Die Abende brachte ich, da das Wetter meist milde war, gewöhnlich unter der Halle meiner Wohnung zu, ...

VII.
Am Niagara.


Die Abende brachte ich, da das Wetter meist milde war, gewöhnlich unter der Halle meiner Wohnung zu, wohin die freundlichen Wirthe mir den Theetisch setzten. Es war da ein heimisches Plätzchen. Die kleinen Buben aus den umliegenden Häusern kamen Abends, um auf dem offenen Scheitel des Hügels, der rings mit Wald umzogen ist, zu spielen. Wenn ich ihnen zusah, wanderten meine Gedanken über das Meer zurück, zu den Spielplätzen meiner Vaterstadt. Das Hallen des Niagara, welches durch die Abendstille herüber tönte, mischte sich mit den tiefen starken Lauten, welche das Streifen des Windes in den Wäldern unter mir hervorbrachte. Wie viele Jahrtausende erscholl nun schon diese gewaltige Naturstimme! Vor hundert und vor zweihundert Jahren sahen Reisende die Fälle nicht an ihrer jetzigen Stelle, sondern weiter unten. Indem das Wasser leise in jedem Moment etwas vom Gestein abreibt und wegwäscht, rücken die Fälle in jedem Jahre um fast einen Fuß weiter. Also hat ihre Wanderung von den Höhen von Queenstown bis zu dem Platze, wo sie jetzt niederstürzen, schon über dreißigtausend Jahre gewährt. Was ist gegen eine solche Zeit die Sternschnuppenkürze eines Menschenlebens! Aber noch weiter müssen wir hier in die Urzeit hinaufsteigen. Die Flächen zu beiden Seiten der Niagaraufer sind mit tiefem Sand, Kies und allerlei Geschieben bedeckt und darin finden sich Muscheln und Abdrücke von Thieren, welche noch jetzt oberhalb der Fälle im Niagarastrom und im Eriesee leben. Dies zeigt an, daß früher die tiefe Schlucht, in welcher das Wasser jetzt fortströmt, noch gar nicht bestand, sondern die Gewässer des Eriesees breit flutheten bis an den Kamm der Höhen von Queenstown und dort sich erst allmählig einen Durchgang brachen. Welch ungeheure Zeiträume, bis durch die vereinte Kraft des fressenden und anprallenden Wassers längs dem Sturze, der reibenden Rollsteine und Sandkörner auf dem Grunde des Flußbetts, der allmähligen Verwitterung der Felsen auf chemischem Wege, durch eindringende Moose, durch spaltenden Frost all das Gestein zerstört und das jetzige zwei bis dreihundert Fuß tiefe Flußthal eingerissen und ausgeschliffen war!


Denkt man diese Zeiten durch, so ist man wie versenkt unter die dunkeln Schatten und Riesengestalten der Urwelt. Man sieht den Kampf der Elemente, wie die Stoffe sich scheiden, ungeheure Gebirgskessel entstehen, fruchtbare Erden sich bilden. Aus dem warmen Erdenschooß keimte dann, vom Lichte geweckt, allerlei Gewächs hervor und hob sich immer mächtiger bis zu den Waldriesen. Dann kamen die höheren Bildungen der Thierwelt, von den unförmlichen Gestalten, die noch schwerfällig zur Erde gebeugt sind, bis zu den leichteren und beweglicheren, und endlich entstand das Menschenbild, die schönste Gestalt auf der Erde, dieses wellige, leichte Wesen, dem die Seele aus den Augen und jeder Bewegung blickt, in welchem der geschärfte Instinkt zum Verstand geworden, dessen selbstbewußter Geist endlich die Geschichte der Schöpfung nachdenkt, die Natur selbstschöpferisch nachahmt und bezwingt. Die Natur aber hat ihr Höchstes vollendet in einem Wesen, das statt ihrer Neues schafft; sie selbst bringt nur noch das Gewöhnliche hervor, was einmal da ist und nach Jahreszeit und Klima sich forterzeugt. Vollständig Neues erzeugt die Erde nicht mehr, sondern nur noch Vermischungen und Abarten.

Der Mensch war anfangs noch befangen von der Natur. Als ein Nachklang der Urgeschichte, wo die Naturkräfte noch gewaltig rangen und gährten, entstand in seiner Einbildungskraft die Götterwelt mit ihren Schlachten und Verwandlungen. Bei den ältesten, wie jetzt noch bei niederen Völkern, herrscht darin noch viel Thierisches vor, denn im Thierleben stand dem Menschen das dunkle Naturleben leibhaft vor Augen. Mit seiner fortschreitenden Bildung wurde auch seine Einbildungskraft heller und freier; die Germanen schufen ihre Riesengötter, die in Wolken wandelten, die Griechen dichteten ihre lieblich klare Götterwelt. Höhere Geister und Völker kamen zum Bewußtsein der Einen großen Naturgewalt, des Weltgeistes, Gottes, und diese Erkenntniß schreitet immer weiter über den Erdball, und in ihrem Gefolge die Kultur, und die Völker, die sich ihr nicht beugen wollen oder können, verschwinden. Die geistig freieren und kräftigeren Völker verdrängen die übrigen, diese müssen Art und Sitte von jenen annehmen oder verkümmern. Die Indianer sterben aus. Der franzosische Canadier, einst so lebendig an diesen Ufern, ist auf sich selbst zurückgedrängt und hat als Volk wenig Bedeutung mehr. Den Engländern, Schotten, Irländern, Deutschen, Franzosen, allen die herkommen sich anzusiedeln, sitzt das neue Mischlingsvolk, die Amerikaner, auf der Ferse, welches stürmisch und erobernd vorwärts dringt. Aber wenn einmal der Niagara, dieser Zeiger der Weltuhr, ein paar hundert Fuß weiter gerückt ist, wird dann nicht auch das englischamerikanische Volk, so wie es jetzt ist und sein will, flüchtig vorübergerauscht sein, werden sich dann nicht in seinem ungeheuern Gebiete neue selbstständige Staaten und Volksarten gebildet haben? Wird dann der Deutsche der neuen Welt auch seinen Theil daran haben? Oder sind die Deutschen hier ewig nur dazu verdammt, mit ihren Knochen und mit ihrem Geist, mit ihrem Blut und ihrem Gemüth andere aufstrebende Völker zu düngen und für sich selbst keine andere Zukunft zu haben, als sie den Slaven in den jetzt deutschen Landen jenseits der Elbe geworden ist?

Auch hier am Niagara wurde mir diese letzte Frage, und was darum und daran hängt, wieder vorgeführt. Eines Abends kam eine kleine Gesellschaft gebildeter Deutschen zu mir herauf; wir hatten uns am Tage bei den Fällen gesehen. Ihre amerikanischen Hoffnungen mußten bereits auf niedrigen Grad gesunken sein, obgleich sie kaum einen Monat im Lande waren. Dem alten Vater wollte vor Wehmuth das Herz springen, wenn er der Heimath gedachte, und auch die Söhne meinten, Deutschland sei das schönste Land der Erde, aber sein Volk könne sich niemals wieder erheben und werde langsam untergehen. Vergebens wurde dieser Ansicht entgegengestellt: unser Volk habe bloß durch eigene Kraft nach dem siebenjährigen Kriege wieder einen wahrhaft großen geistigen Aufschwung genommen; seitdem blühe ihm auf allen Feldern des Wissens die reichste Aernte und stehe es den übrigen Völkern an geistiger Freiheit und Bildung voran; es habe von jeher einen Zug zum Auseinandergehen gehabt und doch noch immer zusammengehalten; jetzt aber sei das Einheitsgefühl und das politische Bewußtsein im ganzen Volke so lebendig geworden, wie niemals seit dem Mittelalter, und alle Kräfte in Deutschland nähmen bewußt oder unbewußt diese Richtung; die neueste Geschichte der Franzosen, Spanier, Italiener habe doch sicher nichts vor der deutschen voraus. Diese Thatsachen schienen aber bei meinen Gästen nicht ins Gewicht zu fallen, sie blieben dabei, das deutsche Volk sei eine unbehülfliche Masse, die nur durch Trägheitsgefühl noch bestehe. Wie oft bin ich im Ausland diesem jammervollen Geständniß des eigenen Ohnmachtgefühls begegnet!

Eine Meile vor Queenstown kommt man aus den Waldungen heraus und übersieht auf einmal eine weite herrliche Gegend zu seinen Füßen. Man steht hier oben am mehrgedachten plötzlichen Absturz des Bodens. Unten zieht sich das helle Flußthal bis zum glänzenden Ontario, zu beiden Seiten dehnen sich grüne, weitgestreckte Hügelwellen, zwischen denen die weißen Städtchen hervorschimmern. Auf der Anhöhe steht General Brooks Denkmal. Es war eine mehr als hundert Fuß hohe Thurmsäule, von der herab die Aussicht noch schöner war. Canadische Insurgenten oder amerikanische Bursche, die Sache ist nicht ermittelt. begingen den Bubenstreich, sie bei Nacht zu sprengen; sie ist jetzt also ein zwiefaches Denkmal. Die feindlichen Truppen trafen im letzten Kriege an den Niagaraufern mehrmal auf einander; auch der Platz vor meiner Wohnung auf dem Hügel zu Lundy Lane war einst ein Schlachtfeld. Auf dem Wege nach Queenstown hinab bietet sich ein schöner Blick auf den breiten, steilen Höhenwall und das enge dunkle Niagarathal hinauf und den hellen Strom hinunter, der sich von hier an breit und klar zwischen niedrigen Ufern ergießt. Seine Wellen sind bereits wieder so leicht und niedlich, als hätten sie niemals über die Felsen und durch den Wirbelpfuhl hindurch müssen. Queenstown gegenüber liegt das eben so freundliche Lewiston.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und Leute in der alten und neuen Welt, Band I