VII.
Am Niagara.


Es war zu Anfang Oktobers, als ich in Buffalo ankam, und es begann nach der quälenden Hitze der letzten Wochen eine Reihe lichter Tage voll Milde und Kühle. Freunde in Neuyork hatten mir gesagt, daß ich den ersten Anblick des Niagara jedenfalls von der Canadaseite suchen müsse, auch hatten sie mir Cliftonhouse, einen Gasthof, gerade dem großen Falle gegenüber, empfohlen. Ich ging daher auf ein Dampfboot, welches an der Canadaseite anlegte. Nur mit Mühe und manchem Aufenthalt konnte es sich aus dem Gedränge von Schiffen und Booten im Hafen von Buffalo hervorarbeiten. Der Eriesee strahlte hellblau, auf seinem Spiegel ließ der frische Morgenhauch kaum eine Welle zittern. Es ist ein köstliches Gefühl, die Seele erhebt sich ahnungsvoll, wenn man einem lange ersehnten großartigen Anblick entgegen geht. Wir bogen ein in den Ausfluß des Eriesee zum Ontario, rechts das amerikanische, links das canadische Ufer. Beide waren so niedrig, das Wasser blieb so klar und ruhig, wie in einem stillen See, man merkte kaum, daß es strömte. Nur ein dumpfes Donnern ließ sich allmählig hören, wie bei uns an Sommerabenden, wenn ganz in der Ferne ein Gewitter aufsteigt. Als wir weiter zogen zwischen den ziemlich platten Ufern, zeigte man mir eine Art Nebelsäule vor uns, gleich stehenden wirbelnden Wolken. „Das sind die Fälle,“ hieß es. Das Dampfboot landete und wir kamen auf eine Pferdeeisenbahn, die nicht schlechter sein konnte. Der Wagen ging aus den Schienen und wir mußten neben den Fällen anhalten. Ich sah seitwärts durch die Bäume auf die obern Ränder eines Kessels, in welchen ungeheure Wassermassen hineinströmten. „Ist das der Niagara?“ fragte ich etwas enttäuscht.


Endlich nahm uns ein Omnibus auf, und sowie er auf dem Platze vor dem Cliftonhouse anhielt, sprang ich heraus, stand befangen einen Augenblick dieser rauschenden Gewalt und Majestät gegenüber und rannte dann, Gepäck und alles vergessend, nach den Fällen hin. Es war herrlich, unendlich, dieses Wogen, Stürzen, Donnern, Lichtglänzen und Wolkenwirbeln, ein lebenvolles Schauspiel, das urplötzlich mit Lichthelle in Geist und Seele dringt. Und dennoch, ich verwünschte die amerikanische Prahlsucht: sie hatte mir von meilenweiten Fällen, von gebirgshohen Felsengehängen gesprochen. Dergleichen sah ich nun allerdings nicht, und ich mußte mich erst wieder von solchen Vorstellungen befreien und mich in die eigenthümliche Macht und Schönheit dessen, was ich vor mir und um mich hatte, vertiefen. Aber nun wurde auch das Ganze so durchaus anmuthig, ja friedlich schön bei aller Gewalt und donnernden Größe, daß die fröhlichste dichterische Stimmung mich überkam. Unsäglich schöne und heitere Gebilde wogten mir durch die Seele, und zwischendurch zog doch etwas so Feierliches, Erhabenes, als hörte ich fortwährend aus der Ferne die starken Akkorde einer Riesenorgel. Ich streifte umher von einem zum andern, es gab so viel Verschiedenes und Eigenthümliches hier zu sehen und zu studiren. Es wurde Abend, und noch schien es mir, als hätte ich nur den Vorhang gelüftet von allen den Wundern dieser Wasserwelt, ich beschloß, längere Zeit hier zu verweilen.

Nun war mir aber der große Gasthof mit seinem unaufhörlichen Gewirre von Wagen und Fremden und Gepäckträgern zuwider. Außerdem, weil er den Fällen gegenüberliegt, leuchtet und donnert der wogende Wassersturz durch alle Fenster und Thüren herein. Man kann aber nicht immer hohen Festtag haben und bedarf von Zeit zu Zeit der Ruhe und Stille, um sich wieder zu sammeln in so großartig bewegter Umgebung. Ich begab mich daher auf die Wanderung, um mir etwas weiter von den Fällen eine möglichst einsame Wohnung zu suchen. Und ich konnte es gar nicht besser treffen. Etwa zehn Minuten Wegs von den Fällen entfernt ist eine Anhöhe, Lundy Lane genannt, ein hoher Holzthurm ist auf ihr errichtet, ähnlich wie auf dem Brocken und andern Bergen in Deutschland; man sieht von dieser Höhe die Seen und den sie verbindenden Zug des Niagarastroms sammt der weiten Waldebene rings umher. Nicht weit von dem Thurme stand etwas zurück, zwischen Buschgrün und Baumschatten ein niedliches Haus mit einer Vorhalle, hinter demselben streckte sich Gehöft und Garten. Dort erhielt ich auf eine Woche eine hübsche stille Wohnung, Morgens ein englisches Frühstück mit Eiern, Schinken, Beefsteak und einer Fülle köstlicher Pfirsiche, Aprikosen, Melonen und anderer Früchte, Nachmittags fünf Uhr außer diesem noch ein Gericht Fische und Gemüse, und Abends spät Thee oder Grog. Das Essen war schmackhaft zubereitet und der Braten hatte endlich einmal wieder eine Brühe, in welcher weder zu viel Gewürz, noch zu viel Wasser war. Die Amerikaner nehmen sich niemals die Zeit, gut zu kochen, aber sie sind darin große Narren, weil das Stückchen Zeit am Kochheerde verwendet, ihnen die vielen Tage ersparen würde, welche die Kur ihres ewig kranken Magens kostet. Hausherr und Frau aber waren Engländer, ehrenwerthe Leute, etwa wie die wohlhabenden Farmer im Innern Altenglands. Auch die englische Höflichkeit in ihrem Hause gab eine angenehme Abwechselung nach dem unruhigen, häufig schmutzigen Treiben in den amerikanischen Gasthöfen. Gesellschaft leisteten mir dann und wann die beiden Kinder meines Wirthes, ein junges Mädchen, noch ein rechter neugieriger Backfisch, und ein kecker Knabe, der jedoch schon etwas in die Yankeenatur umschlug. Das Juwel im Hause aber war eine Anverwandte, Mary, welche mir den Tisch deckte, eine hohe schlanke Gestalt mit tiefen Augen und schwarzen Locken. Selten sah ich sie lächeln, aber das wenige, was sie sagte, verrieth Gehalt und Gemüth; sie hatte etwas Stilles und Wohlthuendes in ihrem Wesen und ein vorzügliches Geschick, das weiße Tischzeug malerisch mit frischen und eingemachten Früchten zu besetzen.

Ich blieb die Woche über da, durchstrich beobachtend das ausgedehnte Gebiet des Niagara, machte Ausflüge zu benachbarten Farmern und Indianern, hatte manchmal interessante Gesellschaft, und will nun erzählen, was ich sah und lernte.

Wahrscheinlich waren in der Urzeit nur starke Stromschnellen, wo jetzt die Fälle brausen, und diese sind in ihrer jetzigen Gestalt das allmählige Werk von Jahrtausenden. Die ganze Wassermasse, welche sich weit, weit im Nordwesten in tausend Flüssen und kleinen Seen ansammelt, findet sich zuletzt vereinigt im Obern See, und geht von da durch tiefe Durchlässe in den Huronsee, aus diesem in den Erie- und Ontariosee, bis sie im St. Lorenzstrom zum Meere ausfließt. Jeder dieser Seen liegt etwas tiefer als der vorige, und so steht auch der Spiegel des Ontario 334 Fuß unter dem des Erie. Der Durchlaß zwischen beiden ist der Niagarastrom, etwa sechs Stunden lang. An einen tosenden Gebirgsstrom, den grüne Berge und himmelanstrebende Felsen umragen, ist daher gar nicht zu denken. Die Gegend erscheint eben wie ein Teller und der Niagara fließt in seinem Bette, welches er im Kalkstein ausgeschliffen hat, ruhig weiter. Etwa in der Mitte des Weges aber neigt sich die Ebene zum Ontariosee hin, unmerklich zwar für den Wanderer, für den Fluß aber mußte dadurch sogleich eine Stromschnelle entstehen. Die Neigung der Ebene dauert etwa anderthalb Stunden lang, dann geht es auf einmal steil hinunter ein paar hundert Fuß tief, in einer Ausdehnung von vielen Meilen quer über den Strom weg. Steht man unten vor diesem Absturz, so sieht er aus wie ein Bergzug; nähert man sich ihm von oben, so scheint alles ziemlich eben, man bemerkt kaum eine leichte und wellenförmige Erhöhung, auf der man heraufkommt, bis man auf einmal dicht vor der Senkung steht. Auf dem Kamme der Anhöhe starren hie und da Felsbänke, deren Linie man weithin verfolgen kann, zu Tage. Durch dieses Riff mußte der Strom hindurch und dann den kühnen Satz in die Tiefe machen, mit dem er den größten Theil der Höhe, um welche der Ontariosee tiefer liegt als der Eriesee, auf einmal herabsprang. Der Wasserfall mag daher in der Urzeit ein noch viel gewaltigeres Ansehen gehabt haben.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und Leute in der alten und neuen Welt, Band I